Autobiographie von Hevala Sara (Sakine Cansız)

mein ganzes leben war ein kampf

Şervîn Nûdem

»Zu Anfang hatten wir nichts, wir hatten nur unseren Glauben, den Glauben daran, dass etwas falsch ist, und dass wir etwas Richtiges wollen. Unsere Einstellung war: ›Egal, auch wenn wir in diesem Kampf fallen, die Freiheit wird irgendwann gewinnen.‹ Es war so, dass alles Vorhandene uns gegenüber feindlich eingestellt war. Selbst unsere Familie wollte uns davon abhalten, an diesem Kampf teilzunehmen. Von dem her war es notwendig, alles infrage zu stellen, alles von Neuem anzufangen«, hatte die Begründerin der kurdischen Frauenbewegung Hevala Sara (Sakine Cansız) einmal in einem Interview gesagt, als sie danach gefragt wurde, wie sie persönlich die Entwicklungsgeschichte der kurdischen Freiheitsbewegung erlebt habe.

Wie geht es, aus dem »Nichts« etwas zu erschaffen? Wie konnte die ArbeiterInnenpartei Kurdistans PKK zu einer großen Massenbewegung werden, die die Utopie einer freien, sozialistischen Gesellschaft über den Zusammenbruch des Realsozialismus hinaus weiterentwickelte und mit Leben füllte? Was waren die Anfänge und die Grundlagen einer Revolution, die heute mit dem Widerstand in Kobanê und dem Aufbau eines alternativen Gesellschaftsmodells in Rojava für Menschen aus allen Teilen der Welt die Hoffnung auf ein Leben jenseits von Ausbeutung und Unterdrückung wieder zum Leben erweckt hat?

saraWer die Anfänge und Dynamiken dieser Geschichte verstehen möchte, sollte die Autobiographie von Hevala Sara lesen, die nun zum 2. Jahrestag der brutalen Ermordung der kurdischen Freiheitskämpferinnen Hevala Sara, Fidan Doğan und Leyla Şaylemez auch in der deutschsprachigen Übersetzung erschienen ist. Das Buch, dem die Autorin den Titel »mein ganzes Leben war ein Kampf« gegeben hat, bietet den LeserInnen die Möglichkeit, das Leben, die Auseinandersetzungen und die Entschlüsse einer außergewöhnlichen Frau kennenzulernen. Sie war eine wahrhaftige Revolutionärin.

Viele Menschen leben bzw. leiden unter den gleichen Bedingungen, jedoch treffen nicht alle die gleichen Entscheidungen. Was RevolutionärInnen auszeichnet, ist die Entschlossenheit, sich ungerechten Bedingungen nicht zu ergeben, sondern sie von Grund auf zu verändern. In diesem ersten ihrer auf drei Bände angelegten Autobiographie berichtet Hevala Sara von den Widersprüchen und Nachforschungen, die ihre Kindheit in Dersim in ihr auslösten. Der Genozid von Dersim, den ihre Eltern in ihrer Kindheit 1937–38 überlebt hatten, hatte tiefe Spuren nicht nur in ihrer Familiengeschichte hinterlassen. Die Geschichte der Massaker und des Unrechts durfte nicht schweigend begraben werden. Für Hevala Sara waren die Erinnerungen ihrer Eltern- und Großelterngeneration vielmehr Quellen, die ihr Bewusstsein über den Versuch des Staates schärften, die kurdische Identität, Kultur und Sprache zu verleugnen und auszulöschen. Hevala Sara gab sich nie mit dem Vorhandenen zufrieden, sondern wollte verstehen, sich eine eigene Meinung bilden und ihren eigenen Weg gehen. Von Anfang an kämpfte sie an vielen Fronten zugleich: In der Familie begann sie mit einem Aufstand gegen den Versuch der Eltern, ihr Leben vorzubestimmen. In der Schule folgte sie dem Rat der Mutter: »Schäme dich nicht dafür, Kurdin zu sein!«, und hinterfragte den Zwang, Türkisch lernen zu müssen, den sie als »eine einzige Folter« bezeichnete. Auf der Straße kämpfte sie gegen FaschistInnen und militaristische Staatsgewalt. In politischen Debatten mit der türkischen Linken kämpfte sie für die Anerkennung der kurdischen Identität. Demgegenüber beharrte sie in Diskussionen mit kurdischen Intellektuellen darauf, dass die kurdische Identität nur in Verbindung mit revolutionärem Bewusstsein einen Sinn ergebe. Folglich kämpfte sie in den Fabriken von Bornova für die Rechte der ArbeiterInnen und widersetzte sich staatlichen Einschüchterungsversuchen und der Repression.

Diese Kämpfe sind nie geradlinig. In ihrem Buch beschreibt Hevala Sara sowohl die politischen Ereignisse als auch ihre ganz persönlichen Gefühle und Gedanken, die der revolutionäre Aufbruch in der Türkei und in Kurdistan in ihr auslöste. Dieser Aufbruch war für sie zugleich ein Prozess der Selbstfindung und Subjektwerdung. Sie erkämpfte sich ihre eigene Persönlichkeit und Identität, indem sie fragend voranging. Letztlich fasste sie mit großer innerer Freude den unumstößlichen Entschluss: »Ich will Revolutionärin werden und niemand kann mich aufhalten!«

Mit ihrer persönlichen Entwicklung beschreibt Hevala Sara zugleich auch den schwierigen Prozess der Subjektwerdung eines unterdrückten und verleugneten Volkes. Sie erzählt, wie sie die ersten Kontakte knüpften, in der Illegalität Frauenkomitees und Lesezirkel in kurdischen Städten und Dörfern aufbauten. Sie lässt den/die LeserIn an der Freude und Aufregung teilhaben, die sie in den Begegnungen und der Zusammenarbeit mit den »ersten RevolutionärInnen Kurdistans«, wie Abdullah Öcalan, Mazlum Doğan oder Cemil Bayık, empfand. Insbesondere die genossenschaftlichen Beziehungen unter diesen RevolutionärInnen hatten für sie eine geheimnisvolle Ausstrahlungskraft. Denn die Frage, wie sie ihre Beziehungen von gesellschaftlichen Zwängen und emotionalen Abhängigkeiten befreien kann, spielte für Hevala Sara eine ganz zentrale Rolle. Sie berichtet von ihrer schwierigen Suche nach Alternativen zu den herkömmlichen einengenden Familienbeziehungen und der klassischen Rolle, die für Frauen vorgesehen ist.

Beim Lesen des Buches wird dem/der LeserIn deutlich, über welch aufmerksame Menschenkenntnis und Beobachtungsgabe Hevala Sara verfügte. Die Genauigkeit, mit der sie Details beschreibt, zeugt von ihrem aufrichtigen Interesse an Menschen und ihrer Lebensfreude. Den Gesamtzusammenhang im Detail und im Detail das Gesamte zu verstehen, das ist die Einheit von Leben und Kampf für eine freie Gesellschaft, der Revolutionärinnen auszeichnet. Wie auch in Hevala Saras Autobiographie deutlich wird, ist dies eine Eigenschaft, über die sie ganz besonders verfügte. Wenn wir das Geheimnis des Erfolges der kurdischen Frauenbewegung – einschließlich der Frauenverteidigungskräfte YPJ in Kobanê – verstehen wollen, dann können wir in »mein ganzes Leben war ein Kampf« viele der Details lesen, die das Fundament dieses Erfolges bilden. Deshalb ist die Autobiographie von Hevala Sara für mich ein Manifest der kurdischen Frauenbewegung.

sakine cansızSara covermein ganzes leben war ein kampf
1. band | jugendjahre
448 Seiten, Preis: 12 Euro
ISBN: 978-3-941012-98-1

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