Die Menschen lernen, sich selbst zu bestimmenInterview mit dem PYD-Kovorsitzenden Salih Muslim

Die Menschen lernen, sich selbst zu bestimmen

Das Gespräch führte Can Çiçek für den Kurdistan Report

Die Tagesordnung wird von den Angriffen in Südkurdistan und Rojava bestimmt. Wie bewerten Sie die aktuellen Ereignisse?

Die Angriffe sind auf einen vor längerer Zeit entwickelten Plan zurückzuführen. Demnach sollten Gruppen wie der Islamische Staat (IS) für bestimmte Zwecke instrumentalisiert werden. Man wollte im ersten Schritt Rojava (Westkurdistan/Nordsyrien) entvölkern. Die Flucht der kurdischen Bevölkerung aus Rojava in die westlich gelegene Autonome Region Kurdistan sollte forciert werden. Doch aufgrund des Widerstandes der Bevölkerung Rojavas, die sowohl Angriffe des syrischen Regimes als auch anderer Kräfte wie der Al-Nusra-Front abwehren konnte, war dieser Plan nicht zu realisieren. In der letzten Zeit haben sich die Attacken auf den Kanton Kobanê (Ain al-Arab) konzentriert. Bei Kobanê handelt es sich um einen kleinen Kanton, der von den anderen kurdischen Gebieten auf dem syrischen Staatsterritorium separiert liegt. Aufgrund der Grenzschließung der Türkei war er über lange Zeit einem absoluten Embargo ausgesetzt. Dennoch konnten auch dort die Angriffe des IS erfolgreich abgewehrt werden. Daraufhin verlagerte sich ihr Fokus auf Heseke (Al-Hasaka). Nachdem auch dort die Offensiven nicht zum Ziel geführt hatten, erkannte man, dass der erste Schritt des Plans nicht in dieser Weise vollzogen werden kann.

Infolgedessen wendete man sich der Entvölkerung Şengals (Sindschar) zu und dem Gebiet um Mûsil (Mossul) und Kerkûk. Dafür wurde erneut der IS instrumentalisiert. Der versucht durch unmenschliche Gräueltaten Angst und Schrecken in der Region zu verbreiten, um die kurdische Bevölkerung zur Flucht zu bewegen.

Wir reden über den Islamischen Staat. Doch um wen handelt es sich dabei eigentlich? Welche Kräfte verbergen sich dahinter?

Beim Kern des IS handelt es sich um denselben wie bei Al-Qaida. Der stammt aus den 1980er Jahren. Von der NATO geschaffen und für ihre eigenen Zwecke instrumentalisiert. Von diesen Schwesterorganisationen wird auch heute noch an vielen Orten, wie in Afghanistan, Pakistan, Tschetschenien oder auch in Afrika, Gebrauch gemacht. Ebenso wie im Mittleren Osten, allen voran Syrien und nun auch in Mûsil. Beim IS handelt es sich um keine homogene Organisation. Alle möglichen Leute sind dabei. Er wird von den jeweiligen Kräften auf eine spezifische Weise instrumentalisiert. Besonders die NATO ist dabei aktiv, allerdings bedienen sich auch einige regionale Kräfte des IS.

Bei wem handelt es sich um die regionalen Kräfte? Können Sie uns ein Beispiel geben?

Beispielsweise gehört das syrische Regime dazu.

Nach dem Einfall des IS in Mûsil erklärten die Volksverteidigungseinheiten YPG, sie würden mit den südkurdischen Peschmerga gemeinsam das Volk in Südkurdistan beschützen. Wie sah die Antwort der Peschmerga aus?

Zunächst möchte ich sagen, dass die YPG ursprünglich zum Zwecke der Verteidigung Rojavas geschaffen wurden. Dabei stammen ihre Mitglieder aus allen vier Teilen Kurdistans; Frauen und Männer beteiligen sich in großer Zahl, darunter auch zahlreiche Nichtkurden. Die YPG begreifen sich mittlerweile als eine Verteidigungskraft sämtlicher Kurden und Bevölkerungsgruppen in der Region. Wir hatten zuvor auch schon erwähnt gehabt, dass Südkurdistan Gefahr drohe und die Möglichkeit eines IS-Angriffs auch dort bestehe. Nach deren Einfall in Mûsil teilten wir den dortigen Peschmergakräften mit, dass wir über jahrelange Erfahrung im Kampf gegen den IS verfügten und bereit seien, ihnen bei der Verteidigung zu helfen. Doch hat uns leider bis jetzt noch keine positive Antwort der südkurdischen Kräfte erreicht. Ganz im Gegenteil hieß es, dass sie auf keine Hilfeleistung angewiesen seien.

Volksverteidigungseinheiten YPG

Wobei die aktuellen Geschehnisse in Şengal ein anderes Bild zeigen.

Auf die Verteidigung Şengals haben wir großen Wert gelegt. Die Bevölkerung dort sollte organisiert werden, damit sie sich gegen Angriffe von außen besser hätte verteidigen können. Das war jedoch nicht möglich. Wäre die Bevölkerung dort organisiert gewesen, hätte auch keine Notwendigkeit zur Unterstützung durch die YPG bestanden. Doch weder die Bevölkerung noch die dortigen Peschmergaeinheiten wirken organisiert.

In diesem Zusammenhang würden wir Sie gern fragen, wie Sie die aktuelle Politik Mesud Barzanîs und seiner Demokratischen Partei Kurdistans (PDK) bewerten? Wie ist deren Haltung gegenüber Rojava zu verstehen?

Natürlich gibt es dazu diverse Meinungen. Als wir nach den IS-Angriffen auf Rojava und Mûsil vor ihnen gewarnt hatten, erklärten verschiedene Vertreter der PDK wie der Regionalregierung Kurdistan (KRG), dass es sich beim IS nicht um einen Feind des kurdischen Volkes handele, obwohl deren Vorgehen und Mentalität ihnen hätte bewusst sein müssen. Wie sich herausgestellt hat, war ihre Einschätzung falsch. Es kann nicht behauptet werden, über den IS nicht Bescheid gewusst zu haben. Sicherheitsmaßnahmen hätten getroffen werden müssen.

Obwohl die meisten Parteien, die der KRG angehören, ihre Unterstützung für das neugegründete Selbstverwaltungssystem in Rojava erklärt hatten, wird von der KRG das Kantonalsystem immer noch nicht offiziell anerkannt. Das wirkt paradox.

Natürlich ist das paradox. Es hat mit der PDK-S, dem Ableger der südkurdischen Partei in Rojava zu tun. Sie hegt Machtansprüche. Ohne jedoch irgendwelche Arbeit zu leisten oder auf entsprechende Unterstützung in der Bevölkerung zurückgreifen zu können. Ebenso weigert sie sich, am neu gegründeten selbstverwalteten Kantonalsystem zu partizipieren. Obwohl dessen Gründung gemeinsam im Kurdischen Hohen Rat (DBK) entschieden wurde. Weiteren Beschlüssen des Hohen Rates gemäß haben wir Abkommen mit den verschiedenen Volksgruppen in der Region getroffen und einen neuen Gesellschaftsvertrag abgeschlossen. Dementsprechend ist es uns auch nicht möglich, diese unterschriebenen Verträge mit Vertretern der assyrischen und arabischen Bevölkerung in Rojava aufzukündigen. Falls die betreffende Partei gewisse Ansprüche postulieren sollte, steht es ihr offen, sich am geschaffenen System zu beteiligen. Dabei fungieren die jeweiligen Kantonalregierungen als Ansprechpartner.

Wie steht es um die aktuellen Beziehungen der PYD zu den anderen kurdischen und oppositionellen Parteien in Syrien? Werden weiterhin Gespräche mit deren Vertretern geführt? Wie sieht Ihre Herangehensweise aus?

Die Partei der Demokratischen Union (PYD) steht mit sämtlichen kurdischen Parteien wie auch mit nahezu sämtlichen Teilen der syrischen Opposition im Dialog. Dabei werden oftmals Forderungen an uns gestellt, denen wir nicht nachgehen können, weil es sich dabei um Angelegenheiten der Kantonalregierungen handelt. Als Kovorsitzender der PYD kann ich nicht in deren Namen sprechen und verweise daher immer an sie.

Nach dem Ausrufen der Autonomie sind nun etwa acht Monate vergangen. Können Sie kurz die Entwicklungen seitdem resümieren? In welchen Bereichen tauchen die meisten Schwierigkeiten auf?

Der Aufbau eines Systems reduziert sich natürlich nicht nur auf seine Bekanntgabe. Es gilt, in vielen Bereichen Institutionen zu bilden. Es bedarf einer breiten Bildung, damit ein entsprechendes Bewusstsein geschaffen werden kann. Infolgedessen ist es selbstverständlich, dass sich an manchen Punkten Mängel zeigen können. Daher kann kurz gesagt werden, dass die größten Schwierigkeiten in der Transformation der gesellschaftlichen Denkweise liegen. Die Menschen haben bisher nur in Diktaturen gelebt. Nun lernen sie, sich selbst zu bestimmen.

Nach der Deklaration des selbstverwalteten Kantonalsystems wurden Wahlen für die nahe Zukunft angekündigt. Nun scheint es aufgrund der derzeitigen Sicherheitslage nicht möglich zu sein, Wahlen abzuhalten. Können Sie uns trotzdem sagen, wann es in etwa dazu kommen könnte?

Es handelte sich dabei um eine der Entscheidungen des Kurdischen Hohen Rates, schnellstmöglich Wahlen durchzuführen. Doch ist in diesem Fall der Wahlausschuss der Kantone zu fragen. Entsprechende Wahlgesetze haben in den Volksräten ihre Zustimmung erhalten. Da sich das System Rojavas von anderen unterscheidet, verfügt die dortige demokratische Autonomie auch über ein differenziertes Wahlsystem. Es besteht nicht die Notwendigkeit, die Wahlen überall zur selben Zeit stattfinden zu lassen. Wenn es nicht möglich sein sollte, kann jeder Kanton für sich einen Wahltag bestimmen. Auch innerhalb des Kantons kann nur in den Teilen gewählt werden, in denen es aktuell möglich ist. Ich vermute, dass die Wahlen in nächster Zeit stattfinden werden, aber wie gesagt, der Wahlausschuss hat dabei die Entscheidung zu treffen.

Sicherlich stellen sich viele die Frage, ob Salih Muslim kandidieren wird.

Unsere Partei hat zu entscheiden, wen sie als Kandidaten für die Wahl aufstellt. Für mich wäre es eine große Ehre, kandidieren zu können. Ich bin bestrebt, der Bevölkerung von Rojava und Syrien zu dienen, daher bin ich zu jeder Aufgabe bereit, die mir gestellt wird.

In den letzten drei Jahren kam es in Europa, Russland, dem Mittleren Osten und auch in anderen Teilen der Welt zu zahlreichen Gesprächen mit Regierungsvertretern, diversen politischen Parteien, Vertretern zivilgesellschaftlicher Organisationen und vielen anderen. Können Sie kurz die Resultate dieses diplomatischen Verkehrs schildern?

Bis jetzt hat sich nichts Konkretes ergeben. Die Menschen kennen die Kurden nicht. Im Bewusstsein der westlichen Gesellschaft waren zwei Bilder von Kurden präsent. Das eine zeigte den Kurden, der lange Leid und Folter zu ertragen gehabt hatte, nun aber über Rohstoffressourcen und eine eigene autonome Administration verfügt. Auf der anderen Seite das Bild des Kurden als Terrorist in den Bergen. Also waren wir damit beschäftigt, die Menschen davon zu überzeugen, dass es sich bei uns weder um die Kurden mit einem großen Ölreservoir noch um irgendwelche Terroristen handelt. Speziell nach den seit Jahren pausenlos von IS und anderen durchgeführten barbarischen Angriffen auf die Bevölkerung Rojavas hat sich das Kurdenbild gewisser Kreise verändert. Mittlerweile wird über die Forderungen und Bedürfnisse der Bevölkerung Rojavas diskutiert. Wir haben nach außen deren Kampf, ihre politischen Ziele und Bestrebungen erklären können.

Hilfe für die Flüchtlinge

Haben Sie Forderungen wie nach humanitärer Hilfe gestellt bzw. erhalten?

Damit wir humanitäre Hilfe erhalten können, bedarf es zunächst der Anerkennung. Doch weder das Regime noch das Weltsystem wollte uns anerkennen. Mittlerweile hat der UN-Sicherheitsrat dazu neue Entscheidungen gefällt. Nun werden wir als Ansprechpartner anerkannt. Wenige Hilfe wird geleistet. Dabei ist sie natürlich nicht ausreichend.

Die Nachrichten berichten immer wieder darüber, dass die Grenzen zu Rojava allseits geschlossen seien und deshalb selbst humanitäre Hilfe nicht geliefert werden könne.

Bei einer der wichtigen Grenzstationen zu Rojava handelt es sich um die von Til Koçer (Al-Yarubiyah). Die wird jedoch gerade von den IS-Terroristen angegriffen. Eine Grenzstation ist bei Nisêbîn (Nusaybin), die unterliegt der Kontrolle des Regimes. Der Grenzübergang von Girê Spî (Tall Abyad; türk. Seite: Kaniya Xezalan/Akçakale) steht ebenfalls unter der Kontrolle von Dschihadisten, wie die meisten Grenzübergänge von Terroristen kontrolliert werden. Der einzige Grenzpunkt, der auf beiden Seiten auf eine kurdische Administration zurückgreifen kann, ist der von Sêmalka (Faysh Khabur). Allerdings ist die Öffnung oder Schließung dieser Grenze von der Lust und Laune der südkurdischen Regierungsbehörden abhängig. Hier besteht auch keine Gefahr durch Angriffe irgendwelcher Islamisten.