Bericht über die Hamburger Konferenz im April 2015

DIE KAPITALISTISCHE MODERNE HERAUSFORDERN II

Michael Knapp

Zwischen dem 3. und dem 5. April fand an der Universität in Hamburg die zweite Konferenz des »Network for an Alternative Quest« statt. Unter dem Titel »Kapitalistische Moderne sezieren – Demokratischen Konföderalismus aufbauen« nahmen über die drei Tage verteilt bis zu 1000 Zuhörer_innen teil. Veränderung und Entwicklung der Auseinandersetzung mit der Idee des Demokratischen Konföderalismus seit der letzten Konferenz zeigten sich deutlich an der Teilnahme von Aktivist_innen und Interessierten aus verschiedensten Spektren. Der Prozess des Aufbaus einer gesellschaftlichen Alternative in Rojava und die entschlossene Verteidigung dieses Projekts u. a. in Kobanê scheinen auch in Europa einen Freiraum für neue Hoffnung und neue Konzepte erkämpft zu haben. Der Mythos vom »Ende der Geschichte« und Margaret Thatchers TINA (there is no alternative), also von der vermeintlichen Alternativlosigkeit des Kapitalismus, scheint im Bewusstsein vieler einen Rückschlag erlitten zu haben.

Dem Titel der Konferenz entsprechend standen Theorie und Umsetzung des Konzepts des Demokratischen Konföderalismus auf dem Programm. So standen die Ideen des PKK-Vorsitzenden Abdullah Öcalan und die praktischen Erfahrungen mit dem Konzept in Kurdistan zwar im Vordergrund, doch das bedeutet nicht, dass die Konferenz ausschließlich kurdistanzentriert war. Denn auf den Podien der insgesamt fünf Sessions waren sowohl Wissenschaftler_innen als auch Aktivist_innen aus verschiedenen Teilen der Welt vertreten. Dieser Bericht soll kursorisch einige der gehaltenen Beiträge zusammenfassen. Es wurde versucht, alle Referent_innen einzubeziehen, soweit das Material vorlag.

Die Veranstaltung begann mit Eröffnungsreden und Grußbotschaften. Nach der Begrüßung durch die Vertreterin des Verbandes der Studierenden aus Kurdistan (YXK) Gülistan Kahraman brachten der Völkerrechtler und ehemalige MdB Norman Paech und der Politologieprofessor und Mitglied des Wissenschaftlichen Beirats von ATTAC, Prof. Elmar Altvater, in Grußbotschaften ihre scharfe Kritik an der kapitalistischen Globalisierung und die Notwendigkeit des Aufbaus einer ökologischen, demokratischen und geschlechterbefreiten Alternative zum Ausdruck. Reimar Heider vom Organisationskomitee betonte, dass diese Konferenz einerseits praxisbezogener als die vorige sein solle und vor allem Ökonomie und Patriarchat in den Mittelpunkt stellen würde. Insbesondere das Symbol der Veranstaltung, die Triskele als neolithisches Symbol aus dem heutigen Irland, stelle einen Rückbezug auf vorstaatliche Lebensweise dar. Dabei wurde auf der Konferenz aber immer wieder klargestellt, dass es nicht um eine Verklärung neolithischer Lebensart gehe, sondern darum, den Staat als Konstrukt zu begreifen und sich dessen bewusst zu sein, dass die prästaatliche kooperative Lebensweise bis heute in vielen Facetten fortbestehe und dies eine Basis für den Aufbau einer emanzipierten Gesellschaft bilde. Alle Redner_innen machten deutlich, dass sich Abdullah Öcalan, der Architekt des Modells des Demokratischen Konföderalismus und PKK-Vorsitzende, auf der Gefängnisinsel Imralı in Isolationshaft befinde, und forderten seine sofortige Freilassung.

Abdullah Öcalan: Wahrheit ist Liebe, Liebe ist ein freies Leben

Die Konferenz selbst wurde mit einer Grußbotschaft Abdullah Öcalans eröffnet. Er erklärte u. a., dass der kapitalistischen Moderne, die durch ihre zerstörerischen Konsequenzen an die Grenzen der Fortführbarkeit gestoßen sei, eine demokratische Moderne entgegengesetzt werden müsse.

»Der demokratische Konföderalismus präsentiert die demokratische Nation als grundlegendes Instrument zur Lösung für die ethnischen, religiösen, städtischen, lokalen, regionalen und nationalen Probleme, die vom monolithischen, homogenen, monochrom-faschistischen Gesellschaftmodell herrühren, welches die Moderne über den Nationalstaat vermittelt. In der demokratischen Nation besitzt jede Ethnie, jede religiöse Vorstellung, jede städtische, lokale, regionale oder nationale Tatsache das Recht, sich mit ihrer eigenen Identität und ihrer demokratisch-föderalen Struktur zu beteiligen.« Er rief zu einer Revolution der Mentalität auf: »Wenn durch die Mentalitäsrevolution der demokratischen Moderne Philosophie, Kunst und Wissenschaft vergesellschaftet werden, können wir unseren Wahrheitsbegriff stärken und ein gutes und schönes Leben verwirklichen. Im Leben eines Menschen gibt es nichts Wertvolleres, als die Wahrheit über die Realität zu begreifen, in der er lebt. Die Suche nach Wahrheit ist die wertvollste Tätigkeit des Menschen. Eine kurze Definition des Menschen könnte lauten: Das Wesen, das Wahrheit ermöglicht. Wahrheit ist Liebe, Liebe ist ein freies Leben.«

Für eine kritische feministische Epistemologie

Schon zu Beginn der Konferenz stand die Forderung nach der Kreation neuer Formen der Wissensproduktion im Mittelpunkt. Damit wurde ein nicht nur von der Frauenbewegung Kurdistans aufgegriffener zentraler Punkt angesprochen, nämlich die Kritik an der traditionellen Herrschaftswissenschaft und die Entwicklung neuer Epistemologien wie der Jineolojî. Die Historikerin Dr. Muriel Gonzáles Athenas kritisierte die heutige Wissensproduktion als einer westeuropäischen, männerdominierten, dichotomisierten Denkart gemäß im Zuge der Aufklärung entstanden. Der entscheidende Faktor sei aber, die vermeintliche Objektivität zu verlassen und konsequent die Subjektposition einzunehmen. Auf diese Weise könne die Frage erforscht werden, wie die herrschenden Paradigmen eigentlich entstanden sind. Sie hob hervor, dass Geschlechterdifferenzierung eine entscheidende Rolle bei der Konstituierung von Staatlichkeit gespielt und sich dieser Widerspruch mit der Konstituierung der bürgerlichen Gesellschaft verschärft habe. Die Kategorie Geschlecht charakterisierte Gonzales als gesellschaftlich konstruiert und durch das Praktizieren erst existent. Daraus leitete sie den entschlossenen Appell ab: »Wir brauchen kein bestimmtes Geschlecht, Klasse etc., um Frieden zu fordern. Wir haben das Recht, eine solidarische und gleichberechtigte Gesellschaft zu fordern.«Session 1 Die kapitalistische Moderne sezieren

Kapitalismus ist nicht nur Wirtschaftsform, sondern Herrschaftsmodell

Kenan Ayaz, ehemaliger politischer Gefangener und Forscher zum Thema Menschenrechte, folgte mit einer Betrachtung des Kapitalismus nicht nur als ökonomisches Modell, sondern als Gesellschaftssystem. Er wies darauf hin, dass durch die Konzentration auf den ökonomischen Ausdruck des Kapitalismus entsprechende Herrschaftsmechanismen ausgeblendet worden seien, was zum Scheitern des Realsozialismus geführt habe. In seiner Analyse griff Ayaz vor allem das Modell des Nationalstaats an und kritisierte die historisch-materialistische Geschichtsauffassung, in der sich die Gesellschaftsformationen über den Feudalismus, die bürgerliche Gesellschaft zu Sozialismus und Kommunismus in Folge entwickeln, als eurozentristisch. Im historischen Materialismus wird der Staat als Notwendigkeit auf dem Weg zu einer freien, kommunistischen Gesellschaft betrachtet. Ayaz kritisierte hier, dass die zerstörerischen Folgen für die Bevölkerung durch das Modell des Staates außer Acht gelassen würden, der klassische Marxismus damit anfällig sei für etatistische Modelle und dadurch der Kapitalismus als Herrschaftsform durch den Realsozialismus perpetuiert werde. Stattdessen müsse auf die kooperativen Werte, die aus vorstaatlicher Zeit überdauert haben, zurückgegriffen werden.

Die Zukunft der Linken ist das Beste aus Marxismus und Anarchismus

Anthropologie- und Geographie-Professor David Harvey, einer der Begründer der marxistischen Geographie, machte deutlich, dass der Kapitalismus keine der aktuellen Fragen beantworten könne, da es keinen ethischen Kapitalismus mit Gewissen oder ökologischen Kapitalismus geben könne. Der Kapitalismus könne sein exponentielles Wachstum nur aufgrund der unbegrenzten Steigerung der Geldmenge realisieren. Deshalb stelle der Aufbau eigener Ökonomien einen der Schwachpunkte dar. Harvey hob hervor, dass eine intensive Analyse des kapitalistischen Systems Vorbedingung für eine soziale Transformation sei. Die Schaffung autonomer Systeme sei der beste Weg, eine Kapitalismusalternative zu entwickeln. In diesem Zusammenhang rief er zur weltweiten Unterstützung des Projekts von Rojava auf und bezeichnete das System in Rojava als eine Alternative zur durch die kapitalistische Moderne verursachten Krise. Er stellte die Angriffe des IS in direkten Zusammenhang mit dem Begehren des kapitalistischen Systems, Kontrolle über die Ressourcen der Region zu erlangen.

Imperialismus und Demokratie sind unvereinbar

Die indische Aktivistin und Wissenschaftlerin Dr. Radha D´Souza betonte, der Kampf von Rojava habe auch viele Jugendliche in Indien inspiriert. Sie hob hervor, dass das Modell des Demokratischen Konföderalismus Indien nicht fremd sei, sondern dem Leben der Gesellschaft, insbesondere der Landbevölkerung, entspreche und daher ein Ansatz sei, der wie in Kurdistan auch in Indien gelte. Bei allen alten in Europa und Nordamerika entwickelten Ideologien müsse sich die Frage stellen, inwiefern sie mit der Realität in den kolonialisierten Ländern zusammenpassen. Eine alternative Entwicklung zum Kapitalismus und zum Imperialismus betrachtet sie als dringend notwendig, denn Imperialismus und Demokratie seien unvereinbar. Sie kritisierte auch scharf die dekolonisierten Staaten wie Indien, die dem Bild der imperialistischen Mächte nacheiferten.

Nicht Religion führt zum Krieg, sondern ihre Instrumentalisierung

Anknüpfend an die Debatte um Tradition und Gesellschaft bewertete nun Rojda Yıldırım einerseits den aktuellen Ausdruck von Religion als von der staatlichen und patriarchalen Gesellschaft geprägt und zur Unterdrückung der Frau genutzt, andererseits charakterisierte sie das Phänomen Religion als menschheitsgeschichtliche Notwendigkeit. Glaube stelle ein menschliches Bedürfnis dar, während die aktuelle Ausprägung von Religion ein Mittel zur Unterdrückung darstelle. Dennoch sollte weder Religion per se verurteilt noch als unfehlbar angesehen werden, denn beides fuße auf der Einstellung des Dogmatismus und diene nicht der Konfliktlösung. In allen vorstaatlichen Gesellschaften sei der Mensch als Teil der Natur gesehen worden und habe nicht als Mittel zur Kriegsführung gebraucht werden können. Im Kern der Frage führe nicht Religion zum Krieg, sondern ihre Instrumentalisierung. Schon das Gottkönigtum und das Gottesgnadentum wiesen auf die Vereinnahmung von Religion zur Rechtfertigung der Klassengesellschaft hin. Deutlichstes Beispiel für eine solche Instrumentalisierung sei der IS, der sich selbst als radikalste Form der Religion begreife, aber nur einen Ausdruck imperialistischer Interessen im Mittleren Osten darstelle.

Was in Kobanê passiert, ist kein Wunder, sondern strategisches Projekt der letzten 40 Jahre

Nach der intensiven und inhaltlich vielfältigen ersten Sitzung »DIE KAPITALISTISCHE MODERNE SEZIEREN«, in der die Analyse von Patriarchat und Kapitalismus im Mittelpunkt gestanden hatte, folgte nun der zweite Block zum Projekt »DEMOKRATISCHE MODERNE«, die der kapitalistischen Moderne gegenübergestellt wird. Zunächst präsentierte die Ingenieurin, Journalistin, Frauenrechtsaktivistin und Sprecherin der Internationalen Initiative »Freiheit für Abdullah Öcalan – Frieden in Kurdistan« Havin Güneser in einem tiefgreifenden Vortrag den Paradigmenwechsel der kurdischen Freiheitsbewegung und die Bedeutung des Projekts des Demokratischen Konföderalismus und der Demokratischen Autonomie.

Sie hob die dynamischen Veränderungen in der kurdischen Bewegung als Stärke hervor. Aufgrund der erfahrenen Assimilierungspolitik entwickelte die kurdische Freiheitsbewegung einen kritischen Standpunkt zu Abhängigkeitsverhältnissen zu anderen Ländern und Mächten. Dies galt auch im Verhältnis der PKK zu den staatssozialistischen Ländern. So suchten folgerichtig Öcalan und die PKK in den 1990er Jahren eine zunehmend kritische Auseinandersetzung mit etatistischen staatssozialistischen Modellen. Der Versuch einer politischen Lösung wurde von Europa ignoriert und endete in Öcalans Verschleppung in türkische Isolationshaft.

In der Haft kam Öcalan zu der Analyse, dass der Staat mit seiner Ideologie und seinen Machtmechanismen ersetzt werden müsse. Ein freies Leben könne nicht mit den Machtmitteln der Unterdrücker_innen erreicht werden. Insbesondere die ideologische Hegemonie des Systems müsse bekämpft werden. An der Wurzel der Staatlichkeit stehe das Patriarchat, das die Basis für den Kapitalismus bildet. Das Patriarchat stelle also einen der systemischen Grundwidersprüche dar. Vor diesem Hintergrund ging Öcalan erneut auf die Suche nach alternativen Formen in der Geschichte. Er entwickelte angelehnt an Murray Bookchin den Begriff der demokratischen Zivilisation, deren Strukturen in Teilen im kollektiven Bewusstsein der Gesellschaft als Moral fortbestehen. Vor dem Hintergrund dieser Analyse muss die entstehende demokratische Zivilisation feministisch sein, jede Facette des Lebens muss auf einer demokratischen Grundlage neu geschaffen werden. Es wird ein eigenes Verständnis von Selbstverteidigung entworfen – das nicht auf der Institutionalisierung des Einsatzes von Gewalt beruht. Dazu gehört eine Veränderung des Bewusstseins, denn der Mensch weiß nicht mehr, wie die alltäglichen Angelegenheiten ohne den Staat organisiert werden können. Grundlegende Merkmale der Demokratischen Moderne müssen die Verbindung von Moral und Politik, eine ökologische Industrie, der Demokratische Konföderalismus und die Demokratische Autonomie sein. Die Demokratische Autonomie wird nicht beschränkt sein auf ein kleines lokales Gebiet. Alle Einheiten entscheiden, offen für verschiedene politische Formationen.

Grundpfeiler des kapitalistischen Systems sind Barbarei und Unmenschlichkeit

Die HDP-Abgeordnete und DBP-Kovorsitzende Emine Ayna folgte mit einer scharfen Kritik der kapitalistischen Moderne. Insbesondere machte sie die Notwendigkeit deutlich, dem hegemonialen Diskurs des kapitalistischen Systems entgegenzutreten und dessen Begrifflichkeiten zu zerlegen. Wenn dies nicht geschehe, sei es unmöglich, ein freies Leben zu schaffen.

Je mehr sich die Revolution durchsetzt, desto mehr gewinnt die Frau

Die Kovorsitzende der PYD, Asya Abdullah Osman, berichtete aus der Praxis der Demokratischen Autonomie in Rojava. Sie hob hervor, dass in Rojava ein Frauensystem aufgebaut wird und die Frauen eine führende Rolle in der Revolution spielen. Je mehr sich die Revolution durchsetze, desto mehr gewinne die Frau. Sie beschrieb Rojava als Bevölkerungsmosaik, und während in anderen Teilen des Mittleren Ostens und insbesondere Syriens die Menschen entlang identitärer Grenzen aufeinandergehetzt wurden, habe die Bevölkerung von Rojava durch ihr demokratisches Zusammenleben einen Bürger_innenkrieg verhindert. Vor diesem Hintergrund könne die Revolution von Rojava beispielhaft für ganz Syrien sein. Der Zentralstaat sei gescheitert, der Aufbau eines demokratischen Systems entlang der Bedürfnisse der Gesellschaft müsse im Mittelpunkt stehen.

Wer sich selbst führen will, muss philosophieren; wer philosophieren will, muss sich mit der Wahrheit auseinandersetzen

Aus der Praxis kam der Block nun zur philosophischen Betrachtung der Demokratischen Autonomie. Der Philosoph Michael Panser referierte zur Entwicklung einer Philosophie der Befreiung. Dabei setzte er sich insbesondere mit einer Interpretation der Philosophie der kurdischen Freiheitsbewegung mit Mitteln Michel Foucaults auseinander. Dabei stellte er die Definition von Staatlichkeit als soziale Praxis als zentrale Überschneidung zwischen Öcalan und Foucault heraus: »Der Staat selbst existiert nur als Praxis, das heißt, durch Menschen, die gemäß seinen Prinzipien handeln. Was Öcalan aus dem zivilisatorischen Prozess und Foucault aus dem Verständnis von Subjektivierung, das heißt Selbstwerdung, ableitet, trifft sich an diesem Punkt, gewissermaßen jeweils von der Makro- und der Mikroebene her.« Daraus schließt er, dass zur Befreiung der Gesellschaft vom Staat an die Stelle einer »staatlichen Gouvernementalität eine wirkliche sozialistische Gouvernementalität« treten müsse. Die Transformation der Mentalität treffe sich mit den Selbstführungskonzepten der kurdischen Freiheitsbewegung und finde ihren Widerschein in der Praxis der Akademien in Rojava: »Was in Rojava sehr beeindruckend zu beobachten ist und was gut funktioniert, ist das Akademie-System. Jede gesellschaftliche Gruppe, organisiert sich entlang von Betroffenheit, Arbeitsbereich oder Identität, hat ihre eigene Akademie, in denen Erkenntnisphilosophie im Sinne der Philosophie Öcalans eine Rolle spielt. Dadurch erschafft sich eine Gesellschaft einen eigenen Bedeutungsrahmen jenseits staatlicher Beeinflussung.«

Die Erfahrung der Kantone von Rojava bietet deutliches Beispiel für die Umsetzung des Demokratischen Konföderalismus

Es wurde schon mehrfach erwähnt, dass Öcalan sehr stark vom libertären Theoretiker Murray Bookchin beeinflusst wurde. Federico Venturini, Philosoph und Historiker, beschäftigte sich mit Bookchins Konzept einer Sozialökologie und der Demokratischen Autonomie im Spannungsfeld zwischen Theorie und Praxis. Zunächst kritisierte er, dass Bookchin und andere Theoretiker_innen der Sozialökologie ihre Analyse vor allem auf den Bereich der USA und Europa konzentrierten, eine weltweite Betrachtung jedoch dringend notwendig sei. Die einzige direkt von Bookchin beeinflusste Bewegung sei die kurdische Freiheitsbewegung. Die Erfahrung der Kantone von Rojava biete ein deutliches Beispiel für die Umsetzung des Demokratischen Konföderalismus mit Autonomie der Community, Community-basierter Ökonomie und der Emanzipation der Frau. »Die Anpassung von Prinzipen der sozialen Ökologie auf lokaler Ebene und an lokale Bedürfnisse ist der entscheidende Schlüssel zur Verbreitung dieser Idee. Dies können wir aus den Erfahrungen der Kurd_innen und der Zapatistas lernen, einem weiteren Beispiel autonomer Selbstverwaltung in der Praxis außerhalb des kapitalistischen Herrschaftsbereichs.«

Das Commons-Konzept ist weltweit verbreitet und es geht dabei darum, eine Gesellschaft zu gestalten, die nicht der Marktlogik folgt

Nach diesem Tag der intensiven und auch vielfältigen Auseinandersetzung mit dem Hintergrund der kapitalistischen Moderne, dem Patriarchat und der Betrachtung der Alternative der Demokratischen Moderne folgte nun am Samstag der dritte Block »ÖKOLOGISCHE INDUSTRIE UND KOMMUNALE ÖKONOMIE«, eröffnet von Silke Helfrich, Mitbegründerin der Commons Strategies Group sowie des Commons-Instituts e.V., mit einem Beitrag zur Praxis der Commons. Aufgrund ihrer langen Arbeit in Mexiko berichtete sie, dass dort das Konzept der Gemeingüterökonomie keine Randerscheinung sei, sondern sich etwa 60 % des Landes, auch aufgrund der Schwäche des Staates, in Gemeinbesitz befänden. Das Commons-Konzept ist weltweit verbreitet und es geht dabei darum, eine Gesellschaft zu gestalten, die nicht der Marktlogik folgt. Sie kritisierte, dass am Vortag kaum eine Auseinandersetzung mit dem Begriff des Privateigentums stattgefunden habe, und in diesem Zusammenhang definierte sie Commons als das, »was niemand allein gehören kann«. Commons sind eine soziale Praxis, die jetzt und heute realisiert wird. Sie unterstrich, dass das Commons-Prinzip den Aufbau einer polyzentrischen Infrastruktur fördere, indem Energieversorgung, ökologische Industrie, aber auch Wissen dezentralisiert würden.

Wir würden gern ohne Waffen und ökologisch leben, aber wir befinden uns im Krieg und müssen uns verteidigen, sonst werden wir vernichtet

In einer Liveschaltung zur Bağlar-Frauenkooperative (Bağlar Kadın Kooperatifi) in Amed (Diyarbakır) wurde direkt aus der Praxis des Aufbaus einer alternativen Ökonomie in Nordkurdistan berichtet. Insbesondere bauen die Frauen eine Reihe von Kommunen und Kooperativen auf, die mit ökologischen Mitteln landwirtschaftliche Produkte herstellen. Sie erklärten, dass sie ein ökonomisches Modell auf der Basis der Kommune, jenseits von Markt und Kapitalismus, errichten wollen. Gegen die kapitalistische Hegemonie seien alternative Theorien wie Öcalans Schriften notwendig. »Der Kapitalismus stellt sich so dar, als ob es nur nach kapitalistischen Methoden funktionieren könnte. Wir dagegen bauen Kurdistan auf. Wir haben erhebliche Erfolge, schlagen aber keinen Profit aus unserer Produktion.« Ab fünf Frauen könne eine Kooperative gebildet werden, achtzig Prozent des Einkommens gingen an die Frauen, zwanzig Prozent dienten dem Aufbau weiterer Kooperativen und eines alternativen Systems im Mittleren Osten. »Es geht dabei aber auch um die Stärkung der Position der Frauen. Es wurden Frauenräte gebildet und aus ihnen erwächst die Frauenökonomie.« Eine wichtige Quelle für Inspiration und Motivation stelle das Projekt von Rojava dar. »In Rojava wird ein neues Wirtschaftsmodell geschaffen und wir müssen uns selbst verteidigen. Wir würden gern ohne Waffen und ökologisch leben, aber wir befinden uns im Krieg und müssen uns verteidigen, sonst werden wir vernichtet. Der Krieg ist durch den Kapitalismus aufgezwungen.«

Arbeit produziert nicht nur Dinge, sondern vor allem Menschen

Prof. David Graeber stellte zentral heraus, dass Arbeit nicht nur Dinge, sondern auch Menschen produziere. Er leitete diese Form der Produktion aus der Geschichte des Kapitalismus ab und ging von der frühneuzeitlichen Subsistenzwirtschaft aus. Zu dieser Zeit habe sich das Problem gestellt, wie die Menschen zum Verkauf ihrer Arbeitskraft gebracht werden konnten. Dazu sei die Subsistenz durch Einhegung zerschlagen worden. Die Menschen seien als Industrieproletariat in die Städte geströmt, was dem Arbeitskräftemangel abgeholfen, jedoch zu einem legitimatorischen Problem geführt habe, da den Arbeitenden klar geworden sei, dass sie die eigentlich produktive Kraft sind und sich selbst organisieren können. Daraufhin habe sich der Diskurs um den genialen Industriellen entwickelt, der mit seinen Ideen große Werte schafft, die Arbeitenden seien dahinter verschwunden. Gleichzeitig sei eine Ideologie entwickelt worden, in der der Arbeit an sich ein Wert beigemessen wurde. So sei ein Mensch, der nicht arbeitete, als faul und als »Parasit« aus der Gesellschaft ausgeschlossen und eine Arbeitsdisziplin entwickelt worden. Der Kapitalismus werde durch uns jeden Tag erneut konstruiert. Bei jeder Revolution gehe es um eine moralische Transformation. Solche Transformationen fänden an Orten der Krise statt, wie im Arabischen Frühling, bei der Occupy-Bewegung, Griechenland, und nicht zuletzt werde in Rojava eine kollektive, kooperative Ökonomie aufgebaut.

Wir arbeiten an der Kreation eines Netzwerks, wollen nicht nur Fehler des Systems ausgleichen, sondern ein neues politisches System

Penny Vounisiou von der Gruppe »Plattform für Autonomie, Autarkie und Gleichheit« und der Kreter Bewegung gegen industrielle erneuerbare Energiequellen berichtete als Aktivistin über den Aufbau von Commons, der vor allem nach der Krise in Griechenland großen Schwung bekommen habe. Insbesondere in besonders angegriffenen Sektoren hätten sich Gemeinschaften gebildet. Sie betonte, dass diese Commons allerdings keine Ergänzung zum Kapitalismus darstellen sollten, sondern Alternativen. Dazu seien keine Parteistrukturen, sondern neue Modelle der horizontalen Vernetzung nach den Prinzipien Gleichheit, Autarkie und Autonomie notwendig. Dies sei eine zentrale Aufgabe ihres Netzwerks. Es solle die Commons verwalten und auf eine vollständige Dezentralisierung der Macht auf der Basis direkter Demokratie hinwirken. Dezentralisierung sei wichtig, denn nur die jeweilige lokale Bevölkerung verstehe die lokalen Besonderheiten und Probleme. Um autonom zu sein, müsse eine Gesellschaft alle Institutionen ablehnen. Autonomie könne nur durch Autarkie bestehen, da das Prinzip des Kapitalismus sei, Menschen durch Abhängigkeiten zu versklaven. Daher könne es keine freien Inseln im Kapitalismus geben. Jede Region müsse sich auch als Selbstverteidigungsregion definieren.

Demokratisierung der Gesellschaft schließt Demokratisierung der Ökonomie mit ein

Die Ökonomin und Aktivistin des Kongresses für eine Demokratische Gesellschaft (DTK) im Bereich Wirtschaft Azize Aslan trat zur Frage des Aufbaus einer demokratischen Ökonomie in Kurdistan auf. Sie begann mit einer Kritik des historischen Materialismus als zu deterministisch und wies auf Öcalans Ansatz hin, in dem Sozialismus nicht die Vorbedingung für die Überwindung der kapitalistischen Gesellschaft sei. Verstaatlichung stärke die Herrschaft und führe zum Bürokratismus, Sozialismus bedeute aber für Öcalan eine Demokratisierung der Gesellschaft und ein moralisches Leben. Die Demokratisierung der Gesellschaft schließe die Demokratisierung der Ökonomie mit ein. Eine demokratische Ökonomie sei eine kommunale Ökonomie, über welche die Gesellschaft entscheidet. Dies bedeute auch eine nichtentfremdete Produktion in Gemeinschaften. Dass die Frau aus der ökonomischen Sphäre verdrängt wurde, stelle nach Öcalan einen der tiefgreifendsten Widersprüche der kapitalistischen Gesellschaft dar und schaffe die Möglichkeit, die Frau als unbezahlte Arbeitskraft auszubeuten. Das Modell Rojava bilde einen wichtigen Riss im kapitalistischen System.

Nach einer angeregten Diskussion folgte Block vier »DIE STOLPERSTEINE REVOLUTIONÄRER THEORIE ÜBERWINDEN«, der sich mit Problemen revolutionärer Theorie auseinandersetzte. Zu Beginn kam eine Liveschaltung zu den Frauenverteidigungseinheiten YPJ in Kobanê zustande. Die Kämpferinnen wurden vom Publikum mit tosendem Applaus und Hochrufen willkommen geheißen. Auch sie berichteten vom Kampf um Kobanê und dem Kampf um die Befreiung der Frau.

Dann referierte der Journalist Ehmed Pelda über die Umsetzung einer ökologischen Ökonomie in Kurdistan.

Selbstverteidigungsprinzip kann sich auf keinen Staat stützen und beinhaltet nicht nur militärische Selbstverteidigung, sondern ist ein viel umfassenderer Komplex
Die langjährige kurdische Aktivistin und ehemalige politische Gefangene Fidan Yıldırım begann mit einer Diskussion des Begriffs der Selbstverteidigung sowie der Gewalt. Sie definierte Selbstverteidigung als natürliches Prinzip, dem die durch die Entwicklung der Eigentumsverhältnisse entstandenen zentralistischen Armeen gegenüberstehen, deren Zweck die Unterdrückung aufständischer Bevölkerungsgruppen ist. Sie kritisierte den Nationalstaat scharf und beschrieb Faschismus als drastischste Form des Nationalstaats. Gegen den Faschismus hätten die Menschen ihr Widerstandsrecht in Anspruch genommen. Das Prinzip der Selbstverteidigung könne sich auf keinen Staat stützen und beinhalte nicht nur militärische Selbstverteidigung, sondern sei ein viel umfassenderer Komplex. Im politischen Bereich könne sie Ausdruck des eigenen politischen Willens sein, Verteidigung der kommunalen Wirtschaftsform und der Kooperative gegen das kapitalistische System, Verteidigung der demokratischen Strukturen. Verteidigung könne also auch Bildung bedeuten, den Aufbau von Kommunen als Weg des unmittelbaren politischen Ausdrucks und auch den Aufbau autonomer Frauenstrukturen. Die Stärke des Prinzips der Selbstverteidigung zeige sich im Kampf gegen den IS.

YPJ sind höchster Ausdruck des Kampfes der Frauen gegen das Patriarchat

Die ehemalige politische Gefangene, Philosophin und Aktivistin der kurdischen Freiheitsbewegung Sara Aktaş setzte sich mit dem Verhältnis des Klassen- und Geschlechterwiderspruchs auseinander. Sie beschrieb die historische Durchsetzung des Patriarchats. Durch die Entstehung des Staates sei das Patriarchat institutionalisiert und durch die Entwicklung der monotheistischen Religion die Frau vollkommen verdrängt worden. Die Entstehung des Patriarchats sei der Entstehung der Klassengesellschaft vorangegangen. Das Patriarchat erscheine in allen gesellschaftlichen Beziehungen und transformiere diese in Ausbeutungsverhältnisse. Aus diesem Grund sei eine autonome Organisierung der Frauen notwendig. Wie Öcalan sage, die Geschichte der Ausbeutung der Frauen und des Patriarchats sei bis heute noch nicht geschrieben worden und deshalb sei eine eigene Epistemologie notwendig, die Jineolojî.

Krieg in Kurdistan hat für eine Region gesorgt, in der Staat und Kapitalismus daran gescheitert sind, sich zu reproduzieren

Die Soziologin Nazan Üstündağ schloss direkt an die Diskussion Sara Aktas' an und griff auf die Definition Öcalans der Frauen als der ältesten Kolonie zurück. Die Familie bilde die Keimzelle des Staates, in der Männer über Frauen herrschen und die Arbeit der Frauen ausgebeutet wird. Die Familie normalisiere den Begriff der Sklaverei durch ihren Umgang mit der Frau und der Benutzung der Frau als sexuell jederzeit ausbeutbares Objekt. Die sexuelle Ausbeutung werde durch den Diskurs der romantischen Liebe verschleiert und naturalisiere Unterdrückung. Nazan Üstündag erklärte, aus diesem Grund würden Mitglieder der Guerilla freiwillig auf Sexualität verzichten und am autonomen Aufbau anderer Werte arbeiten. Dies übe einen starken Einfluss auf die Gesellschaft aus, denn häufig lebten die Kämpfer_innen und ihre Werte in den Familien weiter, auch oder gerade weil sie sich nicht biologisch reproduzierten und sich damit auch der Kapitalismus nicht weiter durch die Familien reproduziere.

Kurdische Frauenfreiheitsbewegung verbindet Feminismus mit radikaler Systemkritik

Die Politologin und Historikerin Dilar Dirik hob in ihrem Beitrag zum Verhältnis von Feminismus und kurdischer Freiheitsbewegung hervor, dass die kurdische Frauenfreiheitstheorie über den Feminismus hinausgehe, ohne ihn zurückzuweisen, da sie ihn mit einer radikalen Systemkritik und der gleichzeitigen Kommunalisierung des Kampfes verbinde. Dabei werde vor allem versucht, die gesellschaftliche Basis zu politisieren und das Männliche zu transformieren oder bildlich gesprochen zu »töten« und gleichzeitig die Weltordnung in Frage zu stellen. »In diesem Sinne, wenn wir die weltweite patriarchale, nationalstaatliche, militaristische, neokoloniale und kapitalistische Ordnung herausfordern wollen, dann sollten wir uns fragen, welche Art von Feminismus dieses System hinnehmen kann und welche nicht. (...) So ist deutlich geworden, dass die kurdische Freiheitsbewegung nicht eine Gefahr für die internationale Ordnung darstellt, weil irgendein möglicher neuer Staat entstehen könnte, sondern wegen ihrer radikalen Alternative zu diesem Modell, eines Lebens, das explizit auf dem Ende von 5 000 Jahren systematischer geistiger und körperlicher Sklaverei aufbaut.«

Kobanê ist Symbol für die Verteidigung einer Idee

Während der Abend mit einem Konzert ausgeklungen war, begann der Sonntag mit einem Block zu »LEHREN AUS ALTERNATIVEN PRAKTIKEN«. Der Aktivist vom Verband der Studierenden aus Kurdistan (YXK) Arno-Jermaine Laffin führte in seinem Vortrag zur Geschichte des Internationalismus aus, dass Kobanê das Symbol für die Verteidigung der Idee der Demokratischen Moderne geworden sei. Demokratische Moderne definierte er als Summe der Widerstände, in denen die kapitalistische Moderne zurückgedrängt wird, wo Risse im System entstehen. Internationalismus sei der Ausdruck des gemeinsamen Kampfes gegen dieses System. Er beschrieb Jugend als eine mentale Kategorie, die bedeute, sich nicht mit dem Ist zufriedenzugeben, das Neue zu suchen und das Alte zu zerstören.

Vollständige nationale oder politische Befreiung und gesellschaftliche Emanzipation sind unmöglich ohne ökonomische Emanzipation, die wiederum unmöglich ist unter dem Joch des Imperialismus

Der Jurist Alex Mohubetswane Mashilo, Sprecher der an der dortigen Regierung beteiligten Kommunistischen Partei Südafrikas, erläuterte, dass der Sieg über das Apartheidsregime weder Ausbeutungsverhältnisse noch Klassenungleichheit in Südafrika beendet habe. Stattdessen sei ab 1990 viel internationales Kapital in Südafrika eingedrungen und eine korrupte Kompradorenbourgeoisie aufgestiegen. Er machte aufgrund dieser Erfahrung deutlich: »Vollständige nationale oder politische Befreiung und gesellschaftliche Emanzipation sind unmöglich ohne ökonomische Emanzipation, die wiederum unmöglich ist unter dem Joch des Imperialismus.«

Wir haben versucht, Faktoren zu minimieren, welche die Menschen migrieren lassen

Mustefa Ebdi, Minister für Regionalregierungen und Stadtverwaltungen in Kobanê, berichtete zum Thema der Umsetzung des Demokratischen Konföderalismus in den verschiedenen Teilen Kurdistans zunächst über die Aufbauphase im Jahr 2011: »Kobanê hatte zu dem Zeitpunkt 450 000 Einwohner_innen. Es wurden 13 Kommissionen gewählt. Zentrales Moment war, die Bevölkerung am besten infrastrukturell zu versorgen. Wir haben Jugend- und Frauenkomitees gebildet und Akademien wurden gegründet. Dann haben wir eine 40%-Frauenquote in allen Gremien umgesetzt. Wir haben versucht, Faktoren zu minimieren, welche die Menschen migrieren lassen. Wir bauten Projekte für Landwirtschaft, Viehzucht auf, Nähkooperativen, Supermärkte, Verteidigungseinheiten und Sicherheitskräfte. Wir haben uns im Syrienkrieg weder an die Seite des Regimes noch an die Seite der Opposition gestellt, da diese ebenfalls vom panarabistischen Chauvinismus geprägt ist.«

Auch Südkurdistan wirft die Probleme des Nationalstaats auf

Die Journalistin Necîbe Qeredaxi betonte insbesondere die durch den Nationalstaat verursachten Probleme im Mittleren Osten, den sie als eine Region voller Abhängigkeiten beschrieb, in der von den Mandatsmächten De-facto-Nationalstaaten gegründet worden waren, das Hegemonialsystem der Mandatsmächte aber bis heute fortbestehe. Auch Südkurdistan werfe die Probleme des Nationalstaats auf, es sei geprägt von Korruption, Klüngel und einem Alimentationssystem. Frauenrechte würden mit Füßen getreten (Suizid, Selbstverbrennung) und das Einkommen durch Erdölverkäufe bleibe im Alimentationssystem hängen.

Demokratischer Konföderalismus kann insbesondere für Iran geeignetes Modell sein, denn dort leben sehr viele verschiedene Religionen und Kulturen gemeinsam

Einen Blick nach Ostkurdistan/Iran ermöglichte Şêrzad Kemanger (PJAK), dessen Bruder Farzad, ebenfalls Menschenrechtsaktivist, aufgrund seiner politischen Ansichten im Mai 2010 vom iranischen Staat erhängt wurde. Er stellte heraus, dass der Demokratische Konföderalismus insbesondere für den Iran ein Modell sein könne, denn dort lebten sehr viele verschiedene Religionen und Kulturen gemeinsam. Allerdings bestehe im Iran ein schiitisches Herrschaftsmodell – demgegenüber organisiere sich KODAR auf der Basis des Demokratischen Konföderalismus. Auch hier werde auf ein nichtstaatliches Rätesystem abgezielt.Session 5 – Lehren aus alternativen Praktiken

Wir leisten Widerstand gegen staatliches System

Die DTK-Kovorsitzende, HDP-Abgeordnete und ehemalige politische Gefangene Selma Irmak tauchte in ihrem Vortrag nochmals in die Geschichte der Unterdrückungsverhältnisse ein und beschrieb die 5 000-jährige Geschichte des Staates als Geschichte des Patriarchats und der Enteignung der Gesellschaft. Dieser werde die gesellschaftliche Produktion entzogen und gegen Profit verkauft. Dagegen müssten eigene Strukturen jenseits des Systems aufgebaut und der Staat so systematisch verdrängt werden. Der Kongress für eine Demokratische Gesellschaft stelle eine solche Struktur dar; 501 Delegierte, Frauenquoten, Minderheitenquoten und ein konsequentes Rätesystem. Die Räte würden von unten nach oben gewählt. Die Perspektive für die Region Kurdistan sei ein Kurdistan bestehend aus verschiedenen Regionen, das durch einen Rat der Demokratischen Autonomie verwaltet wird.

Es ist keine zukünftige Revolution, kein Postkapitalismus, den wir aufbauen, es geht um eine Gegenposition und ein Überwinden des Kapitalismus im Hier und Jetzt

Prof. John Holloway, Kenner sozialer Bewegungen, insbesondere der Zapatistas, politischer Theoretiker und Aktivist, legte vor allem Wert auf die Gemeinsamkeit und die kollektive Teilnahme an den Kämpfen gegen den Kapitalismus weltweit. Den Umbruchprozess, den wir jetzt erlebten, bezeichnete er als den Vierten Weltkrieg. Das Kapital stoße durch die Zerstörungen, die es hinterlässt, immer mehr an seine Grenzen und produziere keine Krisen, sondern sei selbst die Krise. Gerade auch die Erfahrung in Mexiko mit dem Massaker von Ayotzinapa, bei dem 43 Studierende verschleppt und ermordet wurden, rechtfertige den Begriff des Krieges, denn dieses Massaker sei kein Einzelfall, sondern Teil einer Welle von Grausamkeiten, welche die Welt überzögen. »Ayotzinapa, Guantánamo, die Hunderte von Migrant_innen, die im Mittelmeer ertrinken, der Schaden, den die Austeritätspolitik für das Leben in Europa und insbesondere in Griechenland anrichtet, die Kriege im Mittleren Osten und so weiter ... All dies sind die Symbole der gewalttätigen Obszönität einer Welt, die vom Geld beherrscht wird. Der Vierte Weltkrieg ist kein symmetrischer Krieg und auch kein bewusst gesteuerter Angriff, sondern er ist der logische und kohärente Angriff des Geldes auf die Menschheit.«

Während das Kapital seine Krisen durch Gewalt und Täuschung zu lösen versuche, seien wir die Krise des Kapitals. Doch was wäre zu tun möglich; der Weg, die Macht im Staat zu erobern und eine andere Politik umzusetzen, scheitere an der Macht des Geldes. Es sei nur sehr beschränkt, was eine linke Regierung mit guten Intentionen wie SYRIZA gegenüber dem IWF erreichen kann. Der andere Weg ziele nicht auf den Staat, sondern auf die existierende soziale Formierung. Dieser Weg impliziere die Umsetzung einer neuen sozialen Praxis im Hier und Jetzt. »Die Welt, die wir schaffen wollen, ist eine Welt der Selbstbestimmung, wir organisieren uns mit Hilfe von Versammlungen und versuchen, andere Wege zu finden, unseren kollektiven Willen auszudrücken; das ist möglich, weil es hier schon eine Tradition der Selbstbestimmung in den Communities gibt.« Das bedeute aber auch, dass die Lösung der eigenen Probleme nicht an andere delegiert werden kann, weder an die kurdische noch an die zapatistische Bewegung. Es müsse darum gehen, im Hier und Jetzt eine andere Welt zu schaffen. Holloway beschrieb, dass zahlreiche Prinzipien der Zapatistas und der PKK sich ähnelten: dieselbe Betonung kollektiver Selbstbestimmung, die Anerkennung der zentralen Rolle der Frau und das gleiche Bestehen auf dem Respekt gegenüber anderen Lebensformen und der Umwelt.

Wir müssen anerkennen, dass selbst die Dörfer und städtischen Nachbarschaften konföderale Strukturen benötigen

Der Berater des bolivianischen Handelsministeriums Andrés Pierantoni Giua betonte den Aufbau und die Stärkung kommunaler Ökonomie in Bolivien und setzte sich intensiv mit den Ideen Öcalans auseinander. Auch er pflichtete dem Konzept des Aufbaus eines Konföderalismus bei: »Dieser Prozess wird den sozialen Zusammenhang beeinflussen und steht dem Kampf der Nationalstaaten um Homogenität gegenüber. Der Kampf um nationalstaatliche Homogenität kann nur durch Gewalt umgesetzt werden und führt zu einem Verlust an Freiheit. Ich habe schon erwähnt, dass die lokale Ebene der Ort ist, an dem Entscheidungen getroffen werden. Dennoch muss das Denken, das zu diesen Entscheidungen führt, in Beziehung zu den globalen Problemen stehen. Wir müssen anerkennen, dass selbst die Dörfer und städtischen Nachbarschaften konföderale Strukturen benötigen.«

Die libertäre Theoretikerin und Aktivistin Janet Biehl verglich in ihrem Vortrag das Modell Rojava mit dem Modell der Rätebewegung in Vermont.konferenz uebersetzer

Fazit

Die Tagung spiegelte den Erfolg der kurdischen Freiheitsbewegung und damit auch der von dieser geschaffenen universalen Werte wider. Während die erste Konferenz 2012 eher von einem Fachpublikum besucht worden war, war das Interesse heuer bis weit in verschiedenste Teile emanzipatorischer Bewegungen spürbar. Die Redner_innen brachten ihre unterschiedlichen oft kontroversen Ansichten zur kapitalistischen Moderne und dem Aufbau einer demokratischen Moderne zum Ausdruck und das, was alle einte, waren ein solidarischer Umgang miteinander und der gegenseitige Bezug aufeinander. Das ist vielleicht auch etwas, was die konföderalen Werte der kurdischen Bewegung auf die eine oder andere Art und Weise beeinflusst haben – Dissens zuzulassen und gemeinsam neue Ziele und neue Ansätze zu diskutieren. Kritisch wäre zu hinterfragen, ob sich eine Veranstaltung in Form einer vor allem frontalen Vortragsweise dazu eignet, in gemeinsame Diskussionen zu treten. Andererseits wäre die Simultanübersetzung in sechs Sprachen anders nicht möglich gewesen und die vielen Eindrücke von der Konferenz regen zur Praxis an.