Demonstration in RojavaDie aktuellen internationalen Krisen als Scheitern der repräsentativen Demokratie

Wo der Staat keine Macht hat, lohnt sich auch die Eroberung der Staatsmacht nicht

Dr. Elmar Millich

Waren die Kriegshandlungen bis Mitte des 20. Jahrhunderts entweder sogenannte konventionelle Kriege, also zwischen souveränen Staaten, oder koloniale Kriege zur Erhaltung des Status quo, hat sich dieses Bild im 21. Jahrhundert entscheidend geändert. Die Nachrichten werden geprägt von Bürgerkriegen, die teilweise den gesamten Staat oder aber auch nur Regionen erfassen, und Interventionskriegen zumeist westlicher Staaten, die sich nach ihrem eigenen Verständnis gar nicht als Kriege betrachten, sondern als »humanitäre Intervention« oder als »Kampf gegen den Terrorismus«. Auch wenn sich die verschiedenen Konflikte in den unterschiedlichsten Regionen sicher nicht über einen Kamm scheren lassen, können sie doch als Krise der in Europa entwickelten Demokratieform interpretiert werden, die gemeinhin als »repräsentative Demokratie« bezeichnet wird. Die in der europäischen Aufklärung entwickelte Demokratievorstellung geht von dem Gewaltmonopol des Staates aus, das von der Bevölkerung durch freie, gleiche und geheime Wahlen an Repräsentanten des Staates delegiert wird. Die zwei wesentlichen Spielarten sind hier die parlamentarische Demokratie, wie in den meisten europäischen Staaten, oder präsidiale Demokratien, wie etwa in Frankreich oder den USA. Gemeinhin gilt auch noch die Gewaltenteilung, also Trennung zwischen Regierung, Gesetzgebung und Justiz, als Kriterium für eine funktionierende Demokratie. Wahlen haben in dieser Vorstellung eine befriedende Funktion, in dem Sinne, dass sie die Interessen der verschiedenen gesellschaftlichen Gruppen bündeln und priorisieren.

Ein Blick auf die zurückliegenden Jahre zeigt, dass diese befriedende Wirkung aufgrund unterschiedlicher Trennungslinien in der Gesellschaft zunehmend verloren geht. Vordergründig lassen sich im Wesentlichen vier Trennungslinien ausmachen, die anhand exemplarischer Konflikte plakativ dargestellt werden sollen. Ein aktuelles Beispiel für ethnische Auseinandersetzungen liefert der Südsudan. Noch bevor er 2011 nach einem Referendum seine Unabhängigkeit erreichte, wurde Salvador Kiir als Staatspräsident bestätigt. Nach der anfänglichen Euphorie über die Unabhängigkeit kam es Ende 2013 zu einem Zerwürfnis zwischen Kiir und seinem Vizepräsidenten Rieck Machar. Zur Tragödie entwickelte sich dieses Zerwürfnis dadurch, dass beide unterschiedlichen Volksgruppen, den Dinka und Nuer, angehören. Quasi aus dem Nichts spaltete sich die Bevölkerung anhand ethnischer Linien in einem Bürgerkrieg, der bislang tausende Tote und Hunderttausende Vertriebe forderte.

Der Irak befindet sich elf Jahre nach dem Sturz von Saddam Hussein am Rand des Bürgerkrieges zwischen den verschiedenen Religionsgruppen. Die schiitischen und sunnitischen Teile der Bevölkerung stehen sich misstrauisch gegenüber, und immer wieder gibt es verheerende Bombenattentate gegen die Zivilbevölkerung. Nach UN-Angaben kamen allein 2013 8 000 Menschen dabei ums Leben. Der seit acht Jahren amtierende schiitische Regierungschef al-Maliki schließt die unter Saddam Hussein tonangebende sunnitische Bevölkerung systematisch von der Macht aus und kriminalisiert stattdessen politische Gegner.

Auch soziale Konflikte können eine Rolle spielen. In Thailand putschte das Militär kürzlich zum zweiten Mal nach 2006. Vorausgegangen waren Proteste der als »Gelbhemden« bekannten städtischen Mittelschicht, die den Rücktritt der Regierungschefin Yingluck Shinawatra forderte, die sich durch Sozialprogramme auf die Unterstützung der ärmeren ländlichen Bevölkerung verlassen kann. Bis zu 30 Menschen sind in den letzten Monaten ums Leben gekommen. Ähnlich verlaufen die Grenzen zwischen der Bevölkerung aktuell in Venezuela. Seit Monaten finden militante Proteste statt, und Angehörige der Mittelschicht fordern den Rücktritt von Präsident Maduro, der die sozialistische Politik seines Vorgängers Hugo Chávez fortführt.

Im Mittelpunkt der internationalen Aufmerksamkeit steht aktuell die Ukraine. Nachdem Präsident Janukowytsch sich weigerte ein wirtschaftliches Assoziierungsabkommen mit der EU einzugehen, erzwangen vom Westen massiv unterstützte Proteste auf dem Maidan-Platz seinen Rücktritt. Die neu gebildete Regierung wurde aber von der tendenziell prorussischen Bevölkerung im Ostteil des Landes nicht anerkannt, die eine Unabhängigkeit oder Angliederung an Russland will. Hier verläuft die Trennungslinie entlang prorussischer oder proeuropäischer Identität.

In der Türkei forderten im Juni letzten Jahres während des Gezi-Aufstands Millionen von Menschen den Rücktritt von Ministerpräsident Erdoğan. Die säkular und liberal orientierten Kräfte fühlen sich von der zunehmenden Islamisierung und dem autoritären Regierungsstil überrollt. Oft überlagern sich die verschiedenen Konfliktlinien auch und werden zusätzlich von außen angeheizt.

Der Staat wird zur Beute

Schaut man sich die Ursachen dafür an, warum auch anerkanntermaßen demokratische Wahlen nicht in der Lage sind, die Länder zu stabilisieren, lohnt sich eine ökonomische Betrachtung. Die oben beschriebene in Europa entwickelte Demokratievorstellung hat als weitere Prämisse eine kapitalistische Privatwirtschaft, bei der sich der Staat im Wesentlichen darauf beschränkt, die wirtschaftlichen Rahmenbedingungen vorzugeben. Damit findet eine weitgehende Entkopplung zwischen der gewählten Regierung und dem individuellen finanziellen Wohlergehen statt. In Deutschland etwa weiß sowohl der Millionär als auch der Harz-IV-Empfänger, dass sich an seinem Schicksal im Wesentlichen nichts ändern wird, egal ob CDU oder SPD an der Macht sind. In vielen Ländern der Welt sieht das aber anders aus. Große Teile des Wirtschaftsgeschehens sind staatlich gelenkt und stellen einen großen Teil des Beschäftigungssektors. Rohstoffexporte wie etwa Öl stellen einen großen Teil der Staatseinnahmen und auch Investitionsgelder und Entwicklungshilfe sind unter Kontrolle des Staates. Der Hang zur Korruption und die Praxis, die eigene ethnische, religiöse oder weltanschauliche Klientel mit Posten und Geld zu versorgen, geben Wahlen eine direkte individuelle ökonomische und soziale Sprengkraft. Die gewählten Kräfte machen sich den mit dem Gewaltmonopol versehenen Staat zur Beute und teilen die Pfründe unter sich auf. Das führt verständlicherweise bei dem unterlegenen Teil der Bevölkerung zu Verbitterung und Aufruhr. Gefährlich wird es dann, wenn diese Klassenauseinandersetzungen, wie in vielen Teilen der Welt, ethnisiert oder religiös verbrämt werden. Aus dem eigentlichen Kampf Arm gegen Reich entwickeln sich mörderische Auseinandersetzungen zwischen verschiedenen Volks- oder Religionsgruppen. Dass solche Entwicklungen nicht naturgegeben sind, sondern aus der kapitalistischen Dynamik entspringen, zeigt das friedliche Zusammenleben der verschiedenen Volksgruppen im ehemaligen sozialistischen Jugoslawien. Die Interpretation bürgerlicher Kräfte, die Gewaltausbrüche Anfang der 1990er Jahre seien die Folge davon, dass der Hass der Volksgruppen aufeinander von dem autoritären sozialistischen Staat unterdrückt wurde und nun zum Ausbruch kommt, ist an Zynismus nicht zu überbieten.

Natürlich geht es nicht nur um ökonomische Vorherrschaft, sondern auch um kulturelle Hegemonie im Staat. Etwa in der Türkei, wo die türkischstämmige sunnitische Bevölkerungsmehrheit keinen offiziellen Platz für Kurden oder Aleviten sieht. Oder wenn etwa Israel von der Welt verlangt, als »jüdischer Staat« anerkannt zu werden, obwohl seine Bevölkerung zu 20 % aus Arabern besteht. Hier werden Auseinandersetzungen schon in der Struktur und Festschreibung des Staates angelegt. Auch demokratische Wahlen zementieren hier nur die gesellschaftliche Ausgrenzung von Minderheiten.

Rätedemokratie als Alternative

Es gibt also gute Gründe zu hinterfragen, ob das Modell der repräsentativen Demokratie mit dem uneingeschränkten Gewaltmonopol des Staates wirklich als weltweiter Exportschlager taugt oder nicht eher Konflikte schürt. Es liegt auf der Hand, dass politische Modelle, die eher auf Konsens als auf Mehrheiten setzen, ein hohes Potential zur Konfliktlösung besitzen. Solche politischen Modelle haben oft in indigenen Gemeinschaften eine lange Tradition, gelangten aber erst durch den Aufstand der Zapatisten in Mexiko in den internationalen Fokus. Ein solcher politischer Ansatz wird gerade in Rojava unter dem Namen »Demokratischer Konföderalismus« umgesetzt. Die verschiedenen Volks- und Religionsgruppen werden hier ausdrücklich als Bereicherung der Gesellschaft und nicht als irgendwie gearteter Fremdkörper in einer Mehrheitsgesellschaft gesehen. Auch wenn in den verschiedenen Kantonen demnächst Regierungswahlen stattfinden, dienen diese doch hauptsächlich einer gewissen demokratischen Legitimation nach außen, während die politischen Entscheidungen über ein verzweigtes Rätesystem von der Basis der Bevölkerung getroffen werden. Auf ein in westlichen Staaten verbreitetes ausgeklügeltes Rechtssystem mit tausenden Gesetzen und Verordnungen, deren Überwachung sich der Staat zur Hauptaufgabe macht, will man bewusst verzichten und stattdessen im gesellschaftlichen Umgang immer wieder neuen Konsens finden. Im Mittelpunkt steht die Gesellschaft und wo der Staat keine Macht hat, lohnt sich auch die Eroberung der Staatsmacht nicht. Mag ein Staat sich ethnisch oder religiös einseitig definieren, eine Gesellschaft ist immer so heterogen wie die Bevölkerung, aus der sie sich zusammensetzt.

Warum wird dieses Modell in Rojava angesichts der furchtbaren Verhältnisse in den anderen Teilen Syriens nicht international begrüßt, sondern von der Türkei aktiv bekämpft und von den westlichen Staaten bestenfalls argwöhnisch beäugt? Das rührt vor allem daher, dass das Projekt Rojava nicht in der westlich liberalen, sondern in der kommunistischen Tradition liegt. Der arabische Frühling in Tunesien und Ägypten wurde im Westen mit Gelassenheit betrachtet, forderten die anfänglichen Protagonisten lediglich die Umsetzung demokratischer Standards statt korrupter Diktaturen. Anhand dieser Maßstäbe muss man die Umwälzungen mittlerweile als gescheitert betrachten. Die heterogene Mittelschichtsopposition hatte zwar das Potential im Verbund mit wohlmeinender westlicher Berichterstattung die Autokraten zu stürzen, aber in das Machtvakuum zogen dann die besser organisierten Muslimbrüderschaften ein. In Ägypten erfolgte nach dem Militärputsch und der Wahl Sisis zum Staatspräsidenten gar eine komplette Rückkehr zum alten Status quo. Demgegenüber erfolgte in Rojava eine klare Revolution durch die Partei der Demokratischen Union PYD als eine in der Bevölkerung verankerte revolutionäre Partei mit klaren ideologischen Vorstellungen. Die Erfolge dieser Revolution wurden auch direkt durch die bewaffneten militärischen Kräfte der Volksverteidigungseinheiten YPG abgesichert. Genauso hat es Lenin 1917 vorgemacht. Würde ein solches Vorgehen in der Region Schule machen, hätte der Imperialismus seine liebste Spielwiese Mittlerer Osten verloren. Generell ist die Vorstellung einer in basisdemokratischen Rätestrukturen organisierten Gesellschaft dem Kapitalismus ein Gräuel. Für die kapitalistische Durchdringung einer Gesellschaft bedarf es einer stringenten Gesetzgebung, die Investitionssicherheit garantiert und Ausbeutungsverhältnisse festschreibt. Ebenso braucht es die Kumpanei mit lokalen Eliten, die das staatliche Gewaltmonopol nutzen, um gegebenenfalls Unruhen durch Polizei und Militär zu unterdrücken. Daher ist es konsequent, dass nicht nur die Türkei aufgrund ihrer eigenen kurdischen Bevölkerung am Gedeih einer kurdischen Selbstverwaltung kein Interesse hat, sondern sich auch die feudalistische kurdische Autonomieregierung im Nordirak an der ökonomischen Strangulierung von Rojava beteiligt und westliche Regierungen auf Distanz gehen.

Inwieweit Rojava im Mittleren Osten auch über Kurdistan hinaus Ausstrahlungskraft gewinnt, hängt von den weiteren Entwicklungen ab. Zuerst einmal steht die militärische Verteidigung gegen dschihadistische Gruppierungen und das Assad-Militär im Vordergrund. Eine Stabilität in Rojava wird nur zu erreichen sein, wenn es auch für Gesamtsyrien zu einer Lösung kommt. Wann diese erreicht wird und wie sie aussehen wird, lässt sich aktuell nicht vorhersagen. Unter Kriegsbedingungen, wie sie aktuell in den kurdischen Gebieten herrschen, kommt es naturgemäß zu einem stärkeren gesellschaftlichen Zusammenhalt. Die eigentliche Bewährungsprobe ist der Frieden, wenn dann die »Mühen der Ebenen« beginnen. Erfahrungsgemäß sind es dann die ökonomischen Verhältnisse, die für die Zufriedenheit der Gesellschaft ausschlaggebend sind. Es ist jetzt schon abzusehen, dass die Anrainer- und imperialistischen Staaten alles daransetzen werden, die Entwicklungen in Rojava eher zu behindern als zu fördern.