Etwa 200.000 Eziden mussten vor den IS-Terroristen in die Berge Sengals fliehen | Foto: DIHABericht aus den Bergen Şengals

Verraten und verkauft

Interview mit Hayri Kızıler, Qamişlo, 20.08.2014, ANF

In einem Interview mit der Tageszeitung Yeni Özgür Politika berichtet der Journalist Hayri Kızıler über die Ereignisse im nordirakischen Şengal (Sindschar) und in den Şengal-Bergen nach den Angriffen des Islamischen Staates (IS). Kızıler, der sich seit zehn Monaten in Şengal aufgehalten hat, äußert sich u. a. darüber, wie sich die Peschmerga-Kräfte Südkurdistans schlagartig zurückzogen, ohne die Bevölkerung zu warnen, die daher plötzlich mit der Gefahr eines Massakers konfrontiert war. Des Weiteren schildert er den Überlebenskampf der in die Şengal-Berge geflohenen Menschen und kritisiert dabei die voreingenommene Berichterstattung einiger Medien.

 

Die Weltöffentlichkeit hat durch Deine Pressearbeit über die Geschehnisse in Şengal erfahren. Seit etwa zehn Monaten hältst Du Dich in der Region auf. Könntest Du uns zunächst etwas darüber erzählen?
Mit Şengal werden die ÊzîdInnen in Verbindung gebracht. Neben diesen leben im Stadtzentrum von Şengal auch sunnitische und schiitische AraberInnen, schiitische TurkmenInnen und sunnitische KurdInnen. Die nichtêzîdischen Bevölkerungsgruppen wurden im Zuge der Deportations- und Umsiedlungspolitik Saddam Husseins im Zentrum angesiedelt. Die umliegende Landbevölkerung besteht nach wie vor allein aus ÊzîdInnen. Einzig in Tilbenad leben daneben noch schiitische KurdInnen. Auffallend ist, dass die heiligen Stätten der ÊzîdInnen nur in der Bergregion liegen.

Als Mûsil (Mosul) von ISIS eingenommen wurde, warst Du in Şengal. Könntest Du die Gefühlslage der EinwohnerInnen schildern?
Mûsil wurde vom IS ohne wirklichen Widerstand der irakischen Armee erobert. Daraufhin griff er die turkmenische Bevölkerung an; viele flohen nach Şengal, da den TurkmenInnen niemand außer den ÊzîdInnen Hilfe zu leisten schien. Ich weiß zwar nicht, auf welchen Abkommen es beruhte, aber innerhalb eines Monats wurden die TurkmenInnen per Flugzeug über Dohuk und Hewlêr (Arbil) nach Nadschaf, Kerbela und Bagdad befördert. Ein wenn auch nur kleiner Teil der turkmenischen Bevölkerung hat sich dazu entschieden, in Şengal zu bleiben.

Was passierte danach? Gab es im Vorfeld Anzeichen für einen Angriff auf Şengal? Könntest Du die Situation und die Gefühlslage dort vor einem Monat beschreiben?
Zunächst wurden einige Gebiete südwestlich Şengals, in denen sunnitische AraberInnen leben, vom IS erobert. Die Grenze zu Syrien war sowieso schon in ihrer Hand, Tel Afar, westlich von Şengal, ebenso. Das nördlich Şengals liegende Stadtviertel Zumar war von ihm besetzt, die Volksverteidigungseinheiten (YPG aus Rojava) konnten ihn mit Unterstützung von Peschmergas der Patriotischen Union Kurdistans (YNK) aus einigen Teilen Zumars zurücktreiben. Bei [dem Grenzort] Rabia handelt es sich um einen für Şengal strategisch wichtigen Punkt. Der Westen Rabias wurde von YPG-Einheiten kontrolliert, der Osten vom IS. Mit der kompletten Einnahme Rabias sollte Şengal umzingelt werden. Das wurde jedoch von Kräften der YPG verhindert. Ihnen gelang es, das an Rabia grenzende Til Koçer (Al-Yarubiyah) als auch Cezaa unter ihre Kontrolle zu bringen.

Die Volksverteidigungseinheiten YPG und YPJ auf dem Weg nach Şengal | Foto: DIHA

Was passierte in Şengal während dieser Vorfälle?
In Şengal bestand eine Art Doppelherrschaft. Neben Militär- und Polizeikräften der irakischen Zentralregierung kontrollierten Peschmerga der Demokratischen Partei Kurdistans (PDK) die Stadt. Während in Tel Afar versucht wurde, sich um die dorthin geflüchteten schiitischen TurkmenInnen zu kümmern, kam es in Şengal an vier verschieden Stellen zu insgesamt sieben Drohangriffen des IS. Das sorgte innerhalb der Bevölkerung für Beunruhigung. Nahezu sämtliche DorfbewohnerInnen Şengals errichteten Stellungen, um sich gegen mögliche Angriffe verteidigen zu können. Rund um die Uhr wurde Wache gehalten. Nach jeder IS-Attacke griffen die Peschmerga-Kräfte kurzzeitig ein und eilten zum Ort des Geschehens. Es war ein regelrechtes Hin und Her, ohne irgendwelche Verluste auf beiden Seiten. Das verwirrte die Menschen.

Wie sah die Reaktion der Bevölkerung aus?
Die wollte Widerstand leisten. Allerdings wurde ihr gesagt, dass sie sich zurückhalten sollten. In nahezu jedem Dorf standen Peschmerga. Die wurden gefragt, warum sie denn nicht einschreiten würden. Ihre Antwort war, dass es sich dabei um Befehle handle.

Du sagst also, die Bevölkerung war bereit, gegen den IS zu kämpfen?
Die Bevölkerung wollte die Angriffe beantworten. Doch das wurde ihr von der Kommandantur der PDK-Peschmerga nicht gestattet, im Gegenteil, ihr wurde gesagt, sie solle keinen Widerstand leisten. Es hieß, dass der IS bei Widerstand noch schwerere Waffen einsetzen würde. Obwohl die Bevölkerung von der Peschmerga Waffen forderte, wurden sie ihr verweigert. Als sie an Waffen kam, die bei der Flucht der irakischen Armee zurückgelassen worden waren, wurden diese sogar am nächsten Tag von der Peschmerga konfisziert.

Wenn wir nun zu dem Angriff in der Nacht vom 2. auf den 3. August zurückkehren ...
Gegen drei Uhr nachts weckten uns Explosionsgeräusche. Von da an war ich nur noch am telefonieren. Die erste Nachricht kam aus dem Dorf Girzerik. Die IS-Kämpfer hatten es mit schweren Waffen angegriffen. Heftige Gefechte waren zu beobachten. Um halb vier dehnten sie sich auf Siba Şêx Xidir aus. Die Bevölkerung leistete unermüdlich Widerstand. Im Zentrum von Şengal herrschte regelrecht Panik, alle wollten die Stadt verlassen. Dann erfuhren wir, dass der IS weitere Dörfer angegriffen hatte. Gegen sechs Uhr trafen die ersten Verletzten im Krankenhaus Şengal ein. Dadurch erfuhren wir, dass die Situation noch schlimmer war, als im ersten Moment vermutet.

Was machten die PDK-Peschmerga und das irakische Militär währenddessen? Hat nur die Bevölkerung gekämpft?
Ich habe das auch versucht zu verstehen. Als Erstes sah ich, dass die Peschmerga ihre Taschen packten, die schweren Waffen mitnahmen und Şengal im Konvoi verließen. Das verwirrte mich. Sie haben der Bevölkerung noch nicht einmal mitgeteilt, dass sie aufbrechen wollten. Als das kämpfende Volk das mitbekam, waren sie davon natürlich sehr mitgenommen, gerieten geradezu in Panik. Sie sammelten ihre Kinder ein, stiegen in die Autos und flüchteten. Wer keinen Platz mehr in den Autos fand, flüchtete zu Fuß in Richtung Şengal-Berge. Weil ich ebenfalls dazu gehörte, machte ich mich gegen dreiviertel zehn auch zu Fuß auf den Weg in Richtung Berge. Die Bevölkerung sagte, man hätte uns verkauft. Gegen zehn spazierten die IS-Banden in Şengal ein. Viele hatten es noch nicht geschafft zu fliehen und blieben zurück. Gegen elf hörten wir eine große Explosion. Sie hatten Sitî Zeyneb, die heilige Stätte der SchiitInnen, in die Luft gejagt. Zehntausende strömten Richtung Berge.

Wer hatte die Idee, in die Berge zu flüchten? Gab es nicht die Befürchtung, der IS könne die auch einnehmen?
Die Leute überlegten nicht, wohin sie fliehen könnten. Der einzige Gedanke war, so schnell wie möglich Şengal zu verlassen. Und alle bewegten sich in Richtung Berge. Der Süden und der Westen waren nicht zugänglich. Den Norden des Berges hatten die Menschen allerdings auch schon vorher als Weg aus Şengal hinaus genutzt, weil er einfach der sicherste war, also bereits bevor der IS in Şengal ankam.
Unterwegs kam es immer wieder zur Unruhe in der Bevölkerung. Der Weg aus dem Stadtzentrum war kürzer als für die meisten Dörfer in der Umgebung. Die Stadt liegt nämlich direkt am Fuß des Berges. Dennoch brauchten wir ganze zwölf Stunden, um hinaufzugelangen. Wir waren durstig und es war heiß. Ich führte die Fernsehberichterstattung während der gesamten Flucht weiter fort. Am Ende waren wir so durstig und hatten einen so trockenen Mund, dass Lippen und Zunge wund waren. Wir konnten deshalb ein paar Tage lang nichts essen. Durst und Staub hatten unserem Mund und Hals zugesetzt. Stellt Euch die Situation mal vor: Kinder, die weinen, ältere Menschen, die nicht mehr laufen können. Dann die Jugendlichen, die immer wieder vorneweg auf Anhöhen klettern, um Wasser zu suchen und den Leuten zu bringen. Auf unserem Weg sahen wir bereits Leichname von Menschen, die es nicht geschafft hatten. Ich habe es zwar selbst nicht gesehen, aber eine Mutter berichtete, dass sie ihr unterwegs verstorbenes Kleinkind unter einem Stein beigesetzt hatte. Sie konnte noch nicht einmal weinen.

Was machten die Familien mit ihren Kindern, die keine Autos hatten?
Ich möchte eines ergänzen. Nachdem der IS Mûsil eingenommen hatte, herrschte auch in Şengal großer Benzinmangel. Die Benzinpreise schossen in die Höhe und es war kaum welches zu finden. Darum konnte ein großer Teil der Bevölkerung, trotz Auto vor der Tür, nicht damit fliehen und musste zu Fuß los. Ein Teil bereits in der Nacht. Der Grund dafür war, dass die Peschmerga-Kräfte Şengal teilweise bereits gegen ein Uhr nachts verlassen hatten. Wer das mitbekam, muss sich gedacht haben, dass wohl etwas nicht stimmt, und so entschloss sich ein Teil von ihnen, auch in der Nacht zu fliehen. Viele wollten über den Berg in Richtung Dohuk. Doch ihnen wurde der Weg vom IS in der Nähe von Rabia abgeschnitten. Den Peschmerga-Kräften und der Bevölkerung, die schnell reagiert hatten, gelang es, nach Dohuk zu kommen. Alle anderen mussten wieder zurück und blieben auf dem Şengal-Berg.

Vor dem IS auf der Flucht | Foto: DIHA

Waren es ausschließlich êzîdische Kurdinnen und Kurden, die auf den Berg flüchteten?
Im Zentrum von Şengal und in den umliegenden Dörfern lebten rund 450 000 Menschen. Etwa 250 000 von ihnen hatten ihre Heimat bereits vor der Ankunft des IS verlassen. Die übrigen rund 200 000 mussten auf dem Berg Zuflucht suchen, die meisten von ihnen waren êzîdische KurdInnen. Aber es gab auch eine kleinere Anzahl schiitischer TurkmenInnen, schiitischer KurdInnen und schiitischer AraberInnen.

Die Menschen flohen auf die Berge, ohne zu wissen, was sie dort erwartet. War es da eigentlich sicher?
Auf den Berg führten allein zwei Wege. Wenn es dem IS über einen der beiden gelungen wäre hinaufzugelangen, hätte vielleicht auch niemand überlebt. Auch wenn der Berg umzingelt war und es kaum Wasser gab, so war er nun Zufluchtsort für 200 000 Menschen. Die Frage war nur, wie lange das gut gehen würde. Die Peschmerga sah keinen Grund, um den Berg gegen den IS zu halten. Es war niemand von ihnen dort. Aber nach dem IS-Angriff auf Şengal bekamen wir mit, dass die Gemeinschaft der Gesellschaften Kurdistans (KCK) bereits zuvor öffentlich erklärt hatte, dass sie bei Bedarf bereit sei, die Şengal-Berge zu verteidigen. Auch waren sieben bewaffnete Mitglieder der Volksverteidigungskräfte (HPG aus Kandil) dort oben. Sie schützten die beiden Zufahrtswege.

Auf den Şengal-Berg?
Ja, genau. Die Menschen strömten weiter hinauf. Allerdings machten sich auch IS-Mitglieder auf, um den Berg einzunehmen. Als dann Schüsse an den Berghängen zu hören waren, schreckten die Menschen oben auf. Wir haben später erfahren, dass die HPG aufgrund eines befürchteten Angriffs auf Şengal bereits sieben Leute auf dem Berg positioniert hatten. Der IS versuchte von einem Zufahrtsweg aus mit sechs Fahrzeugen und schweren Waffen auf den Berg zu gelangen. Sie kamen uns gefährlich nah. Wie gesagt, es waren 200 000 Menschen auf dem Berg, wir hörten Schüsse und bekamen Panik. Dann merkten wir, dass die HPG-KämpferInnen auf die Islamisten schossen. Sie schalteten einen Wagen aus und töteten zwei ihrer Mitglieder. Der andere Weg auf den Berg war in sehr schlechtem Zustand, weshalb der IS es von dort gar nicht erst versuchte.
Nachdem Du auf dem Berg warst, hast Du über Telefonschaltung im Fernsehen immer wieder über die Situation berichtet. Du scheinst also da oben keine Netzprobleme gehabt zu haben.

Nachdem ich oben war, machte ich mir Gedanken, wie ich der Außenwelt über Internet und Telefon von der Situation da oben berichten kann. Ich suchte den Berg ab und fand eine Stelle, an der ich Verbindung zum Netz hatte und mich auch mit dem Internet verbinden konnte. Die ersten Aufnahmen vom Şengal-Berg konnte ich erst 24 Stunden nach unserer Ankunft losschicken.
Ich begab mich dann zwischen die Menschen. Es machte sich eine große Hoffnungslosigkeit breit. Die meisten bewegten sich kaum von der Stelle. Sie wussten nicht, wohin sie sollten. Wir hatten ohnehin Nahrungsmangel. Dann war es am Tag sehr heiß und im Dunkeln sehr kalt. Es war schwer, diese Bedingungen lange auszuhalten.

Der größte Bedarf war wohl das Wasser. Wie habt Ihr das Problem gelöst?
An den Berghängen gab es zwei Dörfer: Kersê und Çilmêra. Von beiden Dörfern aus wurde Wasser hinauftransportiert. In die unzugänglicheren Ecken trugen die Jugendlichen das Wasser in Kanistern. Sie brachten es auch zu denen, die sich weiter in Richtung des Berges auf der Flucht befanden. Die Menschen organisierten sich in relativ kurzer Zeit und fanden eine Lösung für das Wasserproblem. Für die Sicherheit sorgten die HPG-KämpferInnen. Und der IS hatte nach seinem ersten Scheitern keinen weiteren Versuch mehr unternommen, den Berg einzunehmen.

Welches Gefühl löste die Selbstorganisierung bei den Menschen auf dem Berg aus?
Vor allem die gewährleistete Sicherheit beruhigte die Menschen sehr. So konnten sie sich Gedanken machen, wie sie von dem Berg wieder runterkommen würden. Sie dachten wohl, dass ich als Journalist über mehr Informationen verfügen würde als sie, und fragten mich andauernd, wann weitere HPG-KämpferInnen kommen würden. Doch dann erreichte uns zuerst eine größere YPG-Einheit aus Rojava. Sie hatte sich den Weg zum Şengal-Berg freigekämpft. Kurz darauf kam nach der Erklärung Murat Karayılans ebenfalls eine HPG-Einheit aus Kandil in die Region. Am 5. August organisierte dann die Bevölkerung ihre eigene Verteidigung. Nach Gesprächen zwischen den YPG und den Dorfältesten der ÊzîdInnen wurde der Beschluss gefasst, die Verteidigungseinheiten von Şengal (YPŞ) zu gründen. Die meisten ÊzîdInnen waren ohnehin bewaffnet und nicht gewillt, ihre Heimat einfach so zu verlassen. So wurde aus der siebenköpfigen Verteidigungskraft des Şengal-Bergs eine 2 000-köpfige Einheit. Und die Bevölkerung fühlte sich nun sicher. Mit der Ankunft von YPG und HPG schöpfte sie wieder Hoffnung.

Nach Gesprächen zwischen den YPG und den Dorfältesten der ÊzîdInnen wurde der Beschluss gefasst, die Verteidigungseinheiten von Şengal (YPŞ) zu gründen. | Foto: DIHA

Im Fernsehen gab es viele Berichte über Hilfsladungen, die mit Hubschraubern auf den Berg gebracht wurden. Kannst Du dazu etwas sagen?
Ich glaube, es war der vierte Tag, da flogen die ersten Hubschrauber mit Hilfsgütern über den Berg. Aber bei 200 000 Menschen war das nur ein Tropfen auf den heißen Stein. Doch es muss gesagt werden, dass die Hilfslieferungen den Menschen, wenn auch nicht zum Sattwerden, doch zu mehr Hoffnung verhalfen. Denn die Leute merkten dadurch, dass sie nicht vergessen worden waren. Wir merkten, dass unser Leid die Außenwelt erreicht hatte.
Als die Hubschrauber kamen, starben zwei Leute, die in einen von ihnen hineinzuklettern versuchten. Zwei weitere Menschen starben, weil ein abgeworfenes Paket auf sie fiel. Später begannen die YPG, aus Rojava Nahrungsmittel wie Mehl, Zucker und Salz mit Lastwagen auf den Berg zu bringen. Nach vier Tagen dort oben hatte sich die Atmosphäre nun gewandelt und die Menschen waren hoffnungsvoller. Nach acht Tagen erklärten die YPGlerInnen, dass der Fluchtkorridor gesichert sei. Davor waren nur Kranke und Verletzte runtergebracht worden. Aber am achten und am neunten Tag wurden etwa 80 % der Menschen auf dem Berg durch den Fluchtkorridor runtergebracht. Am Fuß des Berges warteten Fahrzeuge für die Geschwächten, die anderen marschierten und wechselten sich mit anderen auf LKWs ab.

Auch ich begleitete die Menschen, nachdem sie vom Şengal-Berg heruntergebracht worden waren. Ich hatte das Gefühl, dass sie großes Vertrauen zur PKK hatten. Wie war die Situation auf dem Berg?
In fast allen Gesprächen sagten die Menschen auf dem Berg, die Peschmerga habe uns verkauft. Auch dort wussten viele, dass sie, wenn überhaupt, dann von der PKK gerettet werden würden.

Dennoch hieß es in Südkurdistan in der Berichterstattung, dass angeblich die Peschmerga kämpfe, während zeitgleich die USA IS-Stellungen bombardierten.
Diese falsche Berichterstattung bekamen wir mit. Es wurde auch berichtet, dass die notwendigen Hilfsgüter die Menschen auf dem Berg erreicht hätten. Diese fühlten sich durch diese Lügen verletzt. Auch von groß angelegten Luftangriffen bekamen wir nichts mit. Wir sahen und hörten Drohnen über uns fliegen. Ein, zwei Mal hörten wir auch Bombeneinschläge in der Nähe von Sinunê und einmal aus Şengal. Aber ansonsten tat sich wirklich nichts. Vom Berg aus hatten wir einen guten Überblick. Und die Leute waren ohnehin sehr aufmerksam, weil es immerhin um ihr Leben ging. Ich glaube, es war am fünften oder sechsten Tag, da kam eine Gruppe Peschmergas mit einem Hubschrauber auf den Berg. Die Menschen griffen sie an. Die PKK-Kräfte stellten sich dazwischen und schützten sie vor der Wut der Bevölkerung. Nachdem dann die YPG den Fluchtkorridor zum Berg abgesichert hatten, kam eine Gruppe von 70 bis 80 Peschmergas auf den Berg, auch ihr wurde die Wut gezeigt. Am Ende kam eine US-Abordnung mit Peschmergas, die wurden ebenfalls angegriffen. Die Bevölkerung wollte die Peschmerga nicht mehr, weil sie wusste, dass sie von ihnen verraten worden war.

Nachdem Du die Menschen vom Berg hinunter begleitet hattest, bist Du auch mit ins Newroz-Flüchtlingscamp in Rojava gegangen. Kannst Du Deine Eindrücke von dort schildern?
Es war dort zu merken, dass die Menschen teilweise gelassener waren. Ihre Grundbedürfnisse konnten dort befriedigt werden. Es gab Zelte, Kleidung, Milch für die Kinder und warmes Essen. Es gab genügend Betten und auch die Trinkwasserfrage war geklärt. Die Menschen versuchten dort, die Erschöpfung der Tage auf dem Berg abzuwerfen.

Im Newroz-Camp angekommen | Foto: DIHA

Als ich im Camp war, sah ich kaum Jugendliche. Ist Dir das auch aufgefallen?
Ja, das liegt daran, dass viele zurück auf den Şengal-Berg sind, um sich dort den Verteidigungseinheiten anzuschließen. Einige Mütter sagten mir, dass sie ihre Söhne zurückgeschickt hätten. Die Leute haben Şengal nicht aufgegeben. Sie sagten, dass es ihre Heimat, ihre heilige Stätte sei und sie um keinen Preis diese Region so einfach den Islamisten überlassen würden.
Rund 10 000 Menschen haben Şengal ohnehin nicht verlassen. Sie haben dort ein Camp aufgeschlagen und wollen nicht weg. Aber es herrscht Nahrungsmittel- und Wassermangel. Dafür muss eine Lösung gefunden werden.

Du willst auch zurück, wie wir mitbekommen haben. Warum?
Ich hatte zehn Monate unter diesen Menschen gelebt. Als dann der IS-Angriff begann, machte sich auch in mir Hoffnungslosigkeit breit. Ich fragte mich, was mit diesen 200 000 Menschen werden soll. Dort waren rund 7 000 Peschmerga gewesen. Hätten sie nicht dasselbe leisten können, was die sieben HPG-KämpferInnen auf dem Şengal-Berg leisteten? Sie haben es einfach nicht gemacht. Sie sagten, es habe den Befehl zum Rückzug gegeben und sie hätten ihn ausführen müssen. Aber mit einer solchen Antwort kann man sich nicht zufriedengeben. Was ist mit ihrer Menschlichkeit? Mit ihrem Gewissen? Wie kann man 200 000 Menschen ohne irgendetwas einfach so sich selbst überlassen? Uns erreichten jeden Tag neue Todesmeldungen. Das hat uns sehr mitgenommen. So gut wie jede Familie hatte Tote zu beklagen. Aber wir versuchten uns dennoch selbst Mut zu machen. Wir wissen, dass es keinen anderen Ausweg gibt, als Widerstand zu leisten. Und ich will mich als Journalist nicht von den Menschen abheben, die vor Ort Widerstand leisten. Mit welchem Recht auch. Ich habe zehn Monate lang mit ihnen gearbeitet, habe mit ihnen Reportagen und Programme für den Fernsehsender ÇIRA TV gemacht. Und jetzt will ich nicht im vergleichsweise sicheren Rojava sitzen, während sie weiter vor Ort sind.

Als Du im Fernsehen per Liveschaltung über die Situation berichtet hast, merkte man, dass das Ganze nicht so einfach für Dich war. Kannst Du uns ein wenig beschreiben, was Du fühltest, als Du die Außenwelt über die Situation auf dem Şengal-Berg informiert hast?
Als während einer Übertragung die Moderatorin nach der Situation der Kinder fragte, musste ich einfach weinen. Ich versuchte mich zu beruhigen und berichtete von ihrer Lage. Den Zustand der Kinder und der alten Menschen zu sehen, war einfach nicht zu ertragen. Und dann das Leid der Mütter. Wenn wir Aufnahmen machten, war es oft so, dass sie vor der Kamera weinten und ich hinter der Kamera. Manchmal, als sie mich weinen sahen, versuchten sie sich selbst zu beruhigen und trösteten mich. Am schlimmsten waren die ersten Tage. Als ich mit IMC TV verbunden war, konnte ich kaum sprechen. Ich sagte, dass dies ein riesiger Verrat der Peschmerga an uns war. Sie hatten die Menschen noch nicht einmal informiert, dass sie den Ort verlassen würden. Sie hätten zumindest sagen können: »Wir haben Befehl, den Ort zu verlassen. Geht Ihr auch.« Dann hätten die Menschen fliehen können, solange die Fluchtwege noch sicher waren. Aber sie haben einfach 450 000 Menschen sich selbst überlassen. Wie können sie das mit sich vereinbaren? Und dann berichten Zeitungen und Sender wie Rûdaw, die Peschmerga würde dort kämpfen. Wie können sie so lügen? Diese Medien haben sich und uns genauso verkauft wie die Peschmerga.