Aktuelle Bewertung

Die Stärke der kurdischen Freiheitsbewegung drückt sich in der Vielfalt ihres Kampfes aus

Can Çiçek

Failed (nation-)states, supranationale Konflikte, in Staatspleiten mündende, andauernde Wirtschaftskrisen bilden nur einen Teil der Symptomatik der Krise des gegenwärtigen Weltsystems ab. Die Periode des Kalten Krieges, in der zwei kontradiktorische Ideologien um die globale Hegemonie und somit um die Bestimmung der Weltordnung stritten, ist vorbei. Inzwischen hat sich das Feld der Akteure, die eine neue Weltordnung intendieren, vervielfacht. Darunter fallen nicht nur staatliche, sondern vermehrt auch transnationale und konfessionell geleitete Akteure. Für das bestehende Weltsystem, das bis auf den Westfälischen Friedensschluss von 1648 zurückzuführen ist und das über ein hegemoniales Machtzentrum verfügt, sind weniger Modifikationen und Reformationen zu erwarten als die Neubildung mehrerer Ordnungen mit unterschiedlichen Zentren. In diesem Moment spielt die Neugestaltung des Mittleren Ostens eine besonders wichtige Rolle. Hier prallen zahlreiche internationale wie auch regionale Interessenkonflikte aufeinander.

Unsere Sicht auf die Lage in einem ersten Überblick:

Der Mittlere Osten stellt nur einen von vielen Krisenherden der heutigen Zeit dar. Die Ukraine-Krise steht prägnant für neue Spannungen zwischen Ost und West. Eine neugewählte Regierung in Griechenland, die Zwangsmaßnahmen (vorgeschriebene Austeritäts- und Kürzungspolitik) der EU, allen voran Deutschlands, nicht länger hinzunehmen bereit ist, stellt den Staatenbund vor neue Herausforderungen. Dieser gerät neuerdings in Widerspruch zur Politik der USA. Neue technologische Entwicklungen, vor allem im Energiesektor, sind einer der Gründe für Interessenverschiebungen zwischen Europa und den USA und weshalb ein einheitliches westliches Agieren in der globalen Politik nicht mehr zu erwarten ist. Die derzeitige Konjunktur bietet die Basis für die Bildung neuer strategischer und taktischer Bündnisse. In diesem Lichte gilt es, ebenfalls die Atomverhandlungen der P5+1 (USA, Russland, China, Frankreich und Großbritannien + Deutschland) mit dem Iran zu bewerten. Im Hinblick auf ihre Entwicklung könnte der Ausgang der bevorstehenden Parlamentswahlen Israels im Mai ein bestimmender Faktor sein. Dort könnte sich der, durch die gesamte Historie dieses Staates ziehende, Trend einer immer rechteren und konservativeren Regierung fortsetzen.

Indessen scheint die gewaltsame Einflussnahme der Boko Haram im bevölkerungsreichsten Staat Afrikas Nigeria das Stattfinden der Parlamentswahlen zu verhindern. Die ehemalige britische Kolonie gilt als bedeutender Erdölproduzent. Einem weiteren wichtigen erdölproduzierenden Staat des Kontinents droht der Zerfall. Nach dem gewaltsamen Umsturz der Regierung Libyens scheint sich das Chaos des Landes stetig zu vertiefen.

Nachdem es nach zwei Genfer Konferenzen zur Stagnation bei internationalen Lösungsbestrebungen für den Syrienkonflikt gekommen war, fanden in Kairo und Moskau zwei voneinander unabhängige, jedoch verknüpfte Konferenzen mit VertreterInnen der syrischen Opposition statt. Die ethnische und konfessionelle Spaltung des Irak scheint sich zu vertiefen, während im Şengal-(Sindschar-)Gebirge eine breitangelegte Befreiungsoperation unter Führung der Volksverteidigungskräfte (HPG) und der Einheiten des Widerstands von Şengal (YBŞ) gestartet wurde.

Nach 134 Tagen eines sagenhaften Widerstands verkündete die Kantonalregierung von Kobanê (Ain al-Arab) die Befreiung der Stadt. Der heldenhafte Kampf der Frauenverteidigungseinheiten (YPJ) und Volksverteidigungseinheiten (YPG) sowie ihrer Verbündeten gegen den sogenannten Islamischen Staat (IS) wird nun im umliegenden Gebiet fortgesetzt. Der Kampf gegen den IS soll auch in der an der Grenze zur Türkei liegenden Stadt Girê Sipî (Tell Abyad), die als ein Zentrum des IS gilt, weitergeführt werden. Zwischenzeitlich kam es zu Gefechten zwischen den YPG und der Armee des syrischen Regimes in Hesekê (Al-Hasaka), den ersten dieser Art in der im östlichen Kanton von Rojava, Cizîrê, liegenden Stadt.Kobanê konnte befreit werden | DIHA

In diesem Zusammenhang gilt es, die Befreiung von Teilen Celawlas und Sadiyes im Irak/Südkurdistan durch südkurdische Peschmerga und durch Guerillas der HPG zu nennen. Die damit verbundene Verschiebung des Kräftegleichgewichts erlaubt dem Iran eine Reanimierung seiner Aggressionen gegenüber der kurdischen Befreiungsbewegung. Nachdem er bereits im vergangenen Sommer Stellungen der HPG und der Ostkurdistankräfte (HRK) militärisch angegriffen hatte, sind die Attacken der syrischen Regimekräfte dem Einfluss des Iran zuzurechnen.

In der Türkei ist der Fokus derzeit auf die anstehenden Parlamentswahlen im Juni gerichtet. Die Demokratische Partei der Völker (HDP) hatte bereits im Vorfeld verkündet, dass sie zur Wahl als Partei antreten werde und somit bestrebt sei, die Wahlhürde von zehn Prozent zu nehmen.

Und nun zu unserer genaueren Erörterung der Lage:

In Griechenland hat die linkssozialistische SYRIZA einen sensationellen Wahlsieg errungen. Mit 149 von 300 Abgeordneten verfehlte die Partei nur sehr knapp die absolute Mehrheit und sah sich zu einer Koalition mit der rechtspopulistischen Partei ANEL gezwungen. Auch wenn sich beide Koalitionspartner in gesellschafts- und außenpolitischen Positionen stark unterscheiden, gilt es, diese Koalition im Licht einer kurzfristigen Umsetzung der wichtigsten Forderungen der griechischen Bevölkerung zu werten. Folglich wird die neugebildete Regierung Lösungen aus der akuten wirtschaftlichen und sozialen Krise suchen und in diesem Sinne eine Abkehr vom neoliberalen Wirtschaftsmodell der vergangenen Jahre. Großes Missfallen erregen die Pläne Griechenlands besonders in Brüssel und Berlin, denen das selbstbewusste und unabhängige Agieren Athens ein Dorn im Auge zu sein scheint. Abzuwarten bleibt, ob der Wahlausgang in Griechenland auch einen Einfluss auf andere europäische Staaten ausüben kann, allen voran Italien und Spanien, die seit Längerem unter ähnlichen Wirtschaftskrisen zu leiden haben.

Auf gemeinsame Initiative Merkels und Hollandes wurde zu Minsker Friedensverhandlungen eingeladen, bei denen neben dem ukrainischen Staatspräsidenten Poroschenko auch sein russischer Amtskollege Putin anwesend war. Die USA waren nicht eingeladen. Der Sturz der ukrainischen Regierung im Februar letzten Jahres war in einen gewaltsamen Bürgerkrieg gemündet, der vor allem einem erstarkenden Faschismus und gesellschaftlicher Polarisierung den Weg ebnete. Entgegen den Bemühungen von Berlin und Paris zur Entschärfung des Konflikts drängt Washington auf dessen Intensivierung; der US-Kongress erklärte indessen die Bereitschaft, Waffen an Kiew zu liefern. Mittlerweile haben die Spannungen zwischen den USA und Russland eine neue Dimension erreicht. In diesem Sinne sind die niedrigen Erdgas- und -ölpreise und der starke Fall des Rubels zu bewerten. Dabei bewegt sich innerhalb dieses Widerstreits die große westliche Allianz auf einen Scheideweg zu. Vor allem nach der US-Schieferrevolution und den hohen Förderungsraten kam es zu einer veränderten Interessenlage Europas und der USA und damit verbunden einer anderen Herangehensweise und Politik beider Akteure. Denn solange Europa keine Alternativen schafft, sind es vor allem seine beiden politisch und wirtschaftlich stärksten Staaten, Frankreich und Deutschland, die gegenüber Russland, ihrem wichtigsten Erdgaslieferanten, in Abhängigkeit stehen. Der starke Fall der russischen Währung hat ebenfalls erheblichen Einfluss auf zahlreiche osteuropäische Staaten und asiatische Nachbarn in einem wirtschaftlichen Abhängigkeitsverhältnis zu Russland, was zur Destabilisierung der gesamten Region führt.
Eine Möglichkeit für Europa, die angesprochene Abhängigkeit von Russland zu lockern, wäre eine Annäherung an den Iran. In den laufenden Atomverhandlungen der P5+1 könnte somit Berlin und Paris eine wichtige Rolle zukommen. Doch sind in diesen Verhandlungen eher die internen Entscheidungsinstanzen der USA und des Iran gefragt. Die Verhandlungsführung beider Seiten scheint im Grunde einig, es ist jedoch fraglich, ob die iranische Legislative die geistliche Machtinstanz des Landes überzeugen kann. Zudem könnte der US-Kongress die Entscheidungen behindern. Zwar sind im Grunde sowohl RepublikanerInnen als auch DemokratInnen für einen erfolgreichen Verhandlungsabschluss, doch die Entscheidungsprozedur der US-Außenpolitik wird von diversen Faktoren bestimmt. Unter anderem verfügt die proisraelische Lobby nach wie vor über einen bedeutsamen Einfluss auf den Kongress. Eine noch rechtskonservativere Regierung als die gerade von Netanyahu aufgelöste könnte für neue Aggressionen sowohl im Palästinakonflikt als auch gegenüber dem Iran sorgen. Hohe Inflation und die Rezession sind Grund für anwachsende Proteste in Israel. Rechtspopulistische Kreise, wie sowohl der Block um Netanyahu als auch der um Liebermann, die im Gegensatz zu den vorigen Wahlen mit zwei unterschiedlichen Parteien antreten, bedienen sich in solchen Perioden gern einer aggressiven Rhetorik, die sich primär, aber nicht ausschließlich, gegen Hamas und Iran richtet. Durch die Dämonisierung äußerer Gefahren ist die Regierung bestrebt, trotz der innenpolitischen Krise für ihre eigene Legitimation zu sorgen.

Ebenso wenig wie Israel dürfte Saudi-Arabien an einer Übereinkunft in den Atomverhandlungen mit dem Iran interessiert sein. Der Einfluss der saudischen Monarchie lebt von der Isolierung des Iran vom Westen. Zweifelsfrei gehört Saudi-Arabien zu den Staaten, denen an einem Erhalt des Status quo in der Region gelegen sein dürfte.
Nach 134 Tagen des Widerstands verkündete die Kantonalregierung von Kobanê die vollständige Befreiung der Stadt. Indessen laufen die Befreiungsoperationen der Frauen- und Volksverteidigungseinheiten mit Unterstützung der Peschmerga und der Burkan-El-Firat-Allianz in den ländlichen Gebieten des Kantons weiter. Bisweilen konnte die Mehrzahl der etwa 400 Dörfer des Kantons aus den Händen des IS befreit werden. Zweifellos hat sich der Widerstand von Kobanê als eigenständiges Kapitel in die Geschichtsbücher eingeprägt. Zu erinnern sei an dieser Stelle an die ersten Wochen der Angriffe des IS, in denen die YPG- und YPJ-Einheiten einsam Widerstand leisteten und allseits die Meinung vertreten wurde, der Fall Kobanês sei nicht mehr aufzuhalten. Dieser Mythos wurde gebrochen. Die KurdInnen in Syrien haben ebenso wie die KurdInnen im Irak gezeigt, allen voran die Volksverteidigungseinheiten und -kräfte, dass es sich bei ihnen um die einzige militärische Kraft handelt, die den IS-Angriffen Einhalt gebieten kann. Besonders aus kurdischer Sicht trägt der Widerstand von Kobanê eine bedeutende Symbolik. Denn es partizipierten KurdInnen aus allen vier Teilen Kurdistans, individuell oder als Organisation, am Widerstand in einer Stadt, die an der äußersten Peripherie des kurdischen Siedlungsgebiets liegt. Insbesondere Anrainerstaaten Kurdistans scheinen vom Erfolg in Kobanê beunruhigt. Indessen haben gewisse kurdische Kräfte, die sich gegen die Einberufung eines gemeinsamen Nationalkongresses gewehrt hatten, angesichts der Forderungen der Bevölkerung Probleme, ihre diesbezügliche Haltung in ihrem eigenen Unterstützerkreis weiter zu legitimieren. Internationale Akteure sind gezwungen, ihre Haltung gegenüber der kurdischen Bewegung neu zu bedenken. So gelten die faktische Militärallianz mit den USA und die Einladung der PYD-Kovorsitzenden Asya Abdullah und der YPJ-Kommandantin Nesrin Abdullah nach Frankreich als Anerkennung und Legitimationsgewinn.

Nachdem seit der zweiten gescheiterten Genfer Konferenz (Frühjahr 2013) keine wirklichen Initiativen zu beobachten waren, weder auf US-amerikanischer noch auf russischer Seite, fanden im Januar in Kairo und Moskau zwei Konferenzen statt, zu denen die syrische Opposition eingeladen war. Nachdem zuvor der Türkei, Saudi-Arabien und Katar die Einflussnahme auf die syrische Opposition überlassen worden war, fungiert Ägypten unter Sisi erneut in dieser Rolle. Sowohl in Kairo, wo nach dem ersten Treffen ein Kongress für April angesetzt ist, als auch in Moskau fand ein erstes Briefing zwischen den verschiedenen Oppositionsgruppierungen statt. Eingeladen waren auch jeweils VertreterInnen der Partei der Demokratischen Einheit (PYD). Die KurdInnen sind in Syrien vom »factor« zum »actor« avanciert. Sie bilden indessen die stärkste Oppositionskraft Syriens. Weiter handelt es sich bei ihnen um die einzige Kraft in der Region, die den IS erfolgreich bekämpfen und zurückdrängen kann.

Ende Dezember starteten die zur PKK gehörenden Volksverteidigungskräfte (HPG) eine erneute Befreiungsoffensive in Şengal. Zu dieser Zeit waren mehr als 12 000 Menschen im Şengalgebirge vom IS eingekesselt. Ein Korridor wurde freigekämpft, über den pflegebedürftige und vor allem alte ZivilistInnen fliehen konnten. Die HPG und die Widerstandseinheiten von Şengal (YBŞ) haben durch ihre Offensive mehrere Gebiete vom IS befreien können. Aufgrund der geographischen Lage Şengals ist jedoch zu erwarten, dass seine vollständige Befreiung noch eine gewisse Zeit in Anspruch nehmen wird. Zwischenzeitlich fand eine Versammlung des êzîdischen Rats im Şengalgebirge statt. Dort beschlossen die etwa 200 anwesenden Delegierten die Gründung eines eigenständigen Kantons. Der Schutz soll von ÊzîdInnen selbst in Form der YBŞ gewährleistet werden. Zwar kritisierte der Präsident der südkurdischen Autonomieregion (KRG), Mesûd Barzanî, dieses Vorgehen, doch darf an dieser Stelle daran erinnert werden, dass die zur Demokratischen Partei Kurdistans (PDK) gehörenden Peschmergakräfte sich beim Anmarsch des IS kampflos zurückgezogen und die Bevölkerung dessen Angriffen wehrlos ausgesetzt hatten. Für den Massenexodus, die Ermordung mehrerer tausend Menschen, die Entführung und Vergewaltigung vieler junger Frauen macht die êzîdische Bevölkerung entsprechend vor allem die PDK verantwortlich. Dieser Vertrauensbruch und Legitimationsverlust wird sich in absehbarer Zeit nicht beheben lassen. Weiter gilt es abzuwarten, ob die PDK die Bereitschaft zeigen wird, einer Bevölkerungsgruppe, von der sie geschmäht wird, die Rückkehr zu ermöglichen. Zumal das Siedlungsgebiet der ÊzîdInnen außerhalb der kurdischen Autonomieregion liegt. Derzeit scheinen andere Gebiete als Şengal von größerer strategischer Wichtigkeit für die PDK zu sein.
Die Angriffe des sogenannten Islamischen Staates auf die Region um das irakische-kurdische Kerkûk dauern weiter an. Wie auch in Şengal kämpfen hier die Einheiten von HPG und Peschmerga Seite an Seite an derselben Front. Dadurch konnten zahlreiche Gebiete vom IS zurückerobert werden. Allerdings kritisierte Anfang Februar Murat Karayılan, der Vorsitzende der Volksverteidigungskräfte, das Fehlen einer gemeinsamen Kommandantur. Weiter erklärte er, dass der Exekutivrat der PKK über einen Abzug der Guerilla aus Südkurdistan diskutiere. An dieser Stelle ist anzufügen, dass die Peschmerga allein nicht in der Lage sind, den IS zu bekämpfen, wie es im Sommer sowohl in Mûsil (Mossul) als auch in Kerkûk zu beobachten war. Auf der einen Seite ist die KRG auf die militärische Unterstützung der PKK angewiesen, auf der anderen Seite beobachtet sie nur widerwillig die Einflussnahme der PKK in Südkurdistan. Das spiegelt sich vor allem in der medialen Berichterstattung der PDK-nahen Fernsehsender wider. Im Falle eines etwaigen Abzugs der PKK-Guerilla aus Südkurdistan ist ein weiterer Legitimationsverlust der KRG bei der Bevölkerung Südkurdistans vorprogrammiert.

Kurz vor der Befreiung Kobanês waren Gefechte zwischen YPG und syrischer Armee in Hesekê vermeldet worden. Es handelte sich dabei nicht um die erste Konfrontation zwischen ihnen, doch war es in dieser Region bisher noch zu keinen militärischen Auseinandersetzungen gekommen. Die kurdische Seite vermutet dahinter den Iran. Zeitgleich zu den Ereignissen in Hesekê griff das iranische Militär vermeintliche Stellungen der Verteidigungseinheiten Ostkurdistans in Sinê (Sanandadsch) an, am Folgetag bombardierte es das Kandilgebirge. Zur selben Zeit verstärkte die türkische Armee ihre Präsenz im iranisch-irakischen Grenzgebiet und nahm vermeintliche HPG-Stellungen unter Beschuss. In den vergangenen Jahren hatte sich hinter einem derartig gekennzeichneten militärischen Vorgehen oftmals ein gemeinsames iranisch-türkisches Konzept herausgestellt. Auffallendes Merkmal ist die Zeitgleichheit der Angriffe mit der Konferenz in Moskau. Der Iran befürchtet einen Statusgewinn der KurdInnen in Syrien mit Blick auf die Auswirkungen auf die Region und insbesondere auf Ostkurdistan. Mit der Gründung von KODAR (Kongress für Demokratie und Autonomie – Ostkurdistan) deklarierte die kurdische Freiheitsbewegung im Iran ihr Ziel der Demokratischen Autonomie ähnlich dem Konzept von Rojava.

Weiter berichten arabischsprachige Medien, dass Kommandeure der iranischen Revolutionsgarden Spezialeinheiten in Hesekê und Qamislo ausbilden sollen. Bereits Ende 2013 ließ das syrische Regime arabische Stämme um Hesekê bewaffnen. Diese Miliz agiert unter dem Namen »Muqenne« oder »Nationale Verteidigungskräfte«. Auch sie waren bei den Angriffen in Hesekê an der Seite des Regimes beteiligt. Summa summarum zeichnen sich Hinweise ab auf die Provokation eines arabisch-kurdischen Krieges in Syrien durch den Iran. Dieser dürfte die gemäßigtere Rhetorik des Westens gegenüber dem syrischen Regime mit Argwohn betrachten. Er fürchtet um seinen Einfluss auf Syrien.

Die Türkei dürfte die Befreiung Kobanês mit ähnlichem Missfallen beobachtet haben. Staatspräsident Erdoğan, für seine zynische Rhetorik bekannt, geht mittlerweile so weit, dass er sich gegen den Wiederaufbau der Stadt stemmt. Zwar ist der IS aus Kobanê vertrieben, doch weigert sich der türkische Staat weiterhin, seine Grenze für humanitäre Hilfe zu öffnen. Außer sporadischen Passiergenehmigungen, die darauf abzielen, erneute Proteste im Grenzgebiet zu vermeiden, untersagen die Grenzposten die Lieferung größerer Mengen humanitärer Hilfsmittel. Genauso wenig wie ihr »Konzept der strategischen Tiefe« (Buchtitel von Ministerpräsident Ahmet Davutoğlu, darauf basiert die Außenpolitik der AKP) sind die kurzfristigen Pläne der Türkei bezüglich Rojava und Kobanê aufgegangen. Ihre offensichtliche Unterstützung für den IS und andere dschihadistische Gruppierungen in Syrien haben zu ihrer internationalen Isolierung beigetragen. An dieser Stelle gilt es zunächst an das taktische Konzept der türkischen Außenpolitik zu erinnern. Der IS sollte mit der Invasion Kobanês nicht nur den Statusgewinn der KurdInnen in Syrien zunichtemachen. Gleichzeitig sollte so durch eine scheinbare IS-Bedrohung an der Grenze zur Türkei die Errichtung einer Pufferzone legitimiert werden. Somit wäre zum primären Ziel, den Statusgewinn der KurdInnen zu verhindern, die Besetzung Rojavas gewährleistet als auch der Sturz des syrischen Regimes forciert worden.

Das Kalkül der türkischen Außenpolitik ist nicht aufgegangen. Mit ihrer Herangehensweise hat sie für eine große Ablehnung, vor allem unter den westlichen Staaten, gesorgt. Diese Ablehnung wurde durch Äußerungen des türkischen Staatspräsidenten zur Luftunterstützung der US-geführten Anti-IS-Koalition für Kobanê befördert. Sinnbildlich für die Spannungen zwischen dem Westen und der Türkei war die Behandung Davutoğlus durch den französischen Staatspräsidenten François Hollande auf dem Gedenkmarsch für die Opfer von Charlie Hebdo, zu dem die Türkei noch nicht einmal eingeladen gewesen war. Auch im Syrienkonflikt hat die Türkei an Einfluss verloren. Die von ihr unterstützten Gruppen sind entweder von ihrer Unterstützung nicht mehr abhängig oder stark marginalisiert. Die Wahl Kairos als Austragungsort des Treffens der syrischen Oppositionsgruppen zeigt, dass auch in den internationalen Lösungsbestrebungen die Türkei an Bedeutung und Einfluss verloren hat. Vielmehr wird nach Lösungsmöglichkeiten gesucht, in die sie nicht mehr einbezogen ist. Unter Sisi könnte Ägypten wieder zu einem bedeutenden regionalen Akteur aufsteigen. Unter diesem Gesichtspunkt und in Anbetracht der zeitgleich verlaufenen türkischen und iranischen Angriffe auf kurdische Stellungen könnte davon ausgegangen werden, dass die Türkei eine Annäherung an den Iran sucht. Zwar haben die beiden Staaten unterschiedliche Interessen in der Region, doch missbilligt sowohl die Türkei als auch der Iran den Statusgewinn der KurdInnen in Syrien und das Projekt der Demokratischen Autonomie in Rojava. Entsprechend den politischen Entwicklungen in der Region und den konjunkturellen Veränderungen könnten der Iran und die Türkei nach den türkischen Parlamentswahlen im Sommer eine breit angelegte Militäroffensive gegen die kurdische Freiheitsbewegung starten.
Indessen lassen die Diskussionen in der türkischen Öffentlichkeit über die Entscheidung der Demokratischen Partei der Völker HDP, trotz Zehnprozentwahlhürde als Partei zu den Wahlen anzutreten, nicht nach. Abgesehen davon, dass der HDP-Kandidat für die Präsidentschaftswahl, Selahattin Demirtaş, etwa zehn Prozent der Stimmen erhalten hatte, würde ein Nicht-Einzug der HDP ins Parlament aus türkischer Sicht ein viel größeres Problem darstellen als aus kurdischer Sicht. Die Geschichte der kurdischen Freiheitsbewegung ist geprägt von Momenten mit und von Zeiten ohne parlamentarische Vertretung. Der Freiheitskampf lässt sich von einer solchen Repräsentanz nicht abhängig machen. Im Falle eines Nicht-Einzugs würden die KurdInnen nichtstaatliche Lösungsansätze für die kurdische Frage forcieren, ähnlich wie in Rojava. Der komplette Fokus würde dann auf dem Aufbau der Demokratischen Autonomie liegen. Dessen sind sich auch der türkische Staat und die AKP-Regierung bewusst. Weiter werden sie sich auch im Klaren darüber sein, dass, falls die HDP unter der Wahlhürde bleiben sollte, dies einen Legitimationsverlust für das gesamte Parlament mit sich bringen würde. Denn damit würde etwa ein Fünftel der Bevölkerung in der Türkei keine parlamentarische Repräsentanz finden. Sämtliche Angehörigen von Minderheiten und unterdrückten Gruppierungen wären im Parlament nicht mehr vertreten.

Neben einem Legitimationsverlust fürchtet die AKP den Einfluss kurdischer ParlamentarierInnen auf die Bevölkerung. Seit Gezi und spätestens seit den Protestaktionen im Oktober 2014 hat die AKP gemerkt, wie sehr ihre Macht ins Wanken geraten ist. Mehr als die Hälfte der Gesellschaft der Türkei betrachtet die AKP und Staatspräsident Erdoğan weniger als politisch-demokratische Repräsentanzen denn als Angriff auf ihre Wertvorstellungen. Die Türkei entwickelt sich immer mehr zu einer autokratischen Diktatur um die Person Erdoğan. Eben um dieser oligarchischen Entwicklung Einhalt zu gebieten, bedarf es einer Änderung des Status quo. Würde die HDP erneut mit DirektkandidatInnen zur Wahl antreten, würde sie die Anzahl ihrer ParlamentarierInnen nicht wesentlich erhöhen können. Sollte sie die Zehnprozenthürde nehmen, was zu erwarten ist, würde sie 20–30 ParlamentarierInnen mehr zählen. Was zu einer bedeutenden Mehrheitsverteilung führen würde. Als Gegenargument zu dem Einwand, die HDP gehe ein zu großes Risiko ein und ebne damit den Weg in ein Präsidialsystem, gilt anzumerken, dass die AKP dies mit ihrer absoluten Parlamentsmehrheit über ein Plebiszit sowieso erreichen könnte. Die Stärke der kurdischen Freiheitsbewegung drückt sich in der Vielfalt ihres Kampfes aus. Vor allem die gesellschaftliche Organisierung, in Kurdistan heute höher denn je, bildet den Kern ihres Erfolges.