Neuer Schritt des ZapatismusNeuer Schritt des Zapatismus

Auf Augenhöhe

Nadine und Hannah

Mit dem kürzesten Kommuniqué und gleichzeitig der größten Mobilisierung seit dem Aufstand am 1. Januar 1994 drangen die Zapatistas am 21. Dezember 2012 mit 40 000 Basisaktivist*innen friedlich in fünf chiapa­nekische Städte ein und gelangten dadurch wieder an das Licht der Öffentlichkeit. Nachdem es in den Massenmedien ruhig um die zapatistische Bewegung geworden war, demonstrierten sie an diesem Tag ihre Stärke und Organisation, in völliger Stille, mit erhobenen Fäusten und den Blick nach unten gewandt.

Wie im Kommuniqué »prophezeit«, sollten die Welt und das Wort der rebellischen Indígenas und der EZLN[1] wiederkehren. Während die Zapatistas in den vorherigen Jahren verstärkt – aber für den Blick der Öffentlichkeit unauffällig – an den internen Strukturen gearbeitet hatten, wurde mit dieser Ankündigung eine neue Etappe ihres Widerstandes und ein Strategiewechsel eingeleitet. Mit der Veröffentlichung zahlreicher Kommuniqués Anfang 2013 definierten sie klar ihren politischen Standpunkt, ihre Distanz zur mexikanischen politischen Klasse und den Regierungen und gaben gleichzeitig die folgenden Handlungsschritte bekannt, die in der Stärkung des Kontakts zu und der Kommunikation mit dem Nationalen Indigenen Kongress (CNI) und den Anhänger*innen der Sexta[2] bestehen.

Die Escuelita Zapatista – Freiheit nach den Zapatistas

Die Ankündigung der Öffnung der Basisstrukturen durch die Escuelita Zapatista (die Kleine Zapatistische Schule) manifestierte den Beginn einer neuen Phase. Das Schweigen der letzten Jahre sollte nicht nur in den Medien, sondern auch in den Köpfen derer gebrochen werden, die sich mit der zapatistischen Bewegung solidarisieren, um einen gemeinsam geführten Prozess anzustoßen. Hierzu lud die Bewegung im ersten Durchlauf der Escuelita unter dem Motto »Die Freiheit nach den Zapatistas« im August 2013 über 1500 Menschen aus Mexiko und der ganzen Welt in ihre fünf autonom verwalteten Gebiete im lakandonischen Urwald in Chiapas ein.

Im Rahmen des Unterrichts erlebten die Teilnehmer*innen der Escuelita in den zapatistischen Gemeinden den alltäglichen Widerstand und lernten die Organisationsstrukturen der Bewegung kennen. Die Intention der Zapatistas ist es dabei, die Erfahrungen der letzten dreißig Jahre und ihr basisdemokratisches Gesellschaftsmodell der gelebten Autonomie mit Aktivist*innen zu teilen. Die Escuelita soll den politischen Austausch fördern und die Teilnehmer*innen dazu ermutigen, in der eigenen Geografie und im eigenen Kontext die jeweiligen Kämpfe voranzutreiben. Hierzu öffneten tausende Familien ihre Türen und ließen die Schüler*innen an ihrem Leben teilhaben.

Das Leben in einer zapatistischen Familie stellt die Grundlage der Escuelita dar, wobei der Unterricht in einen praktischen Teil, der das Zusammenleben mit einer zapatistischen Gemeinschaft umfasst, und einen theoretischen Teil gegliedert ist. Für den theoretischen Unterricht wurden Lehrbücher zu den Themen »Autonome Regierung«, »Teilnahme der Frauen an der autonomen Regierung« und »Widerstand« vorbereitet, in denen die Organisationsstrukturen erklärt und die Prozesse der letzten zwanzig Jahre selbstkritisch beleuchtet werden. Während der gesamten Unterrichtseinheit von fünf Tagen wird jede*r Schüler*in von einer zu Beginn zugeteilten Bezugsperson, genannt »guardian*a« (Wächter*in), begleitet. Diese Person ist selbst Teil der Basis und begleitet ihren Schützling Tag und Nacht, beantwortet Fragen und übersetzt. Im täglichen Leben in den Gemeinden lernen die Teilnehmer*innen die Selbstverwaltungsstrukturen der Zapatistas kennen, indem sie sich an den kollektiven landwirtschaftlichen Arbeiten beteiligen und dazu eingeladen werden, an Versammlungen der zapatistischen Gemeinschaft teilzunehmen. Der theoretische Unterricht findet meist im Kreise der Familie statt, in dem gemeinsam die Texte gelesen werden und den Schüler*innen die Möglichkeit gegeben wird, ihre Fragen zu stellen.

Zwanzig Jahre zapatistischer Aufstand

Anlässlich des zwanzigsten Jahrestages des zapatistischen Aufstandes, bei dem tausende Zapatistas am 1. Januar 1994 unter dem Motto »Ya basta! Es reicht!« durch die Besetzung von fünf chiapanekischen Städten mit ihren Forderungen nach Land und Freiheit an die Öffentlichkeit getreten waren, fanden im Dezember 2013 und im Januar 2014 der zweite und dritte Durchgang der Escuelita statt. In diesen beiden Durchgängen erweiterten die Zapatistas den Umfang der Schule und ermöglichten es durch eine logistische Meisterleistung jeweils 2250 Menschen, an dem Unterricht in den zapatistischen Gemeinden teilzunehmen. Neben der fünftägigen Unterrichtseinheit konnten die Schüler*innen zum Jahreswechsel in den Caracols[3] der fünf autonomen Verwaltungsgebiete bleiben, um dort mit den Zapatistas ihren zwanzigjährigen Widerstand zu feiern.

Das Wort der EZLN und die Auswertung der Escuelita

In dem zu Beginn diesen Jahres veröffentlichten Artikel »Die Bewertung der Zapatistas der Escuelita« in der zapatistischen Zeitschrift »Rebeldía Zapatista« (dt.: Zapatistischer Widerstand) reflektieren Familien, Begleitpersonen und Lehrer*innen ihre Erfahrungen, die sie während der Escuelita gemacht haben. Sie wird als Erfolg und als ein wichtiger Schritt für die Weiterentwicklung der Bewegung bewertet. Als eine Art Medium ermöglichte die Escuelita den Zapatistas, mit Menschen aus der ganzen Welt zu kommunizieren, ihre Worte zu verbreiten und ihre Erfahrungen zu teilen. Die Zapatistas wertschätzen in ihrem Rückblick die Disziplin, das Interesse und die Bereitschaft des Zuhörens vieler Teilnehmer*innen, merken aber auch an, dass der gegenseitige Lernprozess teilweise durch die Erwartungshaltung einiger Schüler*innen erschwert wurde.

Aufstandsbekämpfung & Eskalation der Gewalt

Während die Zapatistas bemüht sind, ihre autonomen Strukturen auf- und auszubauen sowie ihre Erfahrungen dieser Prozesse mit anderen von unten zu teilen und sich auszutauschen, sind sie verstärkt Repressionen – als Teil der Strategie des »Krieges niedriger Intensität« – ausgesetzt.

Mit dieser Strategie der verdeckten Aufstandsbekämpfung, die von staatlichen Institutionen und den Regierungen ausgeht, sollen Widerstände und oppositionelle Strukturen, nicht nur die der Zapatistas, geschwächt und schließlich vernichtet werden.

Ein Mittel ist die Anbindung von Teilen der Bevölkerung, Gemeinden und Organisationen an politische Parteien, die Bildung und Ausbildung paramilitärischer Gruppierungen sowie selektive Sozialmaßnahmen, die Abhängigkeiten schaffen und Bewohner*innen einer Gemeinde gegeneinander aufhetzen und ausspielen.

Exemplarisch für solch konstruierte gemeindeinterne Konflikte ist der aktuelle Fall von La Realidad, einer zapatistischen Gemeinde und Sitz des Caracols »La Realidad« (dt.: Die Realität) im autonomen Landkreis San Pedro Michoacán (offizieller Landkreis Las Margaritas).

Am 2. Mai 2014 kam es zu einem Angriff auf La Realidad, bei dem der zapatistische Basisaktivist José Luis Solís López, genannt »Galeano«, von Mitgliedern der Organisation CIOAC-Historica (Historische Unabhängige Gewerkschaft der Agrararbeiter und Bauern) umgebracht wurde.

Dieser Angriff war nur der Gipfel einer ganzen Reihe von Aggressionen, denen die zapatistischen Gemeinden durch paramilitärisch agierende Gruppen wie die der CIOAC-H seit langem ausgesetzt sind.

Vorwand für den aktuellen Konflikt ist die Nutzung von Schotter, vor allem als Baustoff, der laut einer getroffenen Vereinbarung Gemeingut ist und dementsprechend von allen Gemeindebewohner*innen für allgemeine Zwecke benutzt werden kann.

Als die Zapatistas solchen Schotter Mitte März zum Ausbau einer autonomen Klinik transportierten, wurden sie von Mitgliedern der CIAOC-H aufgehalten und ein Kleintransporter des Caracols, der Medikamente transportierte, wurde beschlagnahmt.

Als am 2. Mai eine Delegation der CIOAC-H mit dem Rat der Guten Regierung (autonome Regierung) des Caracols über die Rückgabe des entwendeten Fahrzeuges verhandelte, fand der Angriff statt. Vorwand war die angebliche Entführung der Vertreter*innen der CIOAC-H, die selbst aber öffentlich abstritten, zu irgendeinem Zeitpunkt dort festgehalten worden zu sein.

Die Angreifer*innen zerstörten die autonome Klinik sowie zwei Säle der autonomen Schule und kappten die Wasserversorgung. Die Zapatistas aus La Realidad wehrten sich. Während dieser Auseinandersetzung wurde Galeano umzingelt, geschlagen, mit der Machete verletzt und schließlich durch mehrere Schüsse getötet. Fünfzehn weitere Zapatistas wurden zum Teil schwer verletzt.

Laut Angaben des Menschenrechtszentrums FrayBa, das auch bei den Verhandlungen im Caracol vermittelte, gehören zu dieser antizapatistischen Organisation Mitglieder der rechtskonservativen Partei der Nationalen Aktion (PAN) und der Grünen Partei Mexikos (PVEM).

Gedenkfeier in La Realidad und letztes Kommuniqué von Subcomandante Marcos

Nach diesem Angriff, der erstmalig auf ein zapatistisches Caracol stattfand, wurden weltweit Aktionen in Solidarität abgehalten und eine Solidaritätskarawane nach La Realidad organisiert.

Am 23. Mai brachen ca. 1000 Anhänger*innen der Sexta, Schüler*innen der Escuelita, Organisationen, Kollektive, freie Medien und Einzelpersonen zum Caracol auf, um solidarisch ihren Beistand auszudrücken. Galeano war Mitglied des Rates der Guten Regierung von La Realidad und Lehrer der Escuelita gewesen.

Neben mehr als 2200 Zapatistas aus den fünf Caracols waren auch die Comandancia (Generalkommandantur der EZLN), Subcomandante Moisés und Subcomandante Marcos anwesend. In seiner Rede informierte Subcomandante Moisés über die Fortschritte der Untersuchungen zum Angriff auf das Caracol und zur Ermordung von Galeano, welche die Comandancia übernommen hatte. Er verurteilte die feige Tat, für die er die chiapanekische Regierung bzw. eine Allianz der drei Parteien PVEM, PRI (Partei der Institutionellen Revolution) und PAN verantwortlich machte.

Auch Subcomandante Marcos meldete sich in den frühen Morgenstunden des 25. Mai 2014 zu Wort und verkündete, dass von nun an durch seine Stimme nicht mehr die Stimme der EZLN spricht, dass Marcos von nun an nicht mehr existiert, da es für die Rebellion der Zapatistas keine charismatischen Anführer*innen oder Chef*innen mehr braucht und dass eine*r von ihnen sterben muss, damit Galeano lebt.

Er definierte die Figur Marcos als einen Hanswurst, ein Karnevalskostüm, das zu Beginn des Aufstandes als Konsequenz auf die Reaktionen der Massenmedien erschaffen wurde, die in ihm den »Anführer« der Bewegung suchten:

» … da merkten wir in den Straßen der Stadt, dass die von draußen uns nicht sahen.

Gewohnt, die Indigenen von oben herab zu betrachten, erhoben sie den Blick nicht, um uns anzuschauen. Gewohnt, uns geduckt zu sehen, verstand ihr Herz unsere würdige Rebellion nicht.

Ihr Blick blieb auf dem einzigen Mestizen, der eine Gesichtsmaske trug, hängen, das heißt, sie schauten nicht. Unsere Chefs und Chefinnen sagten daher: ‚Sie sehen nur, wie klein sie sind, machen wir jemand so klein wie sie, dann werden sie den sehen, und durch diesen dann uns.‘

Und so begann ein kompliziertes Ablenkungsmanöver, ein riesiger und wunderbarer Zaubertrick, ein listiges Spiel des indigenen Herzens, welches wir sind. Die indigene Weisheit forderte die Modernität in einer ihrer eigenen Bastionen heraus: den Kommunikationsmedien.

Und da begann dann die Konstruktion einer Figur, die ›Marcos‹ heißt.«

Diese Figur diente dazu, die Massenmedien, die sich lieber dem Personenkult statt dem Wesentlichen widmen, abzulenken, während die Zapatistas jene suchten, die ihnen auf Augenhöhe zuhörten und mit denen sie auf Augenhöhe kommunizieren und den gemeinsamen Weg des Widerstandes gehen konnten.

Da nun mit der Escuelita eine neue Etappe des zapatistischen Kampfes erreicht ist, die auf dem direkten Kontakt und Austausch der Zapatistas mit der sogenannten Zivilgesellschaft auf Augenhöhe basiert, ist die Figur des Marcos als Bindeglied überflüssig geworden.

Im Sinne der internen Veränderungen innerhalb der EZLN während der letzten zwanzig Jahre, in denen eine neue Generation von Kämpfer*innen herangewachsen, das »gehorchende Befehlen« an die Stelle der revolutionären Avantgarde getreten ist und schließlich auch eine rein indigene, bäuerliche Leitung die anfänglich städtisch-mestizische Führung ersetzt hat, folgte auch die Ablösung des Subcomandante Marcos durch Subcomandante Moisés als Sprecher.

»Ein ums andere Mal planten wir, ein ums andere Mal warteten wir auf den richtigen Augenblick: den genauen Kalender und die exakte Geografie, um zu zeigen, was wir in Wirklichkeit sind, denen, die wahrhaftig sind. Und da kam Galeanos Tod, um uns Geografie und Kalender vorzuschreiben: hier in La Realidad; jetzt: im Schmerz und in der Wut.«

Um den Fokus endgültig von einer konstruierten Persönlichkeit zur wahren zapatistischen, indigenen Identität, vom Individuellen zum Kollektiven, und zu den Indigenen als Hauptakteur*innen dieser Organisation und des Kampfes zu lenken, wählten die Zapatistas die Gedenkfeier ihres getöteten Compañeros Galeano als Anlass, um der Öffentlichkeit ihre kollektive Entscheidung des Rückzugs ihres bekanntesten Vertreters bekannt zu geben.

»Wir glauben, dass es nötig ist, dass einer von uns stirbt, damit Galeano leben könne.

Und damit dieser Flegel, der Tod heißt, zufrieden ist, geben wir einen anderen Namen anstelle von Galeano her, damit Galeano leben könne und der Tod nicht ein Leben mitnimmt, sondern nur einen Namen, einige Buchstaben ohne jeglichen Sinn, ohne eigene Geschichte, ohne Leben. So haben wir entschieden, dass Marcos heute aufhört zu existieren.«

Nachdem Subcomandante Marcos in seinem letzten Postskriptum die Dunkelheit beklagt und ein Lichtlein verlangt hat, wird es still und eine Stimme, die die Stimme des Marcos war, ertönt aus dem Off und verkündet, dass sie Galeano heißt, Subcomandante Insurgente Galeano, und fragt, ob noch jemand so heißt.

Die stimmgewaltige Antwort lautet: »Wir alle sind Galeano!«

Und ein letztes Mal ist die Stimme zu hören:

»Ah, deshalb haben sie mir gesagt, wenn ich nochmals geboren würde, dann würde ich es im Kollektiv machen.«

La lucha sigue – der Kampf geht weiter

Der Angriff auf La Realidad hat nicht nur den Anlass zum offiziellen Rückzug von Marcos gegeben, sondern auch die Solidarität, die den Zapatistas entgegengebracht wird, sichtbar gemacht. Neben weltweiten Aktionen gegen die Aggressionen gegenüber den zapatistischen Gemeinden und der Organisierung der Solidaritätskarawane nach La Realidad wurde von den Zapatistas eine Spendenaktion initiiert, um den Wiederaufbau der durch den Angriff zerstörten Klinik und Schule finanzieren zu können. Mit Hilfe der Verbreitung der Kampagne durch freie Medien, Organisationen und Einzelpersonen konnte schon innerhalb weniger Wochen das Fünffache der benötigten Summe gesammelt werden.

Dies zeigt auch, dass die Idee der Escuelita, also das gegenseitige Kennenlernen und Verstehen sowie die Unterstützung und Stärkung im jeweiligen Kampf um Autonomie und ein würdiges Leben, aufgegangen ist.

Neben der Fortführung des eigenen Autonomieprozesses und trotz Repressionen und Zerstörungen initiieren die Zapatistas Zusammenkünfte wie mit dem Nationalen Indigenen Kongress, der vom 4. bis 8. August 2014 in La Realidad stattfand, um die Beziehungen zwischen den indigenen Völkern zu stärken, ihre Erfahrungen und Kämpfe kennenzulernen und gemeinsam eine Welt, in die viele Welten passen, zu erschaffen.


[1])EZLN – Ejercito Zapatista de Liberación Nacional (dt.: Zapatistische Armee der Nationalen Befreiung).

[2])Sexta – sechste Erklärung aus dem lakandonischen Urwald; hierbei handelt es sich um eine langfristige pazifistische Mobilisierung, zu der die EZLN 2005 aufgerufen hatte, um eine antikapitalistische und basisdemokratische Gesellschaft aufzubauen.

[3])Caracol – zapatistische autonome Verwaltungseinheit und Sitz des Rates der Guten Regierung