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Frauen gegen IS | Foto: Rojbin Meclîsa JinênWie ist der IS zu verstehen?

IS, das Resultat des Zerfalls des arabischen Aufstands?

Foti Benlisoy

Ausgehend von zwei unterschiedlichen Ansätzen lässt sich die Frage nach der Entstehung und Entwicklung des »Islamischen Staates« IS auch verschieden beantworten. Internationale geostrategische Uneinigkeit und Spannungen werden dabei in letzter Zeit als ein entscheidender Faktor anerkannt. In dieser auch als »Frankenstein-Modell« zu bezeichnenden Antwort gelten die imperialistischen und regionalen Kräfte als tatsächliche Urheber der Entstehung und Ausbreitung des IS, die diesen indirekt und/oder direkt hervorgebracht haben und jetzt davon sprechen, dieser Barbaren nicht Herr zu werden. Demnach ist der IS ein Akteur, der die Agenda der für seine Entstehung verantwortlichen Kräfte direkt oder indirekt auf dem »Feld« ausführt und dabei zeitweise außer Kontrolle gerät.

 

Die starken Kräfte hinter dem IS

In der Atmosphäre des allgemeinen und berechtigten Staunens über den rasanten und gewaltigen Aufstieg des IS sind die Bemühungen zur Aufdeckung der hinter ihm stehenden starken Kräfte nachvollziehbar. Das zeigen die Erklärungen Bidens, der Saudi-Arabien, Katar und regionale Mächte wie die Türkei für das Erstarken des IS wenn nicht direkt, so doch indirekt verantwortlich macht. In der Türkei betonen vor allem die gesellschaftlichen Oppositionskräfte die enorme Verantwortung der Syrien-Politik der AKP-Regierung dafür. In diesem Zusammenhang sind die Bemühungen zur Offenlegung der Beziehungen zwischen IS und türkischem Staat selbstverständlich rechtens und bedeutsam.

Ist der IS lediglich eine Marionette?

Diese Erklärung ist im Hinblick auf die Entwicklungs- und Ausbreitungsdynamik des IS zu simpel. Eine noch extremere, jedoch weit verbreitete Interpretation sieht den IS als eine Konspiration, einen operierenden Apparat der verschiedenen regionalen Kräfte. Ein Beispiel dafür ist seine Darstellung als Werk der USA oder Subunternehmen der Türkei und damit seine Simplifizierung. Selbstverständlich müssen die Verantwortung der USA oder der Türkei für die Entwicklung des IS und die zunehmende konfessionelle Gewalt in der Region diskutiert werden. Das darf jedoch nicht dazu führen, dass er zu einer Marionette der USA oder der Türkei herabgestuft wird bzw. zu einer Intrige, deren Resultat leicht wieder rückgängig gemacht werden könne. Auf der anderen Seite hat diese Sichtweise trotz der Gefahr möglicher Schwächen und der Konversion zu einer Art »Komplott« auch ernsthafte Vorteile.

Syrien und Irak: ein neues Konfliktgebiet

Sowohl der Irak als auch Syrien haben sich zu einem Gebiet entwickelt, das sämtliche Konflikte und Auseinandersetzungsprozesse beinhaltet. Über den Konflikt im Irak und vor allem in Syrien werden etliche Konfliktdynamiken neu geschaffen, angefangen mit der kleinen Version eines Kalten Krieges zwischen den USA und Russland sowie dem »regionalen« Kalten Krieg zwischen den Golfmonarchien und dem Iran. Von daher ist es nicht vergebens, hinter jeglicher Entwicklung in der Region, vor allem hinter dem Aufkommen einer furchtbaren Organisation wie dem IS, eine Reihe imperialistischer und regionaler Akteure zu suchen. Nehmen wir das Beispiel der Türkei. Es ist mittlerweile bekannt und wird offen diskutiert, dass die AKP-Regierung für ihre Interessen im Irak und in Syrien den IS toleriert, zulässt, dass er die Türkei als Versorgungs- und Rückzugsraum sowie Transitzone für den Kämpfernachschub nutzt, und seine Erdölgeschäfte duldet.

Die Partnerschaft zwischen Türkei und IS ist öffentlich

Die Türkei duldet den IS, verteilt gar »Streicheleinheiten«, um die Regierung in Bagdad und vor allem Rojava zu verärgern. In diesem Sinne ist die Rolle der Türkei bei der Expansion des IS offenkundig. Doch das bedeutet nicht, dass es sich bei diesem um ein Subunternehmen der Türkei handelt oder die Interessen und Ziele von IS und Türkei deckungsgleich sind. Die kaschierte punktuelle Gemeinsamkeit kann sich in anderem Zusammenhang und unter anderen Bedingungen rasch in Feindseligkeit verwandeln.

Das Ergebnis von Macht- und Herrschaftsverhältnissen

Um das Phänomen des Erstarkens des IS verstehen und erklären zu können, ist ein anderer Erklärungsansatz nötig. Den Rahmen dafür bildet die innergesellschaftliche Dynamik sowohl im Irak als auch in Syrien. Ausgehend von den Entwicklungen in diesen beiden Staaten müssen die Grundlagen für konfessionelle Gewalt und die sunnitische Rache, als deren Träger sich der IS vor allem im Irak sieht, in der Geschichte der letzten zehn Jahre gesucht werden. Dies ändert nichts an der Verantwortlichkeit von USA, Saudi-Arabien, Katar und Regionalmächten wie der Türkei (damit auch dem Iran) für das Erstarken des IS bzw. der konfessionellen Gewalt. Diese Verantwortung ist nicht allein das Ergebnis einer Ausnutzungspolitik. Es ist das Resultat noch komplexerer Macht- und Herrschaftsverhältnisse.

Für das Verständnis dessen, wie sich der IS entwickelt hat und ob er beständig ist, muss die historische Dynamik hinterfragt werden, die mindestens die letzten zehn Jahre in der Region geprägt hat. Zu analysieren sind die Interventionspolitik der Imperialisten, die den Irak in ein konfessionelles Schlachtfeld verwandelt haben, die regionalen Kräfte (vor allem die Türkei), die den konfessionellen Aspekt in den regionalen Konflikten stets missbraucht haben, autoritäre Regime, die die säkulare Opposition massiv unterdrückt und so der Vermischung von Religion und Politik den Weg geebnet haben, und die Politik der Zerstörung solidarischer Netzwerke, die einen gesellschaftlichen Zusammenhalt garantieren.

Das Ergebnis des Zerfalls des arabischen Aufstands

Betrachten wir die letzten Jahre, so ist – analog zum Beispiel des Faschismus – der IS das Resultat des Zerfalls des arabischen Aufstands, vor allem des allgemeinen Rückzugs und der Konversion des populären Aufstands in Syrien zu einem Krieg der Konfessionen. So wie der Faschismus eine Bewegung darstellt, welche »die antirevolutionäre Hoffnungslosigkeit der kleinen Bourgeoisie« in Bewegung brachte, so ist der IS als Organisation der antirevolutionären Mobilisierung der »Unteren« [A. d. Ü.: unteren Schichten] zu verstehen.

Die gesellschaftliche Unterstützung für den IS, die den militärischen Erfolg möglich macht, ist ein Ausdruck der Radikalisierung der Reaktionen in der ausgegrenzten sunnitischen Gesellschaft im Irak. Doch dies macht den IS (wie von AKP-Anhängern in der Türkei propagiert) nicht zu einem Vertreter des »irakischen Frühlings« (als Fortsetzung der arabischen Aufstände). Der Aufstand, dem der IS angehört, ist ein Bestandteil der antirevolutionären Belagerung, welche die Hoffnungen auf Freiheit und Gleichberechtigung, die der sogenannte Arabische Frühling und die Volksbewegungen generiert haben, mit Füßen tritt. Unter Bedingungen, unter denen die revolutionär-demokratischen Kräfte nicht dominieren konnten, verstärken die sich aus dem Aufstand seit 2011 ergebenden politischen und sozialen Turbulenzen die konfessionell oder ethnisch konnotierte Gewalt und auf diese Weise auch die Hoffnungslosigkeit und Entfremdung. Von daher können wir die Mobilisierung gewisser Massen in Syrien und im Irak durch Organisationen wie den IS (und ähnliche Strukturen) nicht abkoppeln von den Bedingungen, die diese Hoffnungslosigkeit erzeugen.

Angriff auf Rojava ist kein Zufall

Von daher ist es kein Zufall, dass Rojava, das als Ausläufer der die Region erschütternden revolutionären Phase gesehen werden muss, dem IS gegenübersteht. Denn es ist offensichtlich, dass die Revolution die wahre Alternative zum IS darstellt, ebenso wie zum Faschismus.

Aus diesem Grund müssen zwei Parameter, nämlich zum einen kurzfristige geostrategische Interessen und Konflikte, zum anderen mittel- und langfristige soziale und historische Aspekte, gleichzeitig beachtet werden. Eine weitere Voraussetzung für den Kampf gegen den IS ist das Verständnis seiner mörderischen Logik und deren Dechiffrierung.Fotos belegen die Zusammenarbeit der Türkei mit dem IS | Foto: DIHA

Wer ist der IS und was ist seine Praxis?

Der populäre Ansatz, dem zufolge es sich beim IS um eine barbarische Bande bzw. einen verrückten Haufen handele, der sich eine Rückkehr in die Finsternis des Mittelalters wünsche, führt zur Bagatellisierung der Gefahr. Dabei ist der IS eine durchaus »moderne« und »rationale« Organisation, die ihre finanziellen Ressourcen mit allen Methoden einer modernen Mafia geschickt ausschöpft, wirksame Kampagnen in den sozialen Medien führt und ihre militärische Strategie offen diskutiert. Wenn Nazis ähnliche Adjektive verdienen, so sollte klar sein, dass »modern« und »rational« in dieser Situation keine Komplimente darstellen.

Der IS terrorisiert die Bewohner der von ihm kontrollierten Gebiete; das ist uns allen bekannt. Gleichzeitig ruft er zum Kalifat auf, was utopisch ist, und findet, auch wenn wir es nicht ernst nehmen, einen gewissen Zuspruch. Im populären politischen Vorstellungsvermögen oder in der politisch-sozialen Phantasiewelt kann es Widerhall finden. Vor allem in Ländern wie dem Irak und Syrien, wo die Normen, Institutionen und Beziehungen zerstört sind, führt das zu einem kollektiven Despotismus.

Was ist die Besonderheit?

Um die Strategie des IS zu verstehen, muss, wenn auch nur kurz, auf seine Besonderheiten innerhalb der »dschihadistischen Bewegung« eingegangen werden. Bekanntlich ist der IS aus der Asche der von Abu Musab az-Zarqawi geführten irakischen Al-Qaida entstanden. Az-Zarqawi vertrat eigentlich eine autonome Position innerhalb Al-Qaidas. Auch wenn diese ihrer dschihadistischen Linie treu blieb, nach der die verschiedenen Regime auf islamischem Boden in unterschiedlichem Maße vom Islam abgewichen seien, so hatte sie diese Regime nicht unmittelbar zum Ziel, sondern verfolgte eine auf die USA ausgerichtete Strategie. Die Linie az-Zarqawis wich dabei teilweise von derjenigen der Zentrale ab und fokussierte sich auf die naheliegenden Ziele, die Regime Iraks und Syriens sowie des Iran. Diese Haltung bedeutete, dass »ketzerische« Äußerungen und Handlungen eine besondere Bedeutung für die Linie az-Zarqawis trugen. Gewalt gegen Gruppen und Personen, die von der Religion abgewichen und somit Gotteslästerer seien, ist ein gemeinsames Merkmal aller dschihadistischen Bewegungen. Die Besonderheiten az-Zarqawis führten dazu, dass seine Strömung gern als ketzerisch bezeichnet wird.

Zwischen diesen Bewegungen, die aus gleichen ideologischen und politischen Quellen hervorgegangen sind, bestehen Unterschiede in Akzentuierung, Timing und Stil. Wir sprechen hier nur von Nuancen. Denn die Luftangriffe der Allianz haben das Eis zwischen den »verfeindeten Brüdern« der »globalen dschihadistischen Bewegung« längst gebrochen. Die Deklaration des Kalifats hat den IS zum neuen Zentrum der »globalen dschihadistischen Bewegung« gemacht.

Die Türkei muss sich entscheiden

Lassen Sie uns versuchen zusammenzufassen: Wenn die AKP-Regierung nicht beschlossen hat, ihren Platz im internationalen System zu wechseln, wird sie zur Konfrontation mit dem IS gezwungen sein. Wenn sich das »Kalifat« dauerhaft etabliert, wird es die »konvertierte« Türkei ins Visier nehmen. Dann wird diese mit dem IS, mit dem sie gegen die Kurden in Rojava ein Bündnis eingegangen ist, auf jeden Fall einen »Bumerang-Effekt« erleben, wie wir ihn am Beispiel Pakistan/Taliban gesehen haben. Die Information über hunderte türkischstämmige Milizionäre im IS zeigt, dass die Organisation einen Bezug zur türkischen Gesellschaft hat und über das Potential verfügt, einen gewissen Teil von dieser einzubinden. Das sich daraus ergebende Bild ist furchtbar. Wir könnten auf lange Zeit zur »Nachbarschaft« mit dem IS gezwungen sein. Der IS hat viel reellere und beständigere Wurzeln, als eine Intrige oder ein konspiratives Manöver darzustellen. Es ist Selbsttäuschung, wenn wir die ökonomisch-sozialen Grundlagen der rasanten und erschütternden Entwicklung des IS nicht hinterfragen und wenn wir glauben, diese Situation mit einigen politischen Flüchen überbrücken zu können. Wie gesagt, das entstandene Bild ist furchtbar. Wir müssen den Mut haben, es genauer zu betrachten.


Foti Benlisoy: Absolvent der juristischen Fakultät der Universität Istanbul, Doktorarbeit an der historischen Fakultät der Universität Boğaziçi; zahlreiche Kolumnen und Texte u. a. in Birgün, Evrensel und Özgür Gündem; Bücher: »Die erste revolutionäre Welle des 21. Jahrhunderts« und »Der Gezi-Widerstand: ein ›interessanter‹ Beginn der Türkei«; weiterhin Editor im Verlag istos.