Interview mit Prof. Dr. Dr. Hans Joachim Giessmann, Geschäftsführer der Berghof Foundation

Einigung auf Teilziele und Verhandlungstransparenz

Devrim Arslan und Meral Çiçek

European Union Turkey Civic CommissionZwischen dem 10. und dem 11. Dezember 2014 fand die mittlerweile 11. Konferenz zur kurdischen Frage im EU-Parlament in Brüssel statt. Die von der EUTCC (European Union Turkey Civic Commission) und der EU-Parlaments-Fraktion GUE/NGL (Konföderale Fraktion der Vereinten Europäischen Linken/Nordischen Grünen Linken) gemeinsam organisierte Konferenz lief dieses Jahr unter dem Titel »Chaos und Krise im Mittleren Osten: die neue regionale Ordnung und die KurdInnen«. Prof. Dr. Dr. Hans Joachim Giessmann, Geschäftsführer der Berghof Foundation, nahm in diesem Jahr zum ersten Mal teil. In diesem Rahmen wurde er zum aktuellen Verhandlungsprozess zwischen der PKK und dem türkischen Staat befragt.

Sie verfolgen den Verhandlungsprozess in der Türkei aufmerksam mit. Wie bewerten Sie die aktuelle Situation?

Der Verhandlungsprozess befindet sich in einer sehr kritischen Situation, weil sich inzwischen die äußeren Rahmenbedingungen so verändern, dass das auch Auswirkungen hat auf diesen sehr komplizierten und langwierigen Friedens- uns Verhandlungsprozess in der Türkei selbst. Man kann auch nicht auf Zeit setzen, weil zu befürchten ist, dass sich die äußeren Rahmenbedingungen noch weiter verschlechtern könnten demnächst. Das heißt, es ist jetzt eigentlich der Moment, wo alle beteiligten Seiten, die türkische Seite, aber natürlich auch die kurdische Seite, alle Anstrengungen unternehmen müssen, um diesen Prozess nicht nur am Laufen zu halten, sondern jetzt auch zu sichtbaren Ergebnissen zu kommen. Und wenn es nur einzelne und kleine Ergebnisse sind. Ich glaube, im Moment ist es sehr wichtig, dass bestimmte, symbolisch auch repräsentierbare Ergebnisse öffentlich werden, um auf allen Seiten sichtbar zu machen, dass sich der Verhandlungsprozess lohnt. Man kann nicht einfach nur zusammensitzen, über lange Monate oder Jahre hinweg, inzwischen dauert der Verhandlungsprozess seit zwei Jahren an, ohne an einem Punkt zu zeigen im jeweiligen Bevölkerungsteil, dieser Prozess lohnt sich, er bringt Fortschritte für die beteiligten Seiten. Und deshalb ist es so wichtig jetzt, in dieser Zeit nicht zu verzagen, sich nicht dazu einzulassen, sich von den äußeren Rahmenbedingungen negativ beeinflussen zu lassen. Sondern im Gegenteil. Eigentlich ist jetzt der Moment gekommen, wo man wirklich zu wichtigen, konstruktiven Schritten kommen muss.

Was für konkrete Schritte müssten jetzt angegangen werden?

Es besteht die große Gefahr, dass in der gegenwärtigen Situation der Verhandlungsprozess sogar abgebrochen werden könnte, weil aufgrund der Kriegssituation im Süden des Landes, aufgrund des Umfeldes, wie es sich jetzt entwickelt, die Verhandlung sozusagen zum Prüfstein dazu gemacht wird, ob sich diese Kriegssituation entspannt. Deshalb denke ich, das Allerwichtigste wäre jetzt, ein deutliches Signal zu setzen, was die Anerkennung der Verhandlungsparteien betrifft. Also in dem Falle der PKK bzw. von Herrn Öcalan, nicht nur ihn als Person zu sehen, sondern eben auch tatsächlich als anerkannten Verhandlungspartner zu sehen. Und nicht zu versuchen, die Verhandlungen zu instrumentalisieren und sozusagen zur politischen Geisel zu nehmen zur Durchsetzung der eigenen Ziele.

Was denken Sie, was die PKK an dieser Stelle machen müsste?

Ich denke, die kurdische Seite sollte deutlich erklären, dass sie bereit ist, den Waffenstillstand aufrechtzuerhalten, wenn die türkische Seite bereit ist, in dem Verhandlungsprozess sich weiter konstruktiv zu engagieren und die Unterstützung für ISIS einzustellen. Ich glaube, diese Verknüpfung muss her, aber gleichzeitig muss auch ein klares Signal her, dass, wenn ISIS beispielsweise versucht, Stellungen der Kurden – Kobanê vielleicht nicht mehr, aber andere Stellungen der Kurden – zu zerstören, dass das dann als Drohpotential genutzt wird, um den Verhandlungsprozess abzubrechen, diese Verknüpfung ist, glaube ich, nicht sehr gut. Es wäre jetzt meines Erachtens ein deutliches Signal auch zu senden, dass die PKK bereit ist, den Waffenstillstand aufrechtzuerhalten, aber dafür muss die türkische Seite auch bereit sein, ernsthaft zu verhandeln.

Im Augenblick ist es ja gerade umgekehrt, dass die kurdische Seite droht, den Waffenstillstand aufzukündigen, wenn die Verhandlungen nicht konstruktiv geführt werden. Meines Erachtens muss das Signal andersherum gesendet werden, weil dann auch die internationale Unterstützung für die kurdische Seite bleibt. Also wenn man sagt, wir wollen den Waffenstillstand aufrechterhalten, aber wir wollen halt auch, dass vernünftig verhandelt wird.

Sie haben in Ihrem Redebeitrag vom negativen Potential der zunehmenden Verflechtung von nationalen, transnationalen, regionalen und internationalen Interessen im Mittleren Osten gesprochen. Kann dies nicht auch eine Chance für den Lösungsprozess darstellen?

In jedem Problem liegt natürlich eine Chance. Aber im Augenblick scheint mir die Entwicklung dahingehend zu sein, dass große geopolitische Fragen in den Vordergrund rücken. Und damit auch ordnungspolitische Fragen in einer Region. Die Türkei selbst versucht ja, aus der gegenwärtigen Situation für sich geopolitisch im Nahen Osten Kapital zu schlagen. Das führt diesen politischen Prozess, der ja notwendig ist, auf eine sehr risikoreiche Bahn für alle Beteiligten. Sodass ich glaube, dass im Augenblick die Risiken überwiegen. Ich denke auch, wir werden vielleicht nach dem März 2015 in Israel eine sehr konservative, sehr rechtsgerichtete Regierung haben. Das wird auch zu zusätzlichen Spannungen in der Region führen. Ich habe auch das Beispiel der Nichtverbreitungskonferenz gebracht, die im Mai stattfindet. Wenn es bis dahin nicht gelingt, einen Deal mit dem Iran zu schließen über das Nuklearprogramm, könnte die Region sehr schnell zu einem Pulverfass werden. Das heißt, im Augenblick sehe ich größere Schwierigkeiten. Aber Sie haben natürlich völlig recht; das Interesse daran, die Türkei und auch die benachbarten Staaten, vor allem Irak, Jordanien, vielleicht auch Syrien, wieder zu stabilisieren, ist etwas, was alle Staaten in Europa, aber auch die USA in hohem Maße interessiert, und insofern ist es jetzt, glaube ich, auch an der Zeit, die Verantwortung der internationalen Staatengemeinschaft, sich für diesen Prozess zu engagieren, auch Druck auszuüben auf die beteiligten Parteien, diese Stunde ist eigentlich jetzt gekommen.

Denken Sie, dass bisher vonseiten Europas die notwendige Unterstützung für diesen Prozess gekommen ist?

Ich sehe das leider nicht in dem Maße, in dem es notwendig wäre. Ich meine, wenn jetzt bestimmte Waffen geliefert werden, auch an Peschmerga beispielsweise, dann hat das eher mit den europäischen Interessen, sozusagen dem Schutz des europäischen Raums zu tun als mit dem Problem der Menschen vor Ort. Wir haben gesehen bei den Êzîden, wie lange das gedauert hat, bis überhaupt irgendeine Reaktion erfolgt ist. Das heißt, ich sehe die Unterstützung nicht in dem Maße gegeben, wie es notwendig wäre.

Sie hatten auch von der Wichtigkeit der Transparenz des Prozesses gesprochen. Ist es Ihrer Meinung nach möglich, für die Transparenz des Prozesses Druck auf die türkische Regierung auszuüben? Wer müsste da aktiv werden?

Druck ist sicherlich richtig und wichtig. Aber ich glaube fast, es braucht auch eine gewisse professionelle Begleitung und Beratung der Verhandlungsdelegation. Weil, was ich im Augenblick nicht sehe, ist tatsächlich eine transparente Agenda. Die Erwartungen auf beiden Seiten sind so groß, dass die Verhandlungen eigentlich nur scheitern können. Was also notwendig wäre, wäre eine Einigung auf die sozusagen Teilziele der Verhandlungen und die müssten auch transparent nach außen kommuniziert werden, damit klar ist, das sind die Benchmarks, das sind die Positionen, das wollen wir zur Diskussion bringen, und das fehlt meines Erachtens, sodass das Misstrauen auf der kurdischen Seite vielleicht größer ist als auf der türkischen, aber vielleicht auch auf der türkischen Seite da ist, dass die Verhandlungen vielleicht für irgendwelche anderen Zwecke benutzt werden können, und ich glaube, das muss einfach beseitigt werden, sonst haben die Verhandlungen gar keinen Sinn.

Die kurdische Seite fordert eine dritte Seite als Mediator. Was könnte solch eine dritte Seite momentan für eine Rolle spielen?

Beide Seiten müssen einen Mediator wollen. Wenn sie eine Mediation wollen, macht ein Mediator Sinn. Wenn sie aber einen Mediator nur benutzen wollen, um damit ihre eigenen Positionen zu verteidigen, dann macht eine Mediation keinen Sinn. Ich sehe im Augenblick die Voraussetzungen dafür, dass eine dritte Partei akzeptiert wird, für eine Mediation, auf der türkischen Seite nicht sehr stark entwickelt. Auf der kurdischen Seite vielleicht schon. Aber die Voraussetzung wäre wirklich, es müssen beide. Wenn man keine Drittpartei gewinnen kann für eine Mediation, gibt es noch eine andere Möglichkeit. Und das ist eine Insider-Mediation. Das heißt also, dass man sich einen Expertenrat holt, für die Entwicklung der eigenen Verhandlungspositionen. Das könnte gleichzeitig auf der kurdischen Seite wie auf der türkischen Seite erfolgen durch entsprechend respektierte Persönlichkeiten, die also jeweils von der jeweiligen Seite akzeptiert werden.

Sehen Sie in aktuellen Beispielen, wie jetzt in Kolumbien oder in Nordirland, Modelle, die dem Prozess in der Türkei nutzbar wären?

Beispiele sind natürlich immer schwierig. Bei den kolumbianischen Verhandlungen gibt es ja keinen Waffenstillstand, sondern es ist mehr sozusagen ein stillschweigendes Einverständnis, dass man miteinander verhandelt, und die kolumbianische Seite, die FARC-Rebellen glauben, dass sie am Verhandlungstisch politische Kraft verlieren, wenn sie das militärische Druckmittel aufgeben. Insofern ist das Beispiel nur bedingt vergleichbar. Aber was die Verhandlungen vielleicht als Modell anbieten können, ist die Unterteilung des Verhandlungsprozesses in bestimmte Pakete. Es gibt also ein Paket, das sich befasst mit Landfragen. Es gibt ein Paket, das sich befasst mit »Dealing with the past«, also Versöhnungsprozessen. Es gibt Pakete, die sich sozusagen mit der Reintegration von ehemaligen Kombattanten befasst, und das könnte man natürlich auch tun, weil das die Möglichkeit erlauben würde, sich zunächst einmal auf die Bereiche zu fokussieren, wo man vielleicht eine Einigung bekommt, um damit auch symbolhaft die Möglichkeit von Verhandlungsmöglichkeiten zu demonstrieren, um sich dann später den schwierigeren Paketen zuzuwenden. Ich glaube, das wäre sicherlich eine Lehre, die man aus dem kolumbianischen Prozess ziehen kann, wo man sich inzwischen, auch wenn die Verhandlungen sehr viel länger dauern, schon auf drei Pakete geeinigt hat. Also drei Pakete hat und gleichzeitig aber auch sagt, jedes einzelne Paket wird erst dann gültig sein, wenn das Gesamtpaket geschlossen ist. Also niemand ist übervorteilt, wenn man sich in einem Teil einigt und in einem anderen noch nicht.

Es gibt vielleicht noch ein Beispiel. Damit könnte man die Türkei ansprechen. Die Türkei hat eine konstruktive Rolle gespielt bei der »Group of friends« für das Friedensabkommen auf den Philippinen. Deshalb ist es völlig unverständlich, dass die Türkei für sich selbst nicht eine dritte Partei oder eine »Group of friends« mit anderen Staaten anerkennen will.

Und wir kennen aus dem baskischen Friedensprozess, der ja auch sehr kompliziert ist, das Modell einer Gruppe von »Eminent persons«, mit Kofi Annan und Gro Harlem Brundtland. Das wäre also auch eine Möglichkeit. Dass man nicht über Staaten nachdenkt, weil Staaten eigene Interessen vielleicht haben, sondern eine Gruppe von weltweit anerkannten Persönlichkeiten.

Was würde die politische Lösung der kurdischen Frage der Türkei bringen?

Stabilität, sowohl innenpolitisch ein hohes Maß an Reputation, weil sie in der Lage gewesen ist, ein schwieriges politisches Konzept nach vielen Jahren auch politisch zu lösen und nicht militärisch. Und es würde sicherlich ökonomisch dem Land einen großen Auftrieb verleihen, wenn es gelänge, dieses politische Problem gewaltfrei zu lösen.

Berghof Foundation: ist eine unabhängige und gemeinnützige NGO. Sie unterstützt Konfliktparteien und andere Akteure in ihren Bemühungen, durch Friedensförderung und Konflikttransformation dauerhaften Frieden zu erreichen.