Gegen den IS-Terror kämpften arabische und kurdische Organisationen Schulter an Schulter

Gewinner und Verlierer in Kobanê

Sinan Cudi
Verteidigungsgraben vor Kobanê

Der Islamische Staat (IS), der Anfang August die Bezirke Şengal (Sindschar) und Zummar im Kreis Mûsil (Mossul) einnahm, erreichte noch am selben Tag Maxmur, das Tor nach Hewlêr (Arbil). Nach der Einnahme Mûsils traf dieser rasche Vormarsch viele unerwartet.

Doch die Angriffe auf Hewlêr waren taktischer Natur. Die psychische Verfassung nach der Flucht der Pêşmerge (Peschmerga) aus Şengal und Zummar nutzend sollte die Regierung der kurdischen Autonomieregion in eine Verteidigungsposition gezwungen und Hilfe für die in das Şengal-Gebirge geflüchteten zehntausende ÊzîdInnen verhindert werden.

Zur Vervollständigung der Angriffe auf Şengal griff der IS zeitgleich die in Grenznähe zu Rojava liegenden Städte Cezaa und Rabia an. Mit der militärischen Überlegenheit der Panzer und des Militärequipments, das von der irakischen Armee erbeutet worden war, wurde Rabia zehn Tage und Nächte lang attackiert. Zehn Tage lang gab es in einem Umkreis von einem Kilometer heftige Auseinandersetzungen.

Auch in Cezaa wurde der IS von den Kräften der YPG/YPJ, der Volks- und der Frauenverteidigungseinheiten, nach dreizehn Tage dauernden heftigen Gefechten zurückgedrängt. Trotz seiner ganztägigen Angriffe und wiederholtem Nachschub von Kämpfern und militärischem Equipment konnte er nicht einen Meter vorrücken und musste sich zurückziehen.

Sowohl in Rabia und Cezaa als auch im Şengal-Gebirge haben die YPG-/YPJ-KämpferInnen und die Militanten der aus Kandil hinzugeeilten Volksverteidigungskräfte (HPG) die Pläne des IS vereitelt. Zwei Tage nach Beginn der Angriffe auf das Şengal-Gebirge am 3. August richteten sie einen Sicherheitskorridor nach Rojava ein und halfen so mehr als 100 000 ÊzîdInnen über die Grenze, was ein schreckliches Massaker verhinderte.

Die IS-Banden, ausgerüstet mit vom irakischen und syrischen Militär erbeuteten Waffen und Panzern, begannen Anfang September mit kleinen Angriffen auf Verteidigungsposten rund um Kobanê (Ain al-Arab). Dem begegneten die YPG/YPJ mit einer großen taktischen Innovation. Der IS hatte erwartet, dass die YPG-/YPJ-Kräfte diese Angriffe auf die gleiche Art wie in Cezaa und Rabia bzw. schon bei den Angriffen Anfang des Jahres in Kobanê beantworten würden. Die jedoch schwächten mit einer intermittierenden Rückzugstaktik die Wucht der Angriffe des militärisch überlegenen IS ab und waren auf eine sichere Räumung der zivilen Lebensräume im Verteidigungsgebiet aus.

Die YPG/YPJ, die einerseits die ZivilistInnen in Sicherheit brachten und sich andererseits auf einen Stadtkrieg vorbereiteten, fügten mit ihrer Guerillataktik den IS-Banden auf deren Versorgungswegen wichtige Verluste zu. Mit diesem zwanzigtägigen Rückzug zwischen dem 15. September und dem 5. Oktober nistete sich der IS in Stellungen in und um Kobanê ein.

Auch wenn er mit durch die Stadtnähe bedingter Leichtigkeit seine Angriffe verstärkte, kehrten die YPG/YPJ anschließend zum harten Frontkampf zurück. Für jede Straße, für jedes Haus wurde stunden- und tagelang gekämpft. Trotz militärischer und quantitativer Unterlegenheit leisteten die KämpferInnen der YPG/YPJ bis Ende Oktober historischen Widerstand.

Der weltweite Widerhall des Widerstands von Kobanê – es war auf einen raschen Fall der Stadt gesetzt worden – erzeugte einen wichtigen Druckmechanismus, um die Anti-IS-Allianz zur Unterstützung Kobanês zu drängen. Ab dem vierzigsten Tag der Angriffe wurde ein partielles Gleichgewicht geschaffen, der IS-Vormarsch gestoppt und die YPG-/YPJ-KämpferInnen begannen, den Banden Verluste zuzufügen.

Seit Kurzem nun sprechen wir nicht mehr vom Widerstand in Kobanê, sondern von der Vertreibung des IS aus der Stadt. Die teilweise Unterstützung der internationalen Allianz sowie der militärische Beistand der der Freien Syrischen Armee zugehörigen Burkan-El-Firat-Brigaden und der Pêşmerge-Kräfte haben die Angriffe der YPG/YPJ ergänzt. Im Süden Kobanês und innerhalb der Stadtgrenzen gibt es keine vom IS besetzten Gebiete mehr. Die YPG-/YPJ-Kräfte, die die von Halep (Aleppo) nach Kobanê führende Straße unter ihre Kontrolle gebracht haben, greifen nun die IS-Stellungen im Osten der Stadt an. Somit hat die Phase der Säuberung vom IS in Kobanê und der schrittweisen Befreiung des Gebiets begonnen.

Die großen Verlierer dieser Phase sind zweifellos die am Status quo festhaltenden Staaten der Region, allen voran die Türkei. Die Lokomotivfunktion der Republik Türkei, die eine Geheimhaltung ihrer Kooperation mit dem IS nicht für notwendig befand, in der antikurdischen Politik ist so offen zutage getreten. In dem Land, dem ein Präsident vorsteht, der mit dem Bekenntnis »Kobanê fällt jeden Augenblick« seine Absichten offenlegte, gibt es Abgeordnete der Regierungspartei, die IS-Kämpfern Segenssprüche widmen wie »Gott möge euch stets Patronen geben« und deren Gegnern Flüche wie »Hoffentlich werden sie euch ausrotten«. Die Kooperation zwischen dem an der Grenze stationierten türkischen Militär und dem IS hat sich mit dem Bombenanschlag vom 29. November am Grenzübergang Mürşitpınar nochmals bestätigt.

Es ist Realität, dass das syrische Regime, das die in der FSA organisierten Kräfte zerstört und die Revolution von Rojava als stärkste Oppositionskraft angreift, die direkte Konfrontation mit dem IS meidet und ihm so eine Basis bietet. Suspekt ist auch die Tatsache, dass der IS syrische Militärstützpunkte in nur einem Tag einnehmen kann; der irakische Staat, wenngleich er an Bedeutung verloren hat, verhält sich ähnlich.

Das Gewicht des Iran, der mit seiner Irak- und Syrien-Politik ihn umgebende Gefährdungen zu durchbrechen versucht, nimmt stetig zu. Das iranische Regime, das seine gegnerische Haltung zu den starken kurdischen Errungenschaften in der Region nicht verheimlicht, spielt sich gegenüber der irakischen und der syrischen Regierung als Oberlehrer auf und macht taktische Vorschläge.

Die KämpferInnen der YPG/YPJ und das kurdische Volk, das in den vergangenen achtzig Tagen diesen Widerstand weltweit unterstützt hat, sind die Gewinner dieser Phase. Auch wenn hunderte kurdische Jugendliche gefallen sind, hat dies das Tor zu historischen Entwicklungen aufgestoßen. So wie eine wichtige Basis für die nationale kurdische Einheit geschaffen worden ist, so war es auch eine eindeutige Antwort auf eine beabsichtigte arabisch-kurdische Konfrontation. Gegen den IS-Terror kämpften arabische und kurdische Organisationen Schulter an Schulter und ihr Blut vermischte sich an derselben Front.

Die Revolution von Rojava, der Isolation durch die Status-quo-Staaten der Region ausgesetzt, ist zunehmend zu einem Hoffnungsschimmer für die Menschheit geworden. Von Kerkûk bis Şengal, von Maxmur bis Kobanê, der allen Unmöglichkeiten zum Trotz geleistete Widerstand der FreiheitskämpferInnen in einem hunderte Kilometer umfassenden Gebiet hat schon jetzt einen Ehrenplatz im Kampf zwischen Gut und Böse im 21. Jahrhundert erreicht.

Es besteht kein Zweifel, dass die Geschichte diejenigen niemals vergessen wird, die in diesem Krieg um Ehre und Würde mitkämpften.