Flüchtlinge im Niemandsland bei Kobanê | Foto: DIHAJe mehr politische Rechte eingefordert werden, desto größer ist die staatliche Repression

»Nacktes Leben« in Kobanê

Rosa Burc

»Heute oder morgen wird Kobanê fallen«, verkündete Erdoğan siegessicher vor laufender Kamera. Heute, viele Tage später, ist die Befreiung Kobanês so nah wie bisher noch nie. Der Grund hierfür ist nicht die internationale Staatengemeinschaft, die sich viel zu spät und zögerlich involviert hat, auch nicht ursächlich ist das Engagement der angrenzenden Nationalstaaten Türkei und Irak, sondern einzig und allein der starke Wille der Frauen und Männer in Rojava, die heroisch gegen den Islamischen Staat für ein basisdemokratisches Zukunftsmodell, kurz: für die Menschlichkeit kämpfen. Und das nicht erst seit letztem Sommer, wie allseits angenommen. Der Kampf um Kobanê stellt bisher den Höhepunkt des langjährigen kurdischen Widerstandes in Rojava dar.

Während die westlichen Medien lange Zeit den Fokus auf die Freie Syrische Armee (FSA) und den Kampf gegen das Assad-Regime legten, übersahen sie gleichzeitig – bewusst oder unbewusst – die kurdische Revolution in Rojava. Die Volksverteidigungseinheiten YPG und die Frauenverteidigungseinheiten YPJ haben bereits vor drei Jahren das Gebiet Rojava im Norden Syriens von Assad-Kräften befreit und gegen die FSA sowie islamistische Gruppen, wie die Al-Nusra-Front, verteidigt. Die kurdische Bewegung hat hier ein Selbstverwaltungsmodell ins Leben gerufen, welches auf der Gleichberechtigung der Geschlechter, basisdemokratischen Elementen sowie auf einer Repräsentation aller ethnischen und religiösen gesellschaftlichen Gruppen in einem kantonalen Rätesystem fußt. Der Erfolg der YPG/YPJ in Şengal und Kobanê gegen den IS ist zurückzuführen auf eben dieses Experiment radikaler Demokratie in Kurdistan. Und gerade das ist der AKP-Regierung ein Dorn im Auge. Nicht zuletzt aus diesem Grund hat die NATO-Partnerin Türkei eine passiv-aggressive Haltung eingenommen, als es in der internationalen Staatengemeinschaft darum ging, ob und wie dem Widerstand in Kobanê geholfen werden kann.

Für die Türkei sei es ein mehrdimensionales Terrorismusproblem und mann könne deshalb nicht einfach so in Syrien einmarschieren, so der Tenor aus den Reihen der AKP. Während türkische Panzer an der türkisch-syrischen Grenze wochenlang aufsteigende Rauchwolken aus Kobanê beobachtet haben und den Grenzübergang für IS-TerroristInnen gewährt, aber KurdInnen, die sich dem Widerstand anschließen wollten, mit Gewalt verwehrt haben, verabschiedete das türkische Parlament einen Gesetzesentwurf mit dem Selbstanspruch, zur Lösung des Terrorproblems beizutragen. Wider internationales Erwarten, jedoch ganz nach türkischer Staatslogik, wurden dann erst mal PKK-Stellungen in Nord-Kurdistan im Südosten der Türkei bombardiert. Zusätzlich bekundete der Staatspräsident Erdoğan, die PKK und die YPG/YPJ seien gleichzustellen mit dem IS und stellten aus diesem Grund eine gleichwertige terroristische Gefahr für die Weltgemeinschaft dar.

Unterstützt durch einen ideologischen Diskurs im Lande hat die Türkei misstrauisch die Entwicklungen in Kobanê beobachtet, durch antikurdische Außenpolitik die Rojava-Revolution zu eliminieren versucht und dabei gleichzeitig KurdInnen innerhalb der türkischen Staatsgrenzen massiv mit Polizeigewalt bekämpft. Nicht zum ersten, wohlmöglich auch nicht zum letzten Mal, hat sich die Türkei somit außen- und innenpolitisch verkalkuliert: Der Widerstand in Kobanê nimmt trotz internationaler Isolation und der passiv-aggressiven Haltung der Türkei nicht ab – ganz im Gegenteil; die Frauen und Männer, die an vorderster Front die Menschenwürde verteidigen, haben die Herzen hunderttausender Menschen überall auf der Welt erobert. So fanden weltweit hunderte Proteste gleichzeitig in Solidarität mit Kobanê statt, ohne dass es zu Gewaltausschreitungen gekommen ist. Da »gewaltfreier Protest« nun einmal ein fremder Ausdruck in der Türkei zu sein scheint, wurden die Proteste in Nord-Kurdistan, hauptsächlich in den Städten Amed (Diyarbakır) und Mêrdîn (Mardin), mit Polizeigewalt beantwortet. Die AKP-Regierung erweiterte die Befugnisse der Polizei und rief zum ersten Mal nach Jahrzehnten wieder ein Ausgehverbot in kurdischen Städten aus. Quittierte dies noch zusätzlich mit insgesamt 48 ZivilistInnen, die aufgrund von Polizeigewalt sowie durch die Hände paramilitärischer Gruppen getötet wurden. Bei den Protesten handele es sich um den »langersehnten Wunsch der KurdInnen nach einem Aufstand«, so der AKP-Minister Bülent Arınç in einem Interview. Es seien radikal-militante ProvokateurInnen, die aufgeheizt von der Partei der Demokratischen Völker (HDP) auf die Straße gehen würden, um gezielt Unruhe zu stiften. Die Todesopfer gingen somit auch einzig und allein auf das Konto der HDP.
Überraschend sind diese Erklärungen nicht, denn sie sind alle Teil eines ideologischen Diskurses in der Türkei, der auf einer antikurdischen Haltung basiert – oder mit den Worten von Salih Muslim: »Die TürkInnen leiden unter Kurdophobie.« Seit der Gründung der türkischen Republik hat Kurdophobie verschiedenste Ausprägungen angenommen. Wobei hier wichtig ist zu erwähnen, dass nicht per se alle ethnischen KurdInnen der gleichen Diskriminierung ausgesetzt sind. Diese stuft sich nämlich ab: Je mehr politische Rechte eingefordert werden, desto größer ist die staatliche Repression. Kurdophobie beschreibt somit erfolgreich den traditionellen Antrieb türkischer Innen- und Außenpolitik: die Angst vor territorialer Desintegration und machtpolitischen Zugeständnissen, die sich versinnbildlicht in einer großen Sicherheitsparanoia und von Kurdophobie beflügelt ist. Diese Politik hat nicht selten dazu geführt, dass sogenannte »rechtsfreie Räume« geschaffen wurden. So erinnert man sich beispielsweise an das Massaker in Roboskî oder die aktuelle Situation in Kobanê.

Der italienische Soziologe Giorgio Agamben beschreibt in seinem Hauptwerk Homo sacer, wie gerade das politische Denken des Westerns, insbesondere die Funktionslogik von Nationalstaaten, eben diese »rechtsfreien Räume« bewusst schafft und den Menschen auf sein »nacktes Leben« reduziert. Er nennt dies das »Homo sacer«-Prinzip. Diese »Nacktheit« erst ermögliche es dem Regime – ob demokratisch oder nicht –, Menschenrechtsverletzungen zu begehen, ohne internationale Konsequenzen zu fürchten. In Anlehnung an Michel Foucaults Theorie der Biopolitik beschreibt Agamben, wie durch rechtsfreie Räume und »nacktes Leben« ein Ausnahmezustand geschaffen wird, welcher einen totalitären Zugriff auf jede/n Einzelne/n erst ermöglicht.

Die KurdInnen in allen vier Teilen Kurdistans haben sich innerhalb der Geschichte immer wieder als Homo sacer des Systems wiederfinden müssen. In Anbetracht der aktuellen Situation in Kobanê und der passiv-aggressiven Haltung der Türkei scheint es sich zu bestätigen, dass eben dieser Ausnahmezustand nach Agamben zu einem Paradigma des Regierens geworden ist – insbesondere in der Türkei.

Durch ihre NATO-Mitgliedschaft und ihre strategische Wichtigkeit für den Westen ist es der Türkei oft gelungen, ihre Partner im Westen mit dieser Kurdophobie anzustecken und den Ausnahmezustand über Staatsgrenzen hinweg zu installieren.
Bereits während der Gezi-Proteste, bei denen deutlich wurde, dass auch die alte türkische Bourgeoisie unter der Willkür des Staates leiden kann, aber insbesondere mit dem Einfallen des IS in kurdische Gebiete in Irak und Syrien, ist es der AKP-Regierung jedoch nicht gänzlich gelungen, international Sympathien für ihren Politikkurs zu finden. So ergatterte die Türkei dieses Mal keinen Sitz im UN-Sicherheitsrat und musste aufgrund internationalen Drucks, wenn auch erst nach mehr als 35 Tagen, einem Korridor über die Türkei nach Kobanê zustimmen.

Die Türkei hatte in Kobanê die einmalige Chance, ein aufrichtiges Interesse an einem Lösungsprozess mit der PKK und darüber hinaus Solidarität mit den KurdInnen jenseits Nordkurdistans zu zeigen. Doch stattdessen nutzte die AKP-Regierung die verzweifelte Situation Kobanês aus, verzögerte und verhinderte eine schnelle internationale Lösung. Stattdessen stellte Erdoğan Bedingungen, wie beispielsweise, dass sich die Partei der Demokratischen Einheit (PYD) und die Verteidigungseinheiten YPG/YPJ von der PKK abgrenzen, sich der FSA unterordnen und das Selbstverwaltungsmodell aufgeben, sprich: die drei autonomen Kantone aufgelöst werden, und verdeutlichte somit sein komplettes Desinteresse an einer friedlichen Lösung. Die basisdemokratischen Selbstverwaltungsstrukturen Rojavas stellen nämlich eine Gefahr für die Machtbestrebungen der Türkei dar. Somit hat die AKP-Regierung auf eine Allianz mit dem IS gesetzt, um die Autonomiebestrebungen in Rojava ein für alle Mal zu zerstören. Dass dieser Pakt jedoch mit einer Gruppe geschlossen wurde, die Andersgläubigen den Kopf abschlägt, Frauen systematisch vergewaltigt, verschleppt und auf SexsklavInnenmärkten verkauft, stellt anscheinend in den Augen der AKP-Regierung eine nicht allzu große Gefahr dar. Als die Regierung versicherte, sie würde keine terroristische Enklave an ihrer Grenze tolerieren, waren nicht etwa der IS, die Al-Nusra-Front oder andere vagabundierende Mördertruppen gemeint, sondern die KurdInnen in Rojava. Im Herzen dieser antikurdischen Rhetorik, die im Falle Kobanês noch einmal deutlich wurde, liegt eine tiefe Ablehnung demokratischer Werte.
Eins hat uns die Geschichte jedoch gelehrt: Regime, die ihre Macht auf Gewalt und Autoritarismus gründen und ihre hegemoniale Position in der Beschaffenheit der internationalen Ordnung konsolidieren, sind früher oder später zum Scheitern verurteilt. Entweder werden sie selbst von stärkeren imperialistischen Mächten fallen gelassen oder sie zerfallen im Innern. Im Fall Türkei geschieht zurzeit beides gleichzeitig.

Kobanê ist nicht gefallen, weil die Bevölkerung sich kollektiv mobilisiert und auf ihre eigene Stärke vertraut, trotz mehrfrontiger Angriffe. Sie wollen ihre demokratischen Errungenschaften, ihre menschliche Zukunftsperspektive nach all dem Leid in diesem Krieg nicht aufgeben.

Der Widerstand in Kobanê hat nicht nur Menschen überall auf der Welt inspiriert, er hat ebenfalls gezeigt, dass die Stärke politischer Mobilisierung der Basis, begründet durch fundamentale Prinzipien der Demokratie, nicht zu unterschätzen ist. Denn sie hat die Stadt Kobanê aufrechterhalten gegen einen Feind namens IS, der Städte wie Mûsil (Mossul) bereits in wenigen Tagen eingenommen hat.

Rosa Burc hat ihren Master of Science in International Politics der University of London und ist angehende Doktorandin am Institut für Politische Wissenschaft der Universität Bonn.