Eine Antwort auf die Fragen nach den unterschiedlichen Identitäten in Kurdistan?Eine Antwort auf die Fragen nach den unterschiedlichen Identitäten in Kurdistan?

Abhängige »Unabhängigkeit«

Luqman Guldivê

»In den europäischen Hauptstädten wird die Autonomie für die Êzîden diskutiert«[1], äußerte der êzîdische liberale Intellektuelle Ilhan Kızılhan gegenüber Rûdaw[2] kurz nach dem Einfall der Banden des Islamischen Staates (IS; vormals ISIS – Islamischer Staat in Irak und Syrien) in der Region Şengal (Sindschar). Ich kann hier leider nicht auf den Link zu diesem Kommentar verweisen. Nicht etwa, weil ich nicht will, sondern weil diese Meldung, die anfänglich hatte veröffentlicht werden dürfen, einem sich selbst als »unabhängig« bezeichnenden Nachrichtensender dann wohl doch nicht willkommen war.

Ich wollte ja über die »Unabhängigkeit« schreiben. Habe mich aber dann für die Abhängigkeit entschieden und schließlich am Beispiel der êzidischen Kurden. Wie allgemein bekannt, liegen auf dem Territorium der kurdischen Hauptsiedlungsgebiete mehrere angeblich »unabhängige« Nationalstaaten. Und die Geschichte hat uns mehrmals ganz deutlich gezeigt: Wären sie abhängig, hätte das weitaus geringere Konsequenzen für die Volksgruppen im Nahen/Mittleren Osten und in Kurdistan gehabt (ein Staat mit verschiedenen Abhängigkeiten hätte sich so etwas wie den Genozid der Anfal-Kampagne des irakischen Baath-Regimes wahrscheinlich nicht erlauben können).

Nun, sie existieren, die »unabhängigen« Staaten, und sie können nicht einmal die Interessen des eigenen nationalen Kapitals durchsetzen; wagen sie es, dann werden sie binnen kürzester Zeit politisch, wirtschaftlich und immer öfter auch militärisch bezwungen bzw. zerschlagen oder besetzt (soweit es sich nicht um Russland handelt; nun haben wir aber einen Iran und eine Türkei als Besatzer in Kurdistan, keineswegs mit Russland zu vergleichen). Die »unabhängigen« Staaten sind entweder Grund für eine sogenannte »internationale« (immer öfter »humanitäre«) Intervention oder fördern sie selber: a) weil sie nicht in der Lage sind, eigene Interessen gegen externe bzw. interne Mächte zu verteidigen, die sie herausfordern; b) weil sie wirtschaftlich in eine Sackgasse manövriert werden und zwar durch diejenigen Mächte, die dann wieder zur Intervention »geladen« werden. In der Tat sind die unabhängigen Staaten um uns herum meistens alles andere als im konventionellen Sinne »unabhängig«.

Ob es nun ein »unabhängiges« Kurdistan wie ein »unabhängiges« Syrien geben soll oder nicht, das sollte daher nicht Thema derjenigen sein, die sich zum Ziel gesetzt haben, ein freies Leben für die Völker im Nahen/Mittleren Osten zu etablieren. Die kurdische Befreiungsbewegung bemüht sich seit Jahren, die Gesellschaft in dieser Richtung zu transformieren, die Staaten zur demokratischen Neustrukturierung zu zwingen und gegebenenfalls die Volksgruppen und Identitäten durch die Revolution zu schützen (wie in Rojava), eine politische Alternative zu schaffen. Daher ist meines Erachtens eine polemische Auseinandersetzung mit dem eher populistischen Diskurs der Demokratischen Partei Kurdistans (PDK) und ihres Vorsitzenden Mesûd Barzanî nicht nur unnötig, sondern führt dazu, dass die eigenen intellektuellen Kapazitäten weniger kreativ für die Stärkung der Revolution in Rojava, den Aufbau der demokratischen Selbstverwaltungsstrukturen überall in Kurdistan eingesetzt werden können. Die kurdische Befreiungsbewegung handelt und lässt sich nicht in eine solche polemische Auseinandersetzung hineinziehen. Sie würde sicherlich, auch wenn die südkurdischen politischen Akteure mit dem Einverständnis der »internationalen«, der Regionalmächte ihre »Unabhängigkeit« erklärten, weiterhin aktiv dafür kämpfen, dass dieser Staat demokratisch wird, und ihn dazu zwingen, die Selbstverwaltungsstrukturen der unterschiedlichen gesellschaftlichen Gruppen und Identitäten anzuerkennen.

Kurz nach dem Fall von Mûsil (Mosul), dem Einzug der Peschmerga in die sogenannten umstrittenen Gebiete[3] und ihrer vollständigen Kontrolle über Kerkûk (Kirkuk) hörten wir von verschiedener Seite (nicht nur von Kurden, interessanterweise von Medien und Nah-/Mittelostexperten, die sich bis dahin kaum zum Thema Kurdistan geäußert hatten), dass die autonome kurdische Regierung (KRG) die Gewinnerin des IS-Terrors im Irak sei. Gleichzeitig wurde in Südkurdistan ein Unabhängigkeitsdiskurs eingeführt, hauptsächlich durch den Präsidenten der Autonomen Region Kurdistan, Mesûd Barzanî. Jetzt durch die Angriffe, Massaker und Genozidversuche der IS-Banden ist dieser Diskurs verstummt; etlichen Analysen zufolge sei nun die »Unabhängigkeit« wieder ein Traum geworden[4], andere sprechen davon, dass Südkurdistan nicht bereit sei für die Unabhängigkeit[5].

Wie dem auch sei, Fakt ist, dass diejenigen, die am meisten eine »Unabhängigkeit« thematisiert und sich vehement dazu geäußert haben, nun ausländische Waffen- und Militärhilfe suchen und ja auch laut fordern[6] – in der Tat also eigentlich für eine starke »Abhängigkeit« sind[7]. Diejenigen, die sich für eine Demokratisierung der Staaten und die Schaffung demokratischer, konföderaler Strukturen eingesetzt haben und noch dafür kämpfen (sie sogar mit Waffen und dem eigenen Leben verteidigen), haben die Bevölkerung aufgerufen, sich am Aufbau der Selbstverteidigungsstrukturen zu beteiligen: ein Schritt unabhängigen Engagements in Richtung einer gewissen Unabhängigkeit. Daher sollte im Falle des Bedürfnisses, sich über die »Unabhängigkeit« zu äußern, die Situation dann aus dieser Perspektive betrachtet werden; das wäre weitaus produktiver und die Abhängigkeiten, die eine nationalstaatliche Unabhängigkeit der Bevölkerung und selbst den Entscheidungsmechanismen des Staates aufzwingen, könnten klarer dargestellt werden.

Nun zurück zu der Meinung Herrn Prof. Dr. Ilhan Kızılhans (Professor der Psychologie, Doktor der Sozialwissenschaften); er ist selber Êzîde und beschäftigt sich zu Recht aus persönlichen Gründen intensiv mit dem Thema, zu den Kurden äußert er sich allerdings öfter. Er thematisiert seit kurzem eben die Möglichkeit einer Autonomie für die Êzîden in Südkurdi­stan: eine konventionelle Autonomie. Soll nun diese autonome Struktur eine Abhängigkeit von der Zentralregierung in Bagdad aufweisen oder vom selbst autonomen Kurdistan im Norden des Irak? Die Frage würde sich wahrscheinlich erst aufdrängen können, wenn unter den Êzîden der Gedanke einer Autonomie mehr Anerkennung fände (die »europäischen Hauptstädte« und die »internationalen« Mächte würden so etwas dann sehr wahrscheinlich »unterstützen«).

Die Betrachtung der etwa 800-jährigen Geschichte dieser kurmandschisprachigen Religionsgemeinschaft lässt erkennen, dass sie fast regelmäßig mit Massaker und Genozid bzw. dem Versuch dazu konfrontiert war. Die Gemeinde selbst spricht von 72 Genozidexpeditionen gegen sie (72 ferman), die im kollektiven Gedächtnis der Gruppe nun fest eingebrannt sind. Die Glaubensgemeinschaft, die bis ins 16. Jahrhundert hinein noch eine der größeren religiösen Gruppen in Kurdistan bildete, ist durch Massaker, Zwangskonvertierung und Zwangsumsiedlung zu einer der kleineren dezimiert worden.[8] Es ist eine natürliche Folge dieser historischen Umstände, ja der steten Gefahr der Vernichtung, dass mögliche Lösungen gesucht, unterschiedliche Szenarien reflektiert werden. In Nordkurdistan ist die Gemeinde aufgrund der Verfolgung auf wenige Familien reduziert worden. Die Lage in Syrien war nur relativ besser. Die êzîdische Gemeinde in Armenien verfügt als religiöse bzw. ethnische Gruppe über begrenzte Rechte, ist allerdings nicht in der Lage, eine Autonomie zu fordern (geschweige denn sie aufzubauen).

Die Vorstellung der Autonomie ist auf die Regionen Şengal und Shaikhan (Al-Shikhan) in Südkurdistan bezogen. Rein theoretisch hätten die Êzîden nach der irakischen Verfassung das Recht, darüber zu bestimmen, wenn es ihnen gelänge, mehrheitlich êzîdisch bewohnte Gegenden durch Bagdad und KRG als eine irakische Provinz anerkennen zu lassen. Dann könnten sie auch ein Referendum organisieren und aufgrund dessen dann, so sie es mehrheitlich wünschten, eine autonome Region gründen. Anscheinend ist es das nicht, woran Herr Kızılhan denkt, denn wie die relevanten Akteure dort auch mit ihrem Handeln offen zeigen, scheint so etwas kaum möglich. Daher appelliert Kızılhan an die »internationale« Gemeinschaft oder die »political leaders«.[9] Aber warum nicht an die eigene Gemeinde, der man sich selbst zugehörig fühlt und zu deren Schutz aufgerufen wird?

In diesem Zusammenhang schließt sich die Frage an, warum es eine, dem historischen Werden der êzîdischen Gemeinschaft fremde, konventionelle Autonomie sein sollte? Gibt es da keine weitere Alternative, die sich eventuell besser eignen könnte, oder ist ihnen der Diskurs der kurdischen Befreiungsbewegung (hauptsächlich der PKK) derart weit entfernt und fremd, um nicht eine Lösung vorzuschlagen, die für den Schutz der Êzîden unter Umständen bessere Chancen bietet? Vielleicht kann ja das, was in Rojava geschieht, ein Modell vorstellen. Wie steht es zu den religiösen Gruppen in Rojava? Wie haben sich die êzîdischen und christlichen Gemeinden dort organisiert? Wie war es ihnen möglich, sich bis jetzt gegen die IS-Terroristen erfolgreicher zu verteidigen als die Êzîden in Südkurdistan, wo es angeblich sicherer war und diese dort ja somit geschützter gewesen sein sollten? Die Antworten auf diese Fragen sind für die Zukunft der Gemeinde eigentlich sehr wichtig und könnten innerhalb der Gruppe Diskussionen einleiten und die wiederum zu Alternativlösungen führen.

Demokratischer Konföderalismus als Konzept für unterschiedliche Identitäten bietet eigenständige Selbstverwaltungsstrukturen und unabhängige Selbstverteidigungsmechanismen. Somit hätten die unterschiedlichen Identitäten und Gruppen die Möglichkeit, autonom zu sein (also ist die Autonomie auch nicht mehr territorial begrenzt) und sich gleichzeitig an breiteren politischen Entscheidungen zu beteiligen. Demokratischer Konföderalismus sieht vor, dass jedes Individuum, aber auch jede Gruppe und Identität ein politisches Subjekt darstellt (bzw. darstellen sollte), d. h. jede Gruppe ist gleichzeitig autonom: Sie kann eigene Entscheidungsmechanismen schaffen, sie kann über eine eigene Exekutive verfügen, sie kann eigene Selbstverteidigungsmechanismen aufbauen, sie kann eigenständig wirtschaftlich produzieren. Es ist nicht verkehrt zu behaupten, dass jede sich im Rahmen des Konzepts des Demokratischen Konföderalismus selbst organisierende Entität weit unabhängiger ist (trotz Abhängigkeiten mit anderen Entitäten) als jeder zurzeit existierende Staat im Nahen/Mittleren Osten.

Daher finde ich persönlich, dass eine Autonomie eine gute Lösung für den Schutz von Gruppen wie die der Êzîden sein kann, eine herkömmliche Autonomie allerdings eher Komplikationen und Gefahren birgt, kaum geringer als die jetzigen. Deshalb ist für unterschiedliche Gruppen innerhalb der kurdischen Bewegung eine Diskussion über eine mögliche Selbstverwaltung in Form einer Entität des Demokratischen Konföderalismus notwendig; unter den êzîdischen Kurden wird nach der Tragödie in Şengal selbstverständlich ein ähnlicher Diskurs geführt: Fakt ist, dass die Selbstverteidigungsstrukturen der Êzîden in Şengal nicht mehr aufgegeben werden können und dürfen, was eine eigene demokratische Selbstverwaltung auch notwendig macht. 


[1])Nicht wörtlich, da ich es nicht mehr nachprüfen kann.

[2])Medienunternehmen in der südkurdischen Autonomiezone.

[3])Deren administrative Zugehörigkeit eigentlich der irakischen Verfassung gemäß in einem schon seit Jahren verschleppten Plebiszit ermittelt werden soll.

[4])Siehe z. B. Arzu, Yilmaz. Kürdistan için Hawar! Dün Bağımsızlık konuşuluyordu, bugün can derdinde. In: www.diken.com.tr (08.08.2014).

[5])Siehe das Interview mit Abas Vali in Taraf vom 11.08.2014.

[6])Siehe z. B. den Brief Barzanîs, veröffentlicht in The Washington Post vom 10.08.2014: Kurds need more U.S. help to defeat Islamic State.

[7])Sowohl die Aufrufe westlicher Journalisten und Analysten als auch die Entscheidung der USA, Waffen an die KRG zu liefern, sind nicht außerhalb dieses Kontextes zu sehen.

[8])Dazu kann ich die Werke Philip G. Kreyenbroeks und Birgül Açıkyıldız‘ empfehlen, deren Auflistung ich hier nicht für angebracht halte.

[9])Siehe den Appell Kızılhans: https://www.facebook.com/EzidiPress/posts/706328296101014