Freiheit fuer OcalanAktuelle Bewertung

Und was kommt nach den Kommunalwahlen ...?

Songül Karabulut

Für die Kurdinnen und Kurden waren die vergangenen zwei Monate geprägt von Newroz am 21. März, den Kommunalwahlen in der Türkei am 30. März sowie den Entwicklungen im Zusammenhang mit Rojava (Westkurdistan).

Als Erstes möchte ich auf die Kommunalwahlen eingehen. Um die Ergebnisse bewerten zu können, kann ein kurzer Rückblick auf die politische Konstellation vor der Wahl sinnvoll sein.
In der Türkei werden seit Ende 2012 zwischen dem kurdischen Volksvertreter Abdullah Öcalan und der Delegation des türkischen Staates Friedensgespräche geführt. In deren Folge blieben militärische Auseinandersetzungen aus, auch wenn sie wegen der fehlenden Schritte der Regierung der Partei für Gerechtigkeit und Aufschwung (AKP) seit Sommer letzten Jahres ins Stocken geraten sind. Die kurdische Bewegung hatte erklärt, bis nach den Kommunalwahlen zu warten, bevor sie im Falle ausbleibender Verhandlungsfortschritte eine Neubewertung der Situation vornehmen würde. Also wurde ein Prozess eingeleitet, der zu großen Hoffnungen führte, die aber nicht erfüllt worden sind.

 

Der Machtkampf Erdoğan/Gülen

Außerdem war das Land seit Dezember 2013 von einem erbitterten Machtkampf zwischen der AKP und der Bewegung des Predigers Fethullah Gülen geprägt. Ein elfjähriges Bündnis zerbrach, als beide Seiten den politischen Einfluss der jeweils anderen zurückzudrängen versuchten. Die AKP warf der Gülen-Gemeinde vor, einen Parallelstaat zu bilden und staatliche Institutionen wie Polizei und Justiz, das Bildungswesen etc. infiltriert zu haben. Die Gülen-Gemeinde hingegen deckte die Korruptionspraxis der AKP-Regierung auf. Ein Kampf, der vorwiegend durch die Veröffentlichung von Tonbandaufnahmen und Dokumenten über das Internet ausgetragen wurde. Auf diese Angriffe reagierte Ministerpräsident Erdoğan mit der Versetzung von Beamten, der Aushöhlung des Prinzips der Gewaltenteilung sowie durch das Verbot von Twitter und Face­book mit der Einschränkung der Meinungsfreiheit.

Ein Machtkampf, der das politische Leben in der Türkei erschüttert hat, bislang aber nicht entschieden werden konnte.

Der türkische Ministerpräsident ist aufgrund seiner Innen- als auch Außenpolitik national und international immer mehr in die Kritik geraten, nachdem die anfängliche Euphorie über ihn und die AKP verflogen ist. Diese Entwicklung wurde sichtbar innenpolitisch während der Gezi-Aufstände und außenpolitisch, als Erdoğan in Ägypten klar für Mohammed Mursi Partei ergriff und somit den Interessen der westlichen Staaten, allen voran der USA, zuwiderhandelte. Vor diesem Hintergrund kann der Angriff Fethullah Gülens nicht als Alleingang gewertet werden. Weil Erdoğan seine Grenzen überschritten hat, wurde beschlossen, ihn in die Schranken zu weisen und zu schwächen.

Gibt es Gewinner der Wahl?

Die unter diesen politischen Umständen durchgeführten Kommunalwahlen hatten natürlich eine weiter reichende als nur kommunale Bedeutung. Während die Gegner der AKP hofften, sie würde unter 35 % bleiben und Verluste einstecken müssen, setzte sie selbst alles daran, die Kommunalwahlen zu einem allgemeinen Vertrauensvotum zu stilisieren. Sie bzw. Erdoğan ist der Stimmenauszählung zufolge mit 45 % bestätigt worden. Doch obwohl inzwischen zwei Wochen vergangen sind, konnte die Wahl bis heute noch nicht endgültig für abgeschlossen erklärt werden. Gegen die AKP werden schwere Vorwürfe des Wahlbetrugs erhoben und folglich gibt es zahlreiche Anträge auf Neuauszählung der Stimmen oder Wahlannullierung. Diese Anklagen werden sowohl von der Hohen Wahlkommission als wahrscheinlich auch vom Verfassungsgericht behandelt.

Mag sein, dass die AKP wieder als stärkste Partei aus der Wahl hervorgegangen ist, aber ihr angekratztes politisches Image hat sie nicht aufpolieren können. Das durch Korruptionsvorwürfe und undemokratischen Führungsstil ohnehin angeschlagene Ansehen von AKP und Erdoğan ist auch noch durch Wahlbetrug weiter geschädigt worden.

Und warum wurde die AKP gewählt?

Viele fragen sich natürlich zu Recht, wie die AKP denn trotz dieser Anschuldigungen und ihres lädierten Ansehens die Wahl für sich hat entscheiden können. Meiner Meinung nach lag es unter anderem daran, dass sich unter den etablierten Parteien keine Alternative zur AKP abzeichnet. Die anderen Parteien wie die Republikanische Volkspartei (CHP) oder die Partei der Nationalistischen Bewegung (MHP) haben keinerlei Vision für das Land. Auch der Westen muss sich mit diesem Dilemma auseinandersetzen: Er hat Erdoğan zwar abgeschrieben, aber mangels Alternative kann er nicht wie gewünscht zu dessen Untergang beitragen. Die Menschen in der Türkei haben in der Ära der AKP zumindest einen wirtschaftlichen Aufschwung erlebt. Auch hat die Türkei mit der AKP durch ihr sowohl in der Region als auch weltweit erlangtes »scheinbares« politisches Gewicht an Selbstbewusstsein gewonnen. Scheinbar, weil dieses politische Gewicht bewusst im Rahmen der Mission aufgebaut wurde, welche die AKP im Rahmen des Projekts »Großer Mittlerer Osten« spielen sollte (das Modell des liberalen Islam gegen den radikalen Islam). Die AKP hatte hoffähig gemacht werden müssen.

Im Zuge des wirtschaftlichen Aufschwungs haben sich viele Menschen verschuldet, so dass sie sich nicht auf ein politisches Abenteuer einlassen, es nicht riskieren wollen. Sie wissen nicht, wie es sich auf die Wirtschaft auswirken würde, wenn das Land instabil wird. Deshalb schien es für viele sinnvoll, mit der Partei, die seit zwölf Jahren regiert, weiterzumachen.

Ausschlaggebender für das Wahlergebnis ist wohl die in der Bevölkerung fest verankerte Mentalität. Seit der Gründung der türkischen Republik sind deren BürgerInnen auf die Aufgabe getrimmt worden, den Staat zu verteidigen, zu schützen. Sie sind äußerst staatstreu. Wenn wir uns die Argumente der etablierten Parteien im Wahlkampf anschauen, sehen wir, wie sehr auf genau diese Mentalität gesetzt wurde.
Die AKP stellte die Angriffe gegen sich als einen Angriff auf die moderne, sich entwickelnde Türkei dar und forderte alle auf, den Staat und somit die AKP zu verteidigen. Gleichzeitig erklärte sie die Friedensgespräche mit der PKK zu einem Meisterwerk und propagierte, wenn die AKP ginge, fiele damit auch dieser Dialog.

Die CHP hingegen beanspruchte das Patent auf die Verteidigung des Laizismus und rief alle auf, das Land nicht den Islamisten zu überlassen. Auch waren die Korruptionsvorwürfe ein wichtiger Teil ihrer Wahlpropaganda.

Die MHP machte gegen die Friedensgespräche mobil und beschuldigte die AKP, mit Öcalan zusammen das Land spalten zu wollen. Also, wer sein Land liebe, dürfe die AKP nicht wählen, sondern die einzige Adresse sei die MHP.

Alle drei Parteien haben im Wahlkampf zur Verteidigung des »Landes« und der »staatlichen Werte« aufgerufen, keine bediente sich kommunalpolitischer Argumente. Die Polarisierung der politischen Parteien und Argumente hat sich auch auf die Gesellschaft ausgewirkt. Es ist eine Realität, dass die Gesellschaft zu keiner Zeit derart polarisiert war wie gegenwärtig.

Die Menschen im Westen der Türkei konnten bei den Kommunalwahlen nicht den Mut aufbringen, allen etablierten Parteien die rote Karte zu zeigen und sich ihrer eigenen Alternative zu widmen. Seit Längerem gibt es dieses Massenverhalten (erinnern wir uns an das Verfassungsreferendum): »Es reicht zwar nicht, aber ja!« Dabei sind die objektiven Bedingungen für eine Alternative mehr als je zuvor gegeben. Die Unzufriedenheit, Gereiztheit und Polarisierung in der Gesellschaft sind sehr groß. Wie sich dieser Unmut entladen wird, ist ungewiss. Zwar gibt es die Demokratische Partei der Völker (HDP), aber sie ist eine sehr junge Partei und auch ihr gegenüber bestehen Vorbehalte (aufgrund nationalistischer Voreingenommenheit). Denn sie ist eine Schwesterpartei der Partei für Frieden und Demokratie (BDP) und folglich für viele »zu kurdisch«. Immerhin war sie in Istanbul drittstärkste Partei nach AKP und CHP, dennoch hat sich ihr Stimmenpotential an der Urne nicht gänzlich ausgewirkt.

Vor diesem Hintergrund ist die Frage nach den Gewinnern und Verlierern dieser Wahl nicht allein mit der Stimmenzahl zu beantworten.

Und wer sind die Gewinner dieser Wahl?

BDP und HDP gehören hier eindeutig zu den Gewinnern. Nicht nur, dass sie an der Zahl errungener Kommunen zulegen konnten, sondern weil sie wichtige Errungenschaften zu Freiheit, Demokratie und Frieden beigetragen haben. Gewinnerinnen sind die Frauen, weil BDP und HDP zum ersten Mal bei Kommunalwahlen nicht eine Kandidatin oder einen Kandidaten aufstellten, sondern ein Mann und eine Frau zusammen als KobürgermeisterInnen kandidierten. Somit sind in den von der BDP gewonnenen Kommunen 98 Frauen Kobürgermeisterin. Das ist eine langfristige Errungenschaft für das Land. Gewinner sind des Weiteren bislang immer im Verborgenen gebliebene unterschiedliche ethnische und kulturelle Identitäten. AssyrerInnen, ArmenierInnen, AlevitInnen, EzidInnen etc. traten mit ihrer Identität offen zur Wahl an. Also hat statt dem Nationalstaat die demokratische Nation gewonnen.

Die Mentalität, Politik sei etwas für die Elite, hat eine Schlappe einstecken müssen, weil von den BDP-Kandidatinnen die 25-jährige Studentin Rezan Zuğurlu (in Licê/türk.: Lice), die Syrische Christin Februniye Akyol (in Mêrdîn/Mardin), die in Deutschland aufgewachsene Leyla Imret (in Cizîr/Cizre), die als Kind ihren Vater durch einen »Mord unbekannter Täter« verlor, und die im Alter von 16 Jahren zwangsverheiratete, häuslicher Gewalt ausgesetzte und dann geschiedene Berivan Elif Kılıç (in Karaz, Provinz Amed/Kocaköy, Prov. Diyarbakır) zu (Ko-)Bürgermeisterinnen gewählt wurden. Es sind nicht mehr nur »Türken« (wenn sie es auch nicht waren, sie hatten sich als solche ausgeben müssen), »Männer« und »Wohlhabende«, die zu Wahlen antreten. Das herrschaftsgeprägte Politikverständnis hat bei dieser Wahl also eine Niederlage erlitten. Die BDP- und HDP-KandidatInnen haben gezeigt, dass das Bürgermeisteramt nicht dafür gedacht ist, die eigene Macht und Stellung zu sichern, sondern der Bevölkerung zu dienen.

Nur diese wenigen Beispiele signalisieren, dass Gewinn und Verlust bei dieser Wahl ganz anders zu bemessen sind.

Und was passiert in Rojava?

Schauen wir uns nun in diesem Zusammenhang auch mal die Entwicklungen in Rojava an:

Seit März gibt es dort drei Selbstverwaltungskantone. Der dritte Weg, auch als das Projekt der demokratischen Nation (bzw. Gesellschaft) zu bezeichnen, nimmt immer mehr Gestalt an. Alle ethnischen, religiösen und kulturellen Gruppen bringen sich auf demokratische Weise in die Selbstverwaltungsstrukturen ein. Sie bieten eine Alternative zu den bestehenden Nationalstaatsmodellen in der Region. Daher haben sie viele sichtbare und unsichtbare Gegner und Feinde. Ich werde diese Gruppen anhand der aktuellen Angriffe darzustellen versuchen.

Rojava wird gegenwärtig von allen Seiten attackiert. Seit Sommer letzten Jahres überfallen radikal-islamistische Gruppen mit unterschiedlichen Namen Rojava, mal Al-Qaida, dann Al-Nusra, und jetzt versuchen seit mehr als einem Monat Kräfte von Islamischer Staat in Irak und Syrien (ISIS) ununterbrochen, Kobanê (Ain al-Arab) anzugreifen und zu belagern. Es kommt zu schweren Kämpfen mit vielen Toten.
Es heißt, dass die ISIS-Kräfte aus vom syrischen Regime kontrollierten Gebieten abgezogen worden seien, um diese Angriffe durchführen zu können, mit anderen Worten, das Regime billige sie. Auch kommt es immer wieder zu Angriffen des Regimes, wie jetzt am 12. April, als sechs ZivilistInnen in Helep (Aleppo) ums Leben kamen.

Seit etwa einer Woche ist auch in Südkurdistan Bewegung zu verzeichnen. Nachdem die Türkei an der Grenze zu Rojava die »Mauer der Schande« baut, wird nun an der Grenze zwischen Süd- und Westkurdistan ein drei Meter tiefer und zwei Meter breiter Graben ausgehoben. Bei Protesten auf beiden Seiten der Grenze gegen diese Grenzbefestigung kam es zu Zusammenstößen mit Verletzten.

In den vergangenen Tagen wurde bekannt, dass Barzanîs Demokratische Partei Kurdistans (PDK) im südkurdischen Hewlêr (Arbil) ein Treffen mit vier Parteien aus Rojava (El-Parti, Yekîtî und den beiden Azadî-Parteien) durchgeführt und sie unter dem Namen Demokratische Partei Kurdistans in Syrien ­(PDK-S) zusammengeschlossen hat. Nicht nur in Rojava verfolgt sie eine solche Politik, sondern sie instruiert und finanziert die PDK-Ableger in allen Teilen Kurdistans. Auch in der Türkei und im Iran gibt es ähnliche Vorbereitungen.

Die bisherige politische Position der PDK liegt nicht im Interesse des kurdischen Volkes. Vielmehr verfolgt sie beschränkte Parteiinteressen und strebt die nationale Führung an. Dafür scheut sie nicht vor strategischen Bündnissen mit Kräften wie der AKP zurück, um sowohl in Nordkurdistan als auch in Rojava in der kurdischen Frage am selben Strang zu ziehen. Auf ihre Haltung ist es zurückzuführen, dass bislang kein kurdischer Nationalkongress zusammenkommen konnte. Sie attackiert erbarmungslos die Errungenschaften in Rojava und lehnt die Widerstandsbewegung ab.

Dass die Türkei ebenfalls zu den Gegnern Rojavas gehört, ist ja kein Geheimnis. Dass sie dafür mit radikal-fundamentalistischen Gruppen zusammenarbeitet und sie unterstützt, wird seit Längerem immer wieder vor allem von KurdInnen aufs Tapet gebracht. Jetzt wurde am 27. März ein Video auf YouTube veröffentlicht, der Mitschnitt eines Gesprächs auf Regierungsebene, in dem Außenminister Ahmet Davutoğlu, Geheimdienstchef Hakan Fidan, Unterstaatssekretär Feridun Hadi Sinirlioğlu und der stellvertretende Armeechef Yaşar Güler zu hören sind. Die Beteiligten beraten darin, wie eine inszenierte Operation in Syrien als Rechtfertigung für einen Krieg durchgeführt werden könnte. Sie erwägen Anschläge auf Grabstätten oder wie türkische Agenten von syrischem Boden aus Raketen auf türkisches Territorium feuern. Auch erklärt Hakan Fidan, dass bislang über 300 LKWs mit Munition nach Syrien transportiert worden seien. Erinnern wir uns nur daran, dass LKWs des Geheimdienstes MIT in Adana angehalten und durchsucht wurden. Diese Aktion hat ein Nachspiel, die verantwortlichen Sicherheits- und Militärangehörigen sind mit Verfahren und Festnahmen konfrontiert.

Kurze Zeit nach der YouTube-Veröffentlichung meldete sich der renommierte US-Journalist Seymour Hersch in einem Beitrag für die »London Review of Books« mit ähnlichen Aussagen. Er behauptet, dass der Sarin-Giftgasangriff vom August vergangenen Jahres in Ghuta bei Damaskus von der Türkei organisiert worden sei, um die USA zu einem Militärschlag gegen die syrische Regierung zu bewegen.

Die KurdInnen haben immer wieder darauf verwiesen, dass zwar seit über einem Jahr ein inoffizieller beidseitiger Waffenstillstand in der Türkei bestehe, die AKP-Regierung aber den Krieg gegen die KurdInnen nach Rojava verlagert habe.

Die Türkei versucht von innenpolitischen Problemen auch durch einen Krieg im Ausland abzulenken. Auf diese Weise kann sie zwei Fliegen mit einer Klappe schlagen. Zum einen die Errungenschaften in Rojava verhindern und ersticken und zum anderen die polarisierte Gesellschaft im Inland durch einen Krieg zusammenhalten und von den Problemen ablenken.

Was haben diese oben genannten Kräfte gemeinsam, dass sie sich gegen Rojava wenden?

Sie alle sehen es als Gefahr für ihr System, wenn die Bevölkerung ihre Selbstverwaltungsstrukturen aufbaut und die Kultur der Demokratie, der Freiheit und des Friedens in der Region verankert. Sie setzen auf Nationalismus, Krieg, Unterdrückung, Macht, dagegen geht es im Modell Rojava um die Geschwisterlichkeit der Völker, gesellschaftlichen und politischen Frieden, Gleichberechtigung, Partizipation, Emanzipation, Koexistenz, Befreiung. Rojava ist ein dritter Weg gegen die Systeme, die von diesen Akteuren errichtet und instandgehalten werden.
Wie die weitere politische Entwicklung in der Türkei – innen- wie auch außenpolitisch – aussehen wird, kann also auch aus ihrem Verhalten zu der Entwicklung in Rojava abgeleitet werden.

Und wie weiter?

Zwar sind die Kommunalwahlen durchgeführt worden, aber das Land steht vor zwei weiteren wichtigen Wahlen. Wenn es nicht zu einer Vorverlegung kommt, wird die Bevölkerung im August den Staatspräsidenten erstmals direkt wählen, im Juni 2015 dann findet die Parlamentswahl statt. Das heißt, wir haben eine lange Wahl(kampf)phase vor uns. Nach den Kommunalwahlen ist die unübersichtliche politische Lage in der Türkei keineswegs klarer geworden. Im Gegenteil, Ungewissheit und Unsicherheit haben zugenommen. Wir haben es mit einer Systemkrise zu tun, die tiefgründige Entwicklungen birgt.

Der kurdische Volksvertreter Abdullah Öcalan hat die gegenwärtige Lage der Türkei in seiner diesjährigen Newroz-Botschaft so beschrieben: »Die Geschichte hat uns gezeigt, dass wenn es keine entschlossene Führung für einen Frieden gibt, historische Probleme sich fortsetzen und meist mit Wendungen antworten, die große Verluste mit sich bringen. Die drängendste Frage, vor der wir stehen, ist, ob wir den Weg mit sich ständig wiederholenden Putschen oder einer vollständigen und radikalen Demokratie fortsetzen werden.

Konkret und aktuell zeichnet sich seit dem letzten Newrozfest diese Weggabelung ab. Entweder wird sich ein Regime der Putsche und Verschwörungen, gestützt auf die kapitalistische Moderne der letzten 200 Jahre, restaurieren und fortsetzen, oder die türkisch-kurdischen Beziehungen werden auf neuen Kurs gebracht und ein demokratisches Verfassungsregime wird durch umfassende demokratische Reformen die verschwörerischen und putschistischen Mechanismen zerschlagen. Die Zeit für alle Mittelwege und Übergangsformen ist abgelaufen.«

Die Frage, die sich jetzt stellt, ist die, welcher Weg gegangen wird. Werden die Gespräche in sinnvolle Verhandlungen münden, die rechtlich garantiert sind, und werden Demokratisierungsschritte eingeleitet, die zu einer neuen demokratischen Verfassung führen, oder werden, wie die Anzeichen andeuten, weiterhin aufgrund fehlender Führung für den Frieden die bestehenden Probleme erneut mit Gewalt zu noch mehr Verlusten führen? Diese Frage muss in erster Linie die Türkei beantworten, aber auch ihre Verbündeten, und sie wird sich an folgenden Kriterien messen lassen müssen:

  • Werden Demokratisierungsschritte eingeleitet, wird die bisherige Verbots- und Unterdrückungspolitik beendet und werden Freiheiten ausgeweitet?

  • Wird eine demokratische Verfassung ausgearbeitet, wird die Gesprächsphase in eine rechtlich abgesicherte Verhandlungsphase übergehen?

  • Wird die Türkei aufhören, die Errungenschaften in Rojava als Gefahr zu sehen und sie anzugreifen?

Wenn es in diesen Punkten zu keinen Entwicklungen kommt, ist klar, was es bedeutet und was passieren wird: Die Systemkrise und die politischen und gesellschaftlichen Probleme der Türkei und der Region werden sich mit dem Abgang der AKP immer mehr vertiefen.