Mitglieder der Verteidigungseinheiten YPG | Foto: DIHAInterview mit dem YPG-Kommandanten Mehmûd Berxwedan in Kobanê

Wir haben die Macht des IS gebrochen, wir werden sie besiegen

Abdurrahman Gök und Ersin Çaksu, Kobanê, ANF 17.10.2014

Die beiden Journalisten der Nachrichtenagentur Dicle Haber (DIHA) Abdurrahman Gök und Ersin Çaksu sprachen mit Mehmûd Berxwedan, einem der verantwortlichen Kommandierenden der YPG beim Widerstand von Kobanê (Ain al-Arab), über die derzeitige Situation in der Stadt und im Kampf mit dem IS.

Zunächst einmal möchten wir uns bei Dir dafür bedanken, dass Du in dieser schwierigen Phase auch Zeit für uns gefunden hast. Unsere erste Frage lautet, weshalb Kobanê für den IS so wichtig ist? Warum greifen sie mit so großen Kampfverbänden die Stadt an?

Wir haben uns natürlich auch Gedanken darüber gemacht, weshalb er sich so sehr auf Kobanê konzentriert, und sind zu folgenden Schlüssen gekommen: Zunächst einmal nahm die Revolution von Rojava am 19. Juli 2012 in Kobanê ihren Anfang. Kobanê ist also zu einem Symbol des Widerstands und der Freiheit geworden. Dort fand der Wille der Bevölkerung zum ersten Mal seinen konkreten Ausdruck und von dort sprang der Funke der Revolution auf die übrigen Städte Rojavas über.

Kobanê hat dadurch auch die Pläne mancher internationaler und regionaler Mächte, die den Willen der Bevölkerung in ihren Kalkulationen für die Region ausblenden wollten, durcheinandergebracht. Seit dem Tag der Revolution wurde deshalb dieser Wille bekämpft und sollte vernichtet werden. Aber sie haben ihr Ziel bislang nicht erreicht. Seit eineinhalb Jahren haben sie aus diesem Grund vor allem Kobanê anvisiert. Aber nochmal zur Frage zurück, warum ausgerechnet Kobanê. Topographisch betrachtet hat Kobanê keine Verbindung zu den anderen beiden Kantonen. Deshalb konnten die IslamistInnen die Stadt von drei Seiten einkesseln. Ihr Plan war es, so die Stadt einzunehmen. Sie dachten, dieses Ziel in kurzer Zeit erreichen und den Willen der Bevölkerung brechen zu können. Da haben sie sich allerdings geirrt. Sie haben begriffen, dass sie es bis auf Weiteres nicht schaffen. Deshalb haben sie nun große Kampfverbände aus Städten wie Raqqa, Deir ez-Zor, aber auch aus dem Irak in Richtung Kobanê zusammengezogen. Ich denke nicht, dass ich allzu sehr danebenliege, wenn ich sage, dass bis zu 70 % der IS-KämpferInnen nach Kobanê verlegt worden sind.

Steckt der IS allein hinter diesem Plan?
Nein, natürlich sind es auch mehrere Staaten, deren Namen ich an dieser Stelle nicht zu erwähnen brauche, denn sie sind hinreichend bekannt. Sie wollen den Willen der Bevölkerung brechen. Wenn Kobanê fällt, dann wird sowohl dem politischen Willen der Menschen in den drei Kantonen als auch der wachsenden Rolle der Volksverteidigungseinheiten YPG in der syrischen Revolution ein schwerer Schlag versetzt. Außerdem wird diejenige Kraft, die eine Vorreiterrolle für die demokratische Linie in dieser Revolution spielt, einen Rückschlag erleiden. Das ist die Kalkulation der Türkei und anderer Staaten, die hinter dem IS stecken. Wenn sie in Kobanê mit diesen Plänen erfolgreich sein sollten, werden sie dasselbe in den Kantonen Afrîn und Cizîrê versuchen. In der jüngeren Vergangenheit haben sie bereits mehrfach versucht, in Cezaa, Rabia und Serê Kaniyê (Ras al-Ayn) anzugreifen und so die Grenzgebiete zu Cizîrê einzunehmen. Aber auch diese Versuche scheiterten an unserem Widerstand. Um diese Niederlagen wieder wettzumachen, haben sie nun mit all ihren Kräften den Großangriff auf Kobanê gestartet. Die Einnahme von Kobanê sollte ihre angeknackste Moral wieder aufrichten. Und es muss dazugesagt werden, dass der IS bislang zu den Siegern im syrischen Bürgerkrieg gehört. Aber auch wir haben uns darin behaupten können. Und nun treffen in Kobanê diese beiden Kräfte aufeinander, die zwei gänzlich unterschiedliche Linien repräsentieren. Und der Ausgang dieses Aufeinandertreffens wird weitreichende Folgen für die Zukunft der Region haben.

Ihr leistet jetzt seit einem Monat heftigen Widerstand gegen den IS. Was ist in diesem Monat passiert? Welche Waffen wurden gegen Euch eingesetzt? Wie habt Ihr auf diese Angriffe reagiert?
Die Kämpfe, die hier seit mehr als einem Monat anhalten, gleichen nicht den bisherigen gegen den IS. Sie haben uns von vier, fünf Seiten auf einmal attackiert. Wie gesagt, sie haben ihre Kampfverbände aus anderen Orten hier zusammengezogen. Mit der Anzahl KämpferInnen, die sie hier gegen uns einsetzen, gelang es ihnen andernorts binnen Stunden, ganze Armeen Iraks und Syriens in die Knie zu zwingen. Dazu kommt, dass sie die von den Armeen erbeuteten Waffen nun hier gegen uns einsetzen. Seit einem Monat wird Kobanê vom IS mit Raketen, Panzern und anderen schweren Waffen angegriffen. Neben dieser modernen Technik, die gegen uns zum Einsatz kommt, setzen sie auch weiterhin auf unkonventionelle Methoden wie Selbstmordanschläge. Mit diesen Mitteln wollten sie Kobanê binnen einer Woche einnehmen, das hatten sie öffentlich propagiert. Doch wir haben mit unseren leichten Waffen Widerstand geleistet und tun das auch weiterhin.

Der Ministerpräsident der Autonomen Region Kurdistan (Südkurdistan), Nêçîrvan Barzanî, sprach davon, Euch mit Waffen unterstützt zu haben. Stimmt das?
Nein, das stimmt nicht. Wir haben den Widerstand hier bislang mit leichten Waffen und unserer Verteidigungsstrategie aufrechterhalten.

Was für eine Strategie verfolgt Ihr?
Der IS wollte einen Großteil unserer KämpferInnen bereits im Umland von Kobanê vernichten, also in den Dörfern, noch bevor sie ins Stadtzentrum vorstoßen, um anschließend problemlos die Stadt einzunehmen. Das war uns bewusst und wir haben unsere Strategie darauf ausgerichtet. Wir haben in jedem Dorf Widerstand geleistet und auch Verluste erlitten. Aber wir haben uns von Anfang an auch darauf festgelegt, in unmittelbarer Umgebung des Stadtkerns und innerhalb der Stadt den eigentlichen Krieg zu führen. Während sie planten, die Stadt binnen einer Woche einzunehmen, haben wir sie drei Wochen lang nicht in die Stadt reingelassen. Als sie dann zum Teil auch in die Stadt vorgedrungen sind, haben wir ihnen hier schwere Schläge versetzt.

Verteidigungsstellung der YPG/YPJ | Foto: DIHA

Der IS hat die Räumung der Dörfer durch Euch als Euer Eingeständnis der Niederlage lanciert.
Ja, so stellten sie das dar. Aber eigentlich war ihr Plan, unsere Kräfte in den Dörfern festzusetzen, dort zu umzingeln und so zu vernichten. Wir haben ihn vereitelt. Uns ging es in den Dörfern vor allem darum, ihnen gezielte Schläge zu versetzen und dabei unsere Einheiten zu schützen. Deswegen zogen wir uns dann anschließend in die Gebiete unmittelbar um das Stadtzentrum herum zurück und hier wird nun seit Wochen erbittert gekämpft.

Alle dachten, Kobanê sei kurz davor zu fallen. Die türkische Regierung und ihre Medien beispielsweise verbreiteten tagtäglich, dass die Stadt unmittelbar davorstehe, in die Hände des IS zu fallen. Der IS propagierte, ihr Gebet zum Opferfest in Kobanê zuverrichten. Und auch eine Vielzahl anderer Staaten ging vom Fall Kobanês aus. Als wirklich fast alle davon überzeugt waren, versetzten wir dem IS schwere Schläge und fügten ihm große Verluste zu. Wir befinden uns nun im zweiten Monat des Widerstands und dieser Widerstand hat wirklich ein historisches Ausmaß angenommen. Wir haben nicht nur ihren Vormarsch aufgehalten, in den letzten Tagen drängen wir sie gar immer weiter zurück. Die Kampfmoral in den Reihen der IslamistInnen ist dahin. Sie erleiden nicht nur große Verluste in der Stadt, wir haben auch große Waffenarsenale von ihnen erbeutet. Im ersten Monat haben wir mit unserer Strategie ihren Vormarsch gestoppt. Im zweiten Monat wollen wir nun nicht nur Widerstand leisten, sondern sie besiegen.

Es wird berichtet, dass in Kobanê derzeit zahlreiche Minderjährige in den Reihen des IS kämpften und viele auch getötet worden seien. Was bedeutet das?
Ich kann mit Fug und Recht behaupten, dass bis zu 70 % ihrer professionellen KämpferInnen, also diejenigen, die von Anfang an beim Sturm auf Kobanê beteiligt waren, getötet wurden. Nun versuchen sie weitere Einheiten hier zusammenzuziehen. Wir sind auch Zeuge davon, dass sie wohl aus ihrer Not heraus auch vielen Minderjährigen Waffen in die Hand drücken und sie zum Kampf zwingen. In den letzten Tagen haben sie auch ihre sogenannten Fraueneinheiten, die sie Ketibe-i Unsa nennen, in Richtung Kobanê verlegt. Aber wie gesagt, die Moral des IS ist dahin. Sie haben auch begriffen, dass Kobanê kein Ort wie Mûsil (Mosul) ist, den sie in kürzester Zeit einnehmen können. Sie setzen schwere Waffen und Autobomben ein, aber nichts bringt sie voran. Wir kennen hier jede Straße und jedes Haus. Und deshalb wissen wir auch, wo und wie wir ihnen hier Schläge versetzen können. So treiben wir sie Schritt für Schritt aus der Stadt.

Du hast von den Ketibe-i Unsa, also den Fraueneinheiten, gesprochen. Was machen sie genau? Und weißt Du, wie viele sie sind?
Soweit wir das wissen, werden die Frauen in ihren Reihen bei Selbstmordanschlägen eingesetzt. Auch finden sich unter den ScharfschützInnen oft Frauen. Die Ankunft der Ketibe-i Unsa sollte die Moral der IS-Mitglieder heben, aber auch die durch die Verluste entstandenen Lücken auffüllen.

In letzter Zeit wird immer wieder davon berichtet, dass der IS wahllos Raketen auf das Stadtzentrum abfeuere, auch von versuchten Autobombenanschlägen ist die Rede. Wie ist das zu werten?
Immer wenn Meldungen über wahllosen Raketenbeschuss und Autobomben zu hören sind, dann müsst Ihr verstehen, dass der IS große Verluste einstecken musste. Dasselbe gilt auch für Propagandameldungen wie »wir kommen nun mit noch größeren Einheiten«. Wenn sie keinen Erfolg verbuchen können oder Schläge versetzt bekommen, greifen sie zu diesen Methoden. Wenn sie davon berichten, dass ihre Gruppen aus Manbidsch oder Raqqa nach Kobanê kommen, kommt das auf dasselbe hinaus. Diese Autobombenanschläge sind auch Teil der psychologischen Kriegsführung. Sie sollen Angst und Schrecken verbreiten. Aber wir sind auch auf diese Methoden vorbereitet und wissen, wie wir diese Angriffsversuche stoppen können, ohne dass sie großen Schaden anrichten.

In den letzten Tagen sind auch Raketen des IS auf türkischem Staatsgebiet eingeschlagen. Kannst Du dazu etwas sagen?
Wir wissen ganz genau, dass die Hölle ausbräche, wenn auch nur eine unserer Kugeln aus Versehen in Richtung türkisches Staatsgebiet abgeschossen werden würde. Ich glaube nicht, dass der IS bewusst Raketen in Richtung Türkei abfeuert. Sie versuchen den Grenzübergang zu treffen und zielen anscheinend ab und an daneben. Tatsache ist aber, dass die Türkei den Beschuss bislang nicht verurteilt hat.

Nun zu den Luftschlägen der Anti-IS-Koalition. Gibt es da eine Zusammenarbeit mit Euch? Stimmt es, dass Ihr die Koordinaten der IS-Stellungen weitergebt? Und inwieweit sind die Luftschläge effektiv?
Um ehrlich zu sein, anfangs gab es keine Luftunterstützung. Hätten sie den IS von vornherein so aus der Luft angegriffen, wie sie es derzeit tun, hätten es die IslamistInnen niemals bis zur Stadt geschafft. In den ersten 15 bis 20 Tagen gab es keine wirkliche Luftunterstützung, aber seitdem spielen die Luftangriffe eine wichtige Rolle und sind uns eine Hilfe. Es stimmt, dass sie mit den YPG-Kräften koordiniert werden. Es wird auch mit großer Achtsamkeit angegriffen, es gab also keine Verwechslung der Angriffsziele.

Aber es gab Meldungen, dass die Luftschläge auch ZivilistInnen und Kräfte der YPG getroffen hätten?
Die entsprechen nicht der Wahrheit. Es kamen weder ZivilistInnen noch KämpferInnen der YPG bei Luftangriffen ums Leben. Wie gesagt, sie führen ihre Angriffe in Koordination mit den YPG durch und greifen lediglich die IS-Stellungen an. Und dort, wo der IS ist, sind die ZivilistInnen schon weg. Die Luftangriffe sind derzeit eine wichtige Unterstützung für uns, wofür wir auch dankbar sind.

Reichen die Luftangriffe allein aus, um den IS aus Kobanê hinauszudrängen?
Das sicherlich nicht. Die wichtigste Kraft, um den IS hier zu bekämpfen, bleiben die Verteidigungseinheiten der YPG und die der Frauen YPJ. Die Luftangriffe ergänzen lediglich den Widerstand am Boden. Aber damit der IS dort effektiv bekämpft werden kann, braucht es Waffen. Dafür müssen die Bedingungen geschaffen werden. Wir haben die Forderung nach einem Korridor gestellt. Über den kann humanitäre Hilfe, aber auch Waffenunterstützung geliefert werden. Ebenso könnten hier weitere Kräfte der Verteidigungseinheiten nach Kobanê gelangen. Die Türkei weigert sich allerdings bislang, den Korridor freizugeben. Unter den jetzigen Bedingungen sind wir in Kobanê umzingelt. Das muss durchbrochen werden. Und das geht nur über einen Korridor.

Willst Du etwas zu den Protesten in Nordkurdistan sagen? Welche Wirkung hatten die Mahnwachen an der Grenze zu Kobanê auf Euch?
Unsere Bevölkerung von Nordkurdistan hat uns mit großer Opferbereitschaft unterstützt. Das wirkte sich natürlich sehr positiv auf unsere Moral aus. Dutzende Jugendliche überwanden die Grenzen, um sich dem Widerstand von Kobanê anzuschließen. Und dieser Widerstand hat sich in den letzten Tagen und Wochen auch auf Nordkurdistan ausgeweitet. Insofern haben sie unseren Widerstand nicht nur bloß unterstützt, sie haben ihn mitgetragen. Uns wurde in diesen Tagen klar, dass die gesamte Bevölkerung von Kurdistan hinter uns steht. Das hat uns natürlich große Kraft und Auftrieb gegeben. Wir bedanken uns ausdrücklich für diese Unterstützung.

Gibt es noch etwas zu ergänzen?
Niemand soll sich auch nur im Traum einbilden, dass wir Kobanê im Stich lassen. Wir werden hier bis zum Schluss am Widerstand festhalten.