roteste der Bevölkerung gegen die Erschießung von Flüchtlingen durch türkische Soldaten an der Grenze zu RojavaAktuelle Bewertung


Einheit in der Vielfalt für den Mittleren Osten


Nilüfer Koç, Kovorsitzende des Nationalkongresses Kurdistans (KNK)

 

Es vergeht kein Tag, an dem nicht die uralten Konflikte im Mittleren Osten aufbrechen. Wie zuletzt am Beispiel der Übernahme der mehrheitlich von sunnitischen Arabern bewohnten 1,8-Millionen-Stadt Mûsil (Mossul) durch ISIS (Islamischer Staat im Irak und der Levante). Mûsil ist die zweitgrößte Stadt Iraks nach Bagdad. Bei den jüngsten militärischen Invasionskämpfen geht es um den 1400-jährigen Konflikt zwischen Sunniten und Schiiten. ISIS ist eine radikal-sunnitische Gruppe, die im Irak gegründet wurde und für die Herrschaft der Sunniten kämpft.

 


Nach dem Sturz Saddam Husseins 2003 wurde im Irak eine politische Konstellation aus Schiiten, Sunniten und Kurden gezimmert. Während die Kurden ihre Region immer mehr ausbauten und entwickelten, haben die Schiiten mit der Zeit, vor allem seitdem Nuri al-Maliki an der Macht ist, ihren Einfluss über die Sunniten ausgedehnt. Dabei waren sie selbst lange Zeit Opfer der Brutalität des sunnitischen Baath-Regimes von Saddam gewesen. Das Unbehagen unter den Sunniten, die die Bevölkerungsmehrheit im Irak stellen, wuchs, was sunnitisch-islamistischen Gruppen wie ISIS Tür und Tor öffnete.


Allein aus der Fluchtroute des ehemaligen irakischen Vizepräsidenten Tariq al-Hashimi, eines zugleich sunnitischen Politikers, wird ersichtlich, welche Kräfte sich im sunnitischen Lager – gegenüber dem schiitischen – verorten. Nach dem Haftbefehl Nuri al-Malikis gegen ihn Ende 2011 ging Al-Hashimi erst nach Hewlêr (Arbil), anschließend Qatar, Saudi-Arabien und dann in die Türkei. Dort hält er sich seit 2012 auf und ist immer noch gegen die Al-Maliki-Regierung aktiv.


Preis für den Dialog mit dem Iran


Nuri al-Maliki hat sich, anstatt die ethnische und religiöse Vielfalt im Irak zu berücksichtigen, darauf konzentriert, die schiitische Autorität zusammen mit dem Iran auszuweiten. Seine und des Iran Solidarität mit Bashar al-Assad in Syrien beruht auf der alawitischen [gilt eher dem Schiismus nahe] Identität des syrischen Regimes. Auch gegen diese Zusammenarbeit wuchs das Unbehagen der sunnitischen Araber. Eine Stärkung seiner schiitischen Linie sah Al-Maliki auch durch die US-Politik. Er seinerseits hat für die Bestrebungen der USA, den Iran im Rahmen eines Dialogs unter Kontrolle zu halten, als Vermittler gut gearbeitet; nach seinem Washington-Besuch im November 2013 erhielt er Militär- und Finanzhilfe. Der Versuch der USA, den Einfluss des Iran in Irak und Syrien auszubalancieren, korrespondiert direkt mit seiner Interessenspolitik. Den USA geht es ohnehin nicht darum, die uralten Probleme der Region wie zum Beispiel den sunnitisch-schiitischen Konflikt zu lösen, sondern vielmehr darum, ihre Hegemonie über die Konflikte zu etablieren. Aufgrund der Besorgnis, den Iran nicht am Zügel halten zu können, wurde daher bei der expandierenden Macht der Schiiten ein Auge zugedrückt. Die Folge ist die Explosion eines Konfessionskrieges wie jetzt in Mûsil und Umgebung.


Der Iran seinerseits hat seine Autorität nicht nur im Irak, sondern auch in Syrien immens verstärkt und damit um die schiitisch-alawitische Front erweitert. Er ist nach eigenen Angaben sowohl im Irak als auch in Syrien präsent.


Aus diesem Grund trifft die Behauptung nicht zu, der sunnitische islamistische ISIS hätte Mûsil [allein] im Kampf gewonnen. Er war seit langem in der Gegend organisiert. Die Wut der sunnitischen Araber auf die schiitische Macht in Bagdad und ihre Unzufriedenheit bildeten den Nährboden für ISIS. Was diesen zudem zu einer Adresse der sunnitischen Araber macht, ist der Fakt, dass er zahlreichen ehemaligen Offizieren und Armeeangehörigen Saddams ein Heim bietet.


Auch die Türkei polarisiert


Ein weiterer Staat, neben Saudi-Arabien und Qatar, der die eigenen staatlichen Herrschaftsinteressen über den sunnitischen Islam definiert, ist die Türkei. Seit der Syrien-Krise steckt auch sie in einer Situation der Angst und Panik. Um zu verhindern, dass die Kurden in der Umwälzungsphase in Syrien ihre Autonomie erklären, hat sie nicht nur die Al-Nusra-Front, den syrischen Al-Qaida-Flügel, sondern auch ISIS aktiv unterstützt. Ihre etwa 900 km lange Grenze zu Syrien hat sie des Öfteren für die Bandenmitglieder von Al-Nusra und ISIS offengehalten. Auch wurden sie von Ankara logistisch und militärisch unterstützt. Die Türkei hat ihren traditionellen Kampf gegen die Kurden in der Türkei nach Rojava (kurd.: »Westen«; Westkurdistan/Nordsyrien) verlagert. Mit der Besonderheit, dass sie hier über ISIS die Demokratische Autonomie in Rojava bekämpft. Etliche Dokumente belegen, dass türkische Offiziere in die Ausbildung der ISIS-Banden verwickelt sind. Auf Druck der USA hat die Türkei vor kurzem ISIS als terroristische Organisation geächtet. Die Antwort von ISIS war die Belagerung des türkischen Generalkonsulats in Mûsil sowie die Entführung seines Personals.
Weiterhin versuchte die Türkei, um dem schiitischen Einfluss im Irak entgegenzuwirken, die südkurdische Demokratische Partei Kurdistans (PDK) mit in ihren Bann zu ziehen, und zwar über den Erdölhandel, und vertiefte somit den ohnehin bestehenden Konflikt zwischen Al-Maliki und PDK. Immer wieder kam es vor, dass Al-Maliki die Autonomie Südkurdistans nicht respektierte, sondern seine Macht auch hier sprechen zu lassen versuchte. Die türkische Regierung der Partei für Aufschwung und Gerechtigkeit (AKP) nutzte das aus und goss mit der Intensivierung der wirtschaftlichen Zusammenarbeit mit der Kurdischen Regionalregierung (KRG) Benzin ins Feuer zwischen Hewlêr und Bagdad.


Die Politik der PDK mit der AKP-Regierung hat nun Kurdistan, wie in Mûsil ersichtlich, in große Gefahr gebracht, denn die Achse der ISIS-Expansion betrifft Ortschaften, die die Grenzen zur KRG in Südkurdistan, aber auch zu Rojava bilden. Hier sind viele Orte arabisch-sunnitisch bewohnt. Hierbei bleibt anzumerken, dass ISIS nicht nur als eine terroristische Organisation im klassischen Sinne zu begreifen ist. Sie ist eine radikal-salafistische Organisation, errichtet eine Gesellschaftsordnung gemäß der Ideologie des Salafismus. Es geht ihr mit der brutalen Gewalt um den Aufbau eines sunnitisch-islamischen Staates in Irak und Syrien [und auch darüber hinaus], wie schon ihrem Namen zu entnehmen ist. Sie verhält sich besonders brutal gegenüber Kurden, Alawiten, Schiiten und Ezidi-Kurden.


Jeder ISIS-Erfolg birgt für die Kurden Lebensgefahr, wie zu Zeiten Saddam Husseins.


Kurdischer Weg als Ausweg


In der Stunde der Gefahr ist die enge Zusammenarbeit der kurdischen politischen Kräfte von lebenswichtiger Bedeutung. Die sofortige Reaktion der Gemeinschaft der Gesellschaften Kurdistans (KCK) als auch der Volksverteidigungseinheiten (YPG) auf die ISIS-Invasion, sie würden die KRG vor der Gefahr verteidigen, war ein weiteres Signal im Hinblick auf Einheit unter den Kurden. Es geht jetzt um die Verteidigung der kurdischen Errungenschaften in der KRG und in Rojava. Denn über ISIS bezwecken regionale Kräfte die Schwächung der KRG und die Zerstörung der Demokratischen Autonomie in Rojava.


Bekanntlich waren die Kurden in Rojava in den letzten beiden Jahren in ihrem Kampf gegen Al-Nusra und ISIS erfolgreich. Zuletzt wurde die breit angelegte Umzingelung des dritten Kantons Kobanê (Ain al-Arab) gesprengt. Auch hier hatte die Türkei ISIS unterstützt. Zudem hatte das Assad-Regime zugesehen, wie sich ISIS-Gruppen aus den unter seiner Kontrolle stehenden Gebieten nach Kobanê bewegten.


Der Erfolg gegenüber ISIS und Al-Nusra in Rojava ist nicht nur militärisch zu begreifen. Denn auch in Rojava leben viele sunnitische Araber. Daneben Assyrer, Armenier, Alawiten und Ezidi-Kurden. Der Erfolg in Rojava liegt in der Tatsache begründet, dass eine Politik der »Einheit in der Vielfalt« praktiziert worden ist. Das heißt, im Gegensatz zur Politik der Dominanz einer Komponente wurden hier alle Komponenten, d. h. Kurden, Araber, Armenier, Assyrer als auch Ezidi-Kurden, gleichberechtigt in die Strukturen der Demokratischen Autonomie aufgenommen. Damit jede dieser Komponenten aktiv an den politischen, wirtschaftlichen, gesellschaftlichen Entscheidungen teilhat, wurde ihnen mit der Organisierung in Kantonen direkter Zugang ermöglicht. Die Kantonsstrukturen ermöglichen allen, bis in die kleinsten Dörfer hinein, das Recht auf Selbstbestimmung wahrzunehmen. Denn mit der Arabisierungspolitik des Baath-Regimes in Syrien waren arabisch besiedelte Dörfer zur Kontrolle der kurdischen Bevölkerung eingerichtet worden (der sogenannte Arabische Gürtel entlang der Grenze zur Türkei und zum Irak). Das heißt, in demografischer Hinsicht ist jedes kurdische Dorf umgeben von sunnitischen arabischen Dörfern. Die sunnitischen Araber in Rojava sind in den Entscheidungsgremien vertreten, ferner haben sie die Möglichkeit, sich autonom zu organisieren, was sie davon abhält, Kräfte wie ISIS zu unterstützen. Das heißt, im Gegensatz zum Irak haben sie die Sicherheit der eigenständigen Entfaltung. Sie sind wie alle anderen Komponenten auch gleichberechtigt mit den Kurden, obwohl diese zahlenmäßig die absolute Mehrheit in Rojava stellen. Die Demokratie in Rojava ist nicht darauf fokussiert, die Quantität zu suchen, sondern die Qualität politischer Organisationsstrukturen, die alle Komponenten umfassen. Es geht hier um die ideologische Ausrichtung der Einheit in der Vielfalt, die zugleich das Fundament der Demokratischen Autonomie bildet. Die kantonale Selbstverwaltungsstruktur gewährleistet selbst für die kleinsten Ortschaften den direkten Zugang zu den Entscheidungsgremien.


Ein anderer wesentlicher Grund für die Entfaltung der Demokratischen Autonomie in Rojava war die Strategie des dritten Weges. Das bedeutet, im Gegensatz zur PDK in Irakisch-Kurdistan haben die Kurden in Rojava keine Partei für irgendeine Front im syrischen Krieg ergriffen. Obwohl sie dazu gezwungen werden sollten. Partei für eine dieser Fronten zu ergreifen hätte bedeutet, mitspielen zu wollen im Machtkampf der militärisch und finanziell überlegenen Kräfte und folglich permanent unter dem Druck der Kräfteverhältnisse zu stehen. Das wäre problematisch, da sich die Kräfteverhältnisse in einer multipolaren Politik häufig ändern. Außerdem haben die Kurden Erfahrung damit, denn sie haben im 20. Jahrhundert des Öfteren Partei für die einen oder die anderen ergriffen. Am Ende bezahlten sie einen hohen Preis und erzielten nicht, was sie erhofft hatten. Anders hätte es auch gar nicht ausgehen können, da die Machthaber die Kurden stets als Instrument ihrer Politik sahen und die kurdische Karte entsprechend ihren Interessen ausspielten, was für die Kurden oft ein Blutbad bedeutete. An dieser Stelle ist ein Hinweis auf die Sykes-Picot-Logik, auf die unter britischem Einfluss durchgeführte Konferenz von Kairo 1921 angebracht. Für die Kurden war dort vorgesehen, dass ihr Kampf für Selbstbestimmung den größeren, übergeordneten Interessen dienen sollte. Im Klartext bedeutet das, dass sie als Passivfaktor eingesetzt wurden.


Das aus der Geschichte gezogene Fazit war die Strategie des dritten Weges, die mit Beginn des Syrien-Konflikts angewandt wurde. Das heißt, weder für diese noch jene politische Front Partei zu ergreifen. Stattdessen selbst zu einer Partei zu werden. In Rojava wurde das erfolgreich realisiert. Nun sind die Kurden dort eine eigenständige Kraft. Hier hat die Transformation vom Passivfaktor zum Akteur stattgefunden. Die Kurden sind ohnehin fester Bestandteil des Mittleren Ostens. Ohne die Lösung der kurdischen Frage kann heute keine Rede sein von politischer Stabilität in der Türkei, dem Iran, Irak und Syrien als den Schlüsselländern der Region. Für die regionalen und globalen Kräfte bedeutet es, die Kurden nunmehr aus einem anderen Blickwinkel zu betrachten.


Im Machtkampf der politischen Polarität wird die Haltung der Kurden entscheidend sein. Gerade im erbitterten Konflikt um den Irak herum wird es an ihnen hängen, wie es weitergeht.


Akut ist erstens, die KRG und Rojava zu verteidigen. Zeitgleich sind Präventivmaßnahmen gegen die Gefahr für Rojava zu ergreifen. Dabei wird eine Einheitspolitik vonnöten sein. Die Verteidigung Rojavas bedeutet nicht nur Schutz für das Leben der Menschen dort, sondern auch die Verteidigung eines neuen Gesellschafts-Modells für die Region. Die oben genannte Lösung in Rojava kann ein Lösungsmodell für die gesamte Region sein.


Für die Fortsetzung des einseitigen andauernden Lösungsprozesses in der Türkei werden die Entwicklungen in Irak und Syrien ebenso von Bedeutung sein. Die AKP steht erneut vor einer Entscheidung. Für Ministerpräsident Erdoğan wird es wichtig sein, den gegenwärtigen Konflikt im Irak zu meistern. Nicht nur aus Sicherheitsgründen für die Türkei, sondern auch im Hinblick auf die bevorstehende Präsidentschaftswahl im August. Er braucht die Stimmen der Kurden. In diesem Wissen beharrt Abdullah Öcalan auf dem Fortbestehen des politischen Lösungsprozesses. Sein Beharren beruht auf seinem Bewusstsein darüber, den politischen Zwiespalt in der Türkei in eine demokratische Lösung zu transformieren. Nicht nur in Rojava, sondern auch in Bakûr (kurd.: »Norden«; Nordkurdi­stan/Osttürkei) wird die Politik der Kurden für den Werdegang des Landes bestimmend sein.


Zuletzt ist auch die Kurdenpolitik des Iran einen Blick wert. Selbst wenn der sich als starke Kraft in Syrien und Irak behauptet, so wird er bei seinen Maßnahmen im dortigen Kurdistan Vorsicht walten lassen müssen, da sich seine Pro- oder Kontra-Haltung gegenüber kurdischen Angelegenheiten sofort auf das eigene Territorium auswirkt. Die Goodwill-Politik der Partei für ein Freies Leben in Kurdistan (PJAK), den nunmehr dreijährigen Waffenstillstand mit Teheran aufrechtzuhalten, ist für den Iran gegenwärtig wichtig. Denn im Falle iranischer Interventionen (über das Assad-Regime) in Rojava können die Kurden in Rojhilat (kurd.: »Osten«; Ostkurdistan/Iran) ihre politische Position schnell ändern. Auch im Irak wird die Destabilisierung der KRG schwierig werden, da Südkurdistan keine bloße Parteienangelegenheit ist, sondern als eine gesamtnationale Errungenschaft verstanden wird.


So gesehen kann im Klartext gesagt werden, dass die politischen Chancen für die Kurden nicht schlecht stehen. Alle politischen Parteien in Kurdistan stehen gegenwärtig in der historischen Verantwortung. Es geht über Parteiinteressen hinaus. Es geht um die Verteidigung des Freiheitswillens des kurdischen Volkes wie auch aller Völker, die mit den Kurden Land und Leben teilen. Was gestärkt werden müsste, wäre eine Politik für eine nationale Einheit. Öcalan hatte daher auf eine kurdische nationale Konferenz in Hewlêr gepocht, da er sich der künftigen entscheidenden Bedeutung kurdischer Politik bewusst war. Um den Status quo der KRG aufzuwerten, bat er den KRG-Präsidenten Massud Barzanî, diese historische Verantwortung auf sich zu nehmen und die Konferenz einzuberufen. Diese Zusammenkunft hätte die KRG gestärkt, in ihrer Einheit zudem der Türkei, Iran, Syrien und Irak eine klare kurdische Perspektive vermittelt. Nun aber besteht erneut die politische Notwendigkeit einer solchen kurdischen Nationalkonferenz. Daran muss jetzt gearbeitet werden.