Care RevolutionDie Care Revolution:

Her mit dem guten Leben – für alle weltweit!

Interview mit Gabriele Winker

Vom 14. bis 16.3.2014 fand in Berlin mit mehr als 500 Teilnehmenden eine Aktionskonferenz zur Care Revolution statt. Im Folgenden ein Interview mit Gabriele Winker, Mitbegründerin des Feministischen Instituts Hamburg, das u. a. zusammen mit der Rosa-Luxemburg-Stiftung die Konferenz politisch vorbereitet und organisatorisch durchgeführt hat. Sie ist Professorin für Arbeitswissenschaft und Gender Studies an der TU Hamburg.
Das Interview führte Ellen Jaedicke.

Was verbirgt sich hinter dem Namen Care Revolution und warum ist sie für feministische Debatten wichtig?

 

Unter Care Revolution verstehen wir ein politisches Konzept, das die grundlegende Bedeutung der sorgenden und pflegenden Tätigkeiten, Care Work, für alle Menschen hervorhebt. Es knüpft an die Erkenntnisse feministischer Ökonomie an, wonach die lebensnotwendigen Arbeiten der Sorge für sich und andere im hegemonialen Diskurs kaum Bedeutung erlangen. Care Work bleibt als typische Frauenarbeit, unbezahlt in Familien oder schlecht bezahlt in sozialen Dienstleistungsberufen, weitgehend unsichtbar. So sind viele Menschen, vor allem Frauen mit Sorgeverpflichtungen für Kinder oder Pflegebedürftige, gezwungen, diese Tätigkeiten ohne gesellschaftliche Unterstützung oft am Rande der vollständigen Überbeanspruchung neben der eigenen Berufstätigkeit auszuführen. Das kapitalistische System beschränkt mit entgrenzter und prekärer Lohnarbeit die zeitlichen und finanziellen Ressourcen für diese wichtige Reproduktionsarbeit. Gleichzeitig reduziert der Staat Aufwendungen in der Daseinsvorsorge, verschlechtert die Bedingungen von Care-Beschäftigten und verlagert diese Aufgaben zurück in die Familien. Wir sprechen deswegen von einer Krise sozialer Reproduktion.

Mit der Care Revolution plädieren wir für einen grundlegenden Perspektivenwechsel. Dabei geht es um die Forderung, dass nicht Profitmaximierung, sondern die Verwirklichung menschlicher Lebensinteressen im Zentrum politischen Handelns stehen sollte.
Wir unterscheiden bei der Care Revolution zwischen individueller Absicherung und kollektiver Realisierung von Care-Dienstleistungen. Zunächst muss jeder Mensch individuell das Recht haben, sich ohne Existenzsorgen um sich und andere, Freund_innen, Angehörige, Nachbar_innen kümmern zu können. Auch muss jede Person selbstbestimmt entscheiden können, wer sie versorgt und ihr behilflich ist. Dafür bedarf es für jedes Individuum ausreichend finanzieller und zeitlicher Ressourcen. Mit einer solchen Zielrichtung lässt sich dann beispielsweise anknüpfen an Reformvorhaben wie Arbeitszeitverkürzung mit Personal- und Lohnausgleich und auch an Auseinandersetzungen um das Bedingungslose Grundeinkommen.
Darüber hinaus gibt es aber auch viele Aufgaben, die wir auch heute schon kollektiv, in Gemeinschaft regeln. Und diese Aufgaben werden in einer an Care orientierten Gesellschaft noch weiter zunehmen. Für uns stehen diese grundlegenden kollektiven Formen der Daseinsvorsorge im Zentrum einer Ökonomie. Deswegen ist der Ausbau von Care-Dienstleistungen in der Bildung und Erziehung, in der Gesundheit und Pflege wichtig. Selbstverständlich müssen gleichzeitig die Arbeitsbedingungen und die Verdienstmöglichkeiten der Care-Beschäftigten deutlich verbessert werden.
Diese Ziele sind allerdings nur über Umverteilung von oben nach unten realisierbar. Dazu bedarf es einer starken Care-Bewegung.

Wer hat an dieser Konferenz teilgenommen und worum drehten sich die Diskussionen?

Teilnehmende der Aktionskonferenz Care Revolution waren politisch engagierte Menschen, die tagtäglich unbezahlte Care-Arbeit oder Sorgearbeit für sich und für andere leisten und denen dafür die finanziellen und/oder zeitlichen Ressourcen fehlen. Viele Menschen sind mit der Sorge für sich, mit der Selbstsorge sehr gefordert. Sie müssen sich auf einem prekarisierten Arbeitsmarkt immer wieder neu um ihre finanzielle Lebensgrundlage kümmern, den jeweils richtigen Ausbildungsweg wählen, bezahlbaren Wohnraum finden, oder sie müssen überlange Erwerbsarbeitszeiten durchstehen und sich gleichzeitig fit und gesund halten, auch wenn Krankenkassen notwendige Versorgungsleistungen eingestellt haben. Dann gibt es unter uns Sorgearbeitende, die neben der Erwerbsarbeit sehr viel Verantwortung für Kinder und pflegebedürftige Angehörige übernommen haben, die erschöpft sind, auch wenn sie diese Aufgaben für ihre Lieben gerne machen. Und es gibt Menschen unter uns, die im Beruf als Care-Arbeitende in Erziehung und Bildung, in Gesundheit und Pflege unter schwierigsten Bedingungen versuchen, ihren ethischen Ansprüchen an eine gute Care-Arbeit gerecht zu werden. In Zeiten der Einsparung und Rationalisierung führt das schnell zur Überforderung. [...]
So stand auf der dreitägigen Aktionskonferenz Care Revolution Mitte März in Berlin das Ziel im Zentrum, aus unseren jeweiligen Erfahrungen in lokalen und regionalen Initiativen, Netzwerken und Organisationen zu lernen und zu debattieren, wie eine Care-Bewegung, die derzeit noch im Werden begriffen ist, deutlich an politischer Kraft gewinnen kann. 500 Aktivist_innen diskutierten darüber hinaus drei Tage lang, wie eine Gesellschaft gestaltet werden müsste, in der grundlegende Lebensbedürfnisse verwirklicht werden können. Im Zentrum stand dabei das Recht, selbstbestimmt für sich und andere zu sorgen und selbstbestimmt zu entscheiden, von wem wir versorgt werden wollen. Unterstützt wurde diese Aktionskonferenz von einem breiten Spektrum von 60 lokalen Gruppen bzw. kleineren bundesweiten Verbänden, die in Care-Bereichen aktiv sind. [...]

Die kurdische Befreiungsbewegung versucht seit Jahren, ökonomische Alternativen in die Praxis umzusetzen. Insbesondere die Frauenbewegung gründete in diesem Zusammenhang z. B. Kooperativen als Alternative zum Bestehenden. In Rojava (Nordsyrien) wird im Zuge des Aufbaus der demokratischen Selbstverwaltung der letzten Jahre flächendeckend versucht, eine alternative Ökonomie aufzubauen, u. a. mit kollektivierter Lebensmittelproduktion, der Verteilung des in dieser Region produzierten Öls an die Bevölkerung usw. Was wäre für Leser_innen und Aktivist_innen der kurdischen Bewegung in diesem Zusammenhang spannend über die Konferenz oder die Idee der Care Revolution zu wissen?

An der Aktionskonferenz Care Revolution nahmen auch Menschen aus der Kommune Niederkaufungen teil, die in der von der Kommune organisierten Tagespflege Lossetal tätig sind. Zielgruppe der Tagespflege Lossetal sind pflegebedürftige, insbesondere demente Menschen. Die Angehörigen sollen durch die Tagespflege entlastet werden. Den Gepflegten soll durch mehr Kontakte und Erlebnisse als beim Leben ausschließlich zu Hause ein besseres Leben ermöglicht werden, gleichzeitig soll eine Unterbringung im Heim hinausgeschoben oder vermieden werden. Die auf der Care-Revolution-Aktionskonferenz anwesenden Vertreter_innen der Tagespflege betonten, dass das Funktionieren ihres Konzepts die Mitgliedschaft in der Kommune, insbesondere die Teilnahme an deren gemeinsamer Ökonomie, voraussetzt. Deswegen hier einige Worte zur Kommune Niederkaufungen.
Die Kommune Niederkaufungen besteht seit Dezember 1986, als ein Gebäudekomplex im Ort (Nordhessen, nahe Kassel) gekauft werden konnte. Gegenwärtig leben in der Kommune 63 Erwachsene und 19 Kinder und Jugendliche. Grundsätze der Kommune sind unter anderem: Entscheidungen im Konsens, kollektives Arbeiten, als »vielfältig aufeinander bezogenes Arbeiten« definiert, und der Abbau von kleinfamiliären, patriarchalen und kapitalistischen Strukturen. Ebenso zu den Grundsätzen der Kommune gehört die gemeinsame Ökonomie. Damit ist Folgendes gemeint: Das persönliche Vermögen wird bei Eintritt in die Kommune voll eingebracht. Die Summe dieser eingebrachten Vermögen bildet mit Krediten und den laufenden Einnahmen aus Arbeitsbereichen, Erwerbsarbeit außerhalb der Kommune und Transfers (z. B. Kindergeld) den Topf, aus dem alle Ausgaben bestritten werden. Alle Mitglieder können aus dem Topf ihrem Bedarf entsprechend Geld entnehmen. Die Kommune sieht sich als ökonomisch funktionierendes und politisch ausstrahlendes Modell, das belegt, dass eine Entkopplung von Arbeitsleistung und Bedürfnisbefriedigung auch auf einer solidarischen Grundlage möglich ist. Mehrere Kommunen sind im näheren Umkreis entstanden, die sich aufeinander beziehen, was diese These der politischen Ausstrahlung unterstützt.

Ihr schreibt in Eurer Abschlussresolution: »Ein gutes Leben steht im Widerspruch zur Konkurrenz und Profitlogik des Kapitalismus.« Die kurdische Bewegung begreift Kapitalismus weniger als Ökonomieform, sondern vor allem als alle Lebensbereiche durchdringendes Herrschaftsmodell. Entsprechend breit und vielfältig sind auch ihre Ansätze hinsichtlich des Aufbaus einer demokratischen Gesellschaft. Ihr legt Euren Fokus auf die Revolutionierung des Care-Bereiches, wie könntet Ihr darüber gesamt-gesellschaftsverändernd wirken? Welche Art gesamtgesellschaftlicher Perspektiven wurden in den Workshops oder Vollversammlungen entwickelt bzw. welche Konzepte bietet eine Care Revolution?

Innerhalb der Care-Bewegung gibt es sicherlich unterschiedliche Kapitalismusanalysen. Wir verstehen uns als soziale Bewegung und nicht als Organisation. Sicherheitshalber spreche ich in dieser Passage in der Ich-Form, auch wenn ich davon ausgehe, dass meine Position von vielen geteilt wird. Ich sehe das kapitalistische System nicht nur als eine Ökonomie, die auf Profitmaximierung beruht, sondern gehe davon aus, dass die damit einhergehende Strategie des Wachstums und der Kostensenkung in unprofitablen Bereichen die Gesellschaft als Ganzes prägt. Ich gehe ferner davon aus, dass es in diesem System strukturelle Herrschaftsverhältnisse gibt, die sowohl im Bereich der Lohnarbeit als auch im Bereich der Reproduktionsarbeit dominant sind, nämlich Klassismen (Unterdrückung entlang von Herkunft, Bildung und Beruf), Heteronormativismen (Unterdrückung entlang von Geschlecht und sexueller Orientierung), Rassismen (Unterdrückung entlang von Ethnie, Nationalität, Religion etc.) und Bodyismen (Unterdrückung entlang von körperlicher Leistungsfähigkeit, sprich Gesundheit, Alter etc.). Diese sind miteinander verwoben.
Entsprechend gilt es feministische Perspektiven ausgehend von gemeinsamen Lebensbedürfnissen in all ihrer Differenz zu entwickeln und dabei von der für alle Menschen notwendigen Care Arbeit auszugehen. Dafür ist es notwendig, geschlechterpolitische mit anti-klassistischen, anti-rassistischen und anti-körpernormierenden Initiativen zu verknüpfen. Gerade die Wahrnehmung von unterschiedlichen sozialen Positionierungen und der inhaltliche Austausch darüber können zu neuen Widerstandsformen führen. In diesem Sinne plädieren wir für eine Care Revolution. Darunter verstehen wir ein politisches Handeln, das einen radikalen Wechsel des Ausgangspunkts politischer Argumentation vornimmt. Es geht um ein politisches Eingreifen, das Politik und Wirtschaft nicht von Wachstumsraten, Profitsicherung und Gewinnmaximierung aus denkt, sondern konsequent die Verwirklichung menschlicher Lebensbedürfnisse ins Zentrum stellt. Es geht darum, alle gesellschaftlich für die Daseinsvorsorge notwendigen Arbeiten von der Warenproduktion und damit vom Verwertungsprimat auszuschließen.
Zur Realisierung auch der kleinsten der genannten Maßnahmen bedarf es einer gesellschaftlichen Mobilisierung. Je mehr Mitstreiter_innen es dafür gelingt zu finden, desto mehr Menschen wird in den sozialen Auseinandersetzungen, die direkt an den jeweiligen Lebensalltag anknüpfen, auch klar werden, dass nicht weiter Profitsicherung im Zentrum der Ökonomie stehen kann.
Und es gibt ja bereits vielfältige Proteste – von Erzieher_innenstreiks bis zu Streiks von Pflegekräften, von einer Commons-Bewegung, die auch im Bereich der Daseinsvorsorge alternative Lebensformen erprobt, bis zu kommunalen Auseinandersetzungen um Angebote für Kinderbetreuung und Ganztagsschulen. Verbindend könnte die radikale Erkenntnis sein, dass menschliche Lebensinteressen nicht über profitorientierte Kapitalakkumulation zu verwirklichen sind, sondern nur durch gemeinschaftliches Handeln und Solidarität. Am Horizont könnte sich dann eine andere Gesellschaft abzeichnen, eine neue, ob sie nun libertär, umfassend demokratisch oder kommunistisch heißen mag. Wichtig für uns ist jetzt, dass es eine menschenfreundliche Gesellschaft sein wird.

Welche Art von Nahzielen, die hier und heute auf die Agenda gehören, verfolgt Ihr?

Die einzelnen Care-Initiativen setzen sich weiterhin mit den unterschiedlichsten Aktionsformen – Demonstrationen, Petitionen, Diskussionsveranstaltungen u. v. m. – für ihre Ziele ein. Diese Ziele betreffen einerseits die Auseinandersetzung um eine Existenzsicherung. Die Teilnehmenden waren sich auf der Konferenz nicht einig, ob das mit einem Bedingungslosen Grundeinkommen zu realisieren ist oder nicht. Einig sind wir uns, dass es darum geht, die durchschnittliche Erwerbsarbeitszeit bei Lohn- und Personalausgleich deutlich zu verkürzen. Wir setzen uns weiter für einen Ausbau der Care-Dienstleistungen in Erziehung und Bildung, Gesundheit und Pflege ein. Einzelne Gruppen kämpfen für Mindestbesetzungen im Pflegebereich der Krankenhäuser, andere um mehr Personal in Kitas. Andere Gruppen treten dafür ein, dass pflegende Angehörige, Eltern mit behinderten Kindern, aber auch Studierende und Auszubildende oder Eltern mit kleinen Kindern deutlich besser unterstützt werden.
Einen ersten Erfolg der Aktionskonferenz Care Revolution sehen wir darin, dass das Bündnis, das die Aktionskonferenz Care Revolution getragen hat, weiterarbeiten wird. Noch in diesem Jahr soll ein Verein Netzwerk Care Revolution gegründet werden, der ein Kampagnenbüro unterhält. Dieses Büro soll vor allem lokale, regionale und bundesweite Care-Aktivitäten vernetzen. Schon in den nächsten Wochen wird es eine Zusammenarbeit von unterschiedlichen Care-Initiativen geben. So werden Initiativen bei den Blockupy-Aktivitäten, wie bereits im letzten Jahr, und am 1. Mai die unsichtbare Arbeit sichtbar machen und damit die Care Revolution auf die Straße tragen.

Welche Rolle spielen in der Care Revolution kollektive Bildungsprozesse und wie könnten diese aussehen?

Wir haben uns über konkrete Bildungsinhalte nicht auseinandergesetzt. Wichtig ist uns vielmehr, dass sich im Kita-Bereich Erzieher_innen und Eltern an einen Tisch setzen, ihre Vorstellung einer guten Kindererziehung diskutieren und solidarisch für ihre Forderungen auf die Straße gehen, anstatt sich von einer neoliberalen Sparpolitik gegenseitig ausspielen zu lassen. Auch im Schulbereich sind es Lehrer_innen, Schüler_innen und Eltern, die in Diskussionsprozessen inhaltlich bestimmen sollten, wie sie sich gemeinsames Lehren und Lernen vorstellen. Dabei ist uns klar, das hat bspw. auch ein Workshop zum Leben mit Kindern auf der Aktionskonferenz gezeigt, dass es dazu durchaus unterschiedliche Vorstellungen gibt. Wir würden also auch immer dafür plädieren, unterschiedliche Konzepte auszuprobieren. Voraussetzung dabei ist allerdings, dass zu diesen Konzepten auch alle Beteiligten Zugang haben. Kitas und Schulen für einige Privilegierte lehnen wir ab.

Ihr schreibt in Eurer Abschlussresolution auch von demokratischen Verfahren, in denen der gesellschaftliche Reichtum so eingesetzt werden kann, dass die Interessen und Bedürfnisse unterschiedlicher Gruppen und Individuen berücksichtigt sind. Wie könnten solche Verfahren aussehen und wo würdet Ihr zunächst ansetzen, um diese aufzubauen?

Es gibt bereits viele Care-Aufgaben in den Bereichen Erziehung und Bildung, Gesundheit und Pflege, die heute bereits gemeinschaftlich geregelt werden, allerdings meist ohne Kontrolle der Betroffenen über den Staat. Wie diese kollektiven Projekte in Zukunft konkret inhaltlich und auch organisatorisch arbeiten, ob es also genossenschaftliche Gesundheitszentren in Stadtteilen und/oder überregional staatlich organisierte Spezialkliniken geben wird, dies können nur die Menschen, die es betrifft, selbst entscheiden. Klar ist nur, dass konkrete Formen der Demokratisierung und Gestaltung dieser gemeinschaftlichen Bereiche der Daseinsvorsorge notwendig sind. Zu denken ist dabei an gewählte Care-Räte im Dorf, im Stadtteil, regional, landesweit.
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