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Die kurdische Freiheitsbewegung in den 1980er Jahre | Foto: Özgür GündemDie PKK als gesellschaftliches System und der Mittlere Osten

Ferat Amed, Özgür Gündem, 06.10.2014

Es besteht kein Zweifel daran, dass die PKK als eine nationale Freiheitsbewegung auch alle Merkmale einer ideologischen Bewegung trägt. Die Kovorsitzende [des Exekutivrats] der KCK (Gemeinschaft der Gesellschaften Kurdistans), Bese Hozat, hatte diese Realität mit den Worten »die PKK ist ein gesellschaftliches System« ausgedrückt. Karl Marx definiert im Kommunistischen Manifest zu Recht: »Die moderne Staatsgewalt ist nur ein Ausschuss, der die gemeinschaftlichen Geschäfte der ganzen Bourgeoisklasse verwaltet.«; doch er sieht den eigentlichen Widerspruch zwischen der Bourgeoisie, die die Staatsmacht in ihren Händen hält, und dem Proletariat.

Er sah vor, dass die Bourgeoise für mehr Profit die gesamte Gesellschaft versklavt und dies letzten Endes zu einem Kampf zwischen der sich in Minderheit befindlichen Bourgeoise und der großen Mehrheit des Proletariats führt, bei dem das Proletariat die Staatsmacht übernimmt. Der Staatsapparat sollte im Laufe der Zeit absterben und die kommunistische Gesellschaft möglich werden. Diese falsche Lesart sieht die Übernahme der Staatsmacht durch das Proletariat als wesentlich an und ignoriert die Fähigkeit der Gesellschaft, sich außerstaatlich zu organisieren. Mit der Basis-Überbau-Theorie wurde die gesamte gesellschaftliche Struktur auf die Ökonomie reduziert und so die zur Gesellschaft gehörende Religion, Soziologie usw. vollständig negiert und ausgeschlossen. Der außerhalb der Gesellschaft befindliche und »über« ihr stehende Staatsapparat wurde normalisiert. Die leninistische Bewegung, die diesen Marxismus zur Grundlage nahm, hat ihren gesamten Widerstand auf dem Ziel der Übernahme des Staatsapparats aufgebaut. Die darauf basierende sozialistische Bewegung ist trotz großer Siege, die sie aufgrund der großen Suche der Gesellschaft nach einem System jenseits des Kapitalismus errungen hat, im Laufe der Zeit degeneriert. Der mit staatlicher Hand entwickelte Sozialismus hat nach einiger Zeit das gesellschaftlich Kommunale zerstört und wurde zum »Staats-Kapitalismus«. Die auf dem Papier zu findende Betonung auf dem »Sozialismus« hat ihren letzten Atemzug getan. Die von Millionen Revolutionären durch Aufopferung ihres Lebens geschaffenen Werte wurden im politischen Bereich verloren. Die PKK hat in den Jahren dieser Entwicklungen ihren Aufstieg erlebt. In diesen schweren Jahren der endgültigen Niederlage des Realsozialismus und der ohne Verzögerung erfolgten Proklamation des sicheren Sieges des Kapitalismus.

Die PKK, die ideologisch von den sozialistisch-nationalen Befreiungsbewegungen wie in Vietnam und Kuba inspiriert worden war, wurde mit dem Niedergang des Realsozialismus zu einem Paradigmenwechsel gezwungen. Doch dieses Paradigma ließ sich nicht nur auf das Nationale bzw. Lokale beschränken. Denn die gesamte Welt befand sich in einem Transformationsprozess und keines der damaligen Paradigmen reichte aus, um die Welt zu verändern, geschweige denn sie überhaupt zu kommentieren. So begannen die wesentlichen Arbeiten der PKK-Führung zur Überwindung des Realsozialismus. Zunächst wurde das Staatssystem hinterfragt und der Staat als etwas der Gesellschaft Fremdes identifiziert. Es wurde dargelegt, dass die Gesellschaft und das Potential der Gesellschaft zur außerstaatlichen Organisierung gestärkt werden müssten. Bei der Schaffung der Fähigkeit zur gesellschaftlichen Organisierung wurde die Bedeutung des Konflikts zwischen Frau und Mann entdeckt und in diesem Bereich wurden unzählige bedeutende Schritte getan. Die erste Frauenarmee und die erste Frauenpartei in der [kurdischen] Geschichte wurden so gegründet. Trotz der Realisierung des internationalen Komplotts im Jahr 1999 und der gleichzeitigen liquidatorischen Linie innerhalb der Partei setzte sich Öcalan verstärkt mit der Ideologie auseinander. Diese ideologische Vertiefung hat zur Entstehung eines neuen universellen Paradigmas geführt und wurde – zumindest teilweise – in die Praxis umgesetzt. Öcalans Aussage »mich selbst zu stärken bedeutet, diese Gesellschaft zu stärken« hat sich innerhalb der Freiheitsbewegung Kurdistans bestätigt.

Öcalan hat in seinen Anschauungen die Gesellschaftlichkeit und die soziale Realität der Gesellschaft zur Grundlage genommen. Der Erfolg einer Ideologie kann nach ihrer Vergesellschaftung bewertet werden. Für eine nichtstaatliche Organisierung der Gesellschaft braucht es ein neues gesellschaftliches Paradigma gegen die in der Gesellschaft vorherrschende soziale Realität der hierarchischen Zivilisation, die sich mit der Unfehlbarkeit des feindlichen Besatzers aufrechterhält. Dieses Paradigma stärkt die Kraft der Gesellschaft gegen den Staat und führt zu verschiedenen Transformationsprozesses. Denn eine Gesellschaft die über solch eine Ideologie verfügt, wird sich keinem anderen Lösungsweg annähern. Solch eine Gesellschaft wird nicht zögern alles zum Schutz der eigenen Werte zu opfern. Die anfangs getroffene Aussage, dass die PKK ein gesellschaftliches System ist, bestätigt sich in diesem Punkt. Sie hat sich mit ihrer Sprache, ihren Worten, Aktionen, ihrer Kunst und ihren sozialen Beziehungen vergesellschaftet. Die PKK hat in der Gesellschaft nicht nur eine politische, sondern auch eine kulturelle, soziale und ökonomische Führungsrolle inne. In allen Bereichen wird die Gesellschaft berührt und im ideologischen Rahmen transformiert. Diese Situation zwingt die herrschenden Kräfte, ihre Herangehensweise an die PKK und die politisierte Gesellschaft zu verändern. Die Bevölkerung organsiert sich im Rahmen der PKK und nimmt gegen die herrschenden Kräfte eine Position des zivilen Ungehorsams ein. Auf der anderen Seite agieren die realen politischen Mächte im Maße des jeweiligen Kräftegleichgewichts. Die Veränderung kommt nicht von oben oder aus staatlicher Hand, sondern aus dem Inneren der Gesellschaft selbst. Manchmal kann sich je nach den Machtverhältnissen diese gesellschaftliche Organisierung umkehren, einige Elemente können vereinnahmt werden, doch es ist nicht möglich, die PKK vollständig aus der Geschichte auszuradieren. Die Werte dieses gesellschaftlichen Systems haben das Potential, die Gesellschaft im Falle eines möglichen Autoritätsvakuums schnell nach dem eigenen politischen Programm zu transformieren.

Der türkische Staat, der die PKK bzw. die Gesellschaft und die realpolitische Situation bei seiner Lösungspolitik immer noch außen vor lässt und dafür alle möglichen schmutzigen Wege nutzt, gerät hier in eine lächerliche Lage. Ungeachtet des Kalibers seiner eigenen osmanischen Träume betrachtet er die Terrororganisation IS als »vorübergehende Erscheinung«.Als Ergebnis dieser Fehlinterpretation gedenkt er langfristig die Führung über diejenigen zu gewinnen, die heute dem Einfluss des IS unterliegen. So hält er es nicht für einen Fehler, den IS gegen Kräfte zu unterstützen, die er als [eigene] Rivalen im Raum des Mittleren Ostens sieht. Obwohl sich wie in Pakistan und Afghanistan hinreichend gezeigt hat, dass radikale Organisationen sich wie ein »Bumerang« umdrehen können, begrenzt die Kurdenfeindlichkeit des türkischen Staates seine Fähigkeit, aus der Praxis zu lernen. In der Vergangenheit hatten die internationalen Mächte zur Schaffung einer säkularen (oder gemäßigt islamischen) Opposition sogar der FSA (Freie Syrische Armee) mit Waffen/Logistik /Geld/Medienunterstützung geholfen. Obwohl sie es selbst nicht wirklich wahrhaben wollen, bringen sie die säkulare, pluralistisch strukturierte, militärisch-gesellschaftliche Kraft der PKK als starke Option auf die Tagesordnung. Bekanntlich ist es ein Grundsatz der PKK, auf der internationalen politischen Ebene Dialoge zu führen, sich aber keinerlei Kontrolle zu unterwerfen. An der Organisationsstruktur der PKK und deren Tiefe und Originalität lässt sich absehen, dass sie sich gegen schwere innere und äußere Angriffe in kürzester Zeit wieder regenerieren kann. Wenn diese einzigartigen Qualitäten den Westen auch schrecken, so wird sich langfristig zeigen, dass die PKK die Lösungskraft für die Region darstellt. Die Freiheitsbewegung Kurdistans kann die mit dem Widerstand von Kobanê aufgestandenen Massen in Nordkurdistan in eine starke politische Kampagne führen; gleichzeitig ist mit einem aktiven Vorstoß im diplomatischen Bereich der Sieg der PKK am Verhandlungstisch sicher.

[Der türkische Ministerpräsident] Davutoğlu behauptete, dass der IS keine Terrororganisation sei, sondern eine »wütende Gemeinschaft«. Terror wird definiert als »Verwendung aller möglicher Gewaltakte für die Erreichung eines (politischen) Ziels«. Also benutzen »Terrororganisationen« geplante Gewalt, die auf ein Ziel gerichtet ist. Bei einer wütenden Gemeinschaft lässt sich nicht von einem Ziel sprechen, folglich nicht von einem Plan/Programm, und aus diesem Grund wäre sie als »vorübergehend« zu werten. Eine Organisation als planlos zu bewerten, die einen territorialen Krieg führt, in besetzten Gebieten mit eigener Ideologie De-facto-Verwaltungen aufbaut und Angst professionell als zentrales Mittel benutzt, ist wie ein Bekenntnis, dass über diese Organisation bestimmte Ziele verfolgt werden. Die Türkei möchte über ihre Führungsrolle im sunnitischen Block (auch mit einer gewissen Kontrolle über das Kalifat) ihr asymmetrisches Verhältnis mit der USA geraderücken und ein wenig mehr Mitspracherecht erlangen. Das ist der Kern des Konzepts der »strategischen Tiefe«.

Aber es wird immer offensichtlicher, dass dieses Konzept den Realitäten der Türkei und des Mittleren Ostens zuwiderläuft. Die eigentliche Potentialkraft liegt bei der Freiheitsbewegung Kurdistans, die aus dem Mittleren Osten stammt und die Soziologie der Region sehr gut kennt.