Eirik Eigland auf der Konferenz »Die Kapitalistische Moderne herausfordern II«

Rojava ist eine kommunalistische und soziale Revolution

Fehmi Katar und Luqman Guldivê

Luqman Guldivê, Fehmi Katar und Eirik EiglandWir trafen den Autoren und Aktivisten der sozialen Ökologiebewegung Eirik Eigland auf der Konferenz »Die Kapitalistische Moderne herausfordern II« in Hamburg und sprachen mit ihm über seine Erlebnisse in Rojava und seine Gedanken zu den Perspektiven Abdullah Öcalans.

Es gibt eine Frage, die sicherlich oft gestellt wird: Die Menschen in Europa haben einen relativ hohen Lebensstandard und sie leben in relativer Sicherheit. Welchen Grund gibt es da, Widerstand zu leisten?

Es gibt ökologische und soziale Gründe. Es stimmt, materiell geht es uns in Europa besser als den meisten Menschen auf den anderen Kontinenten der Welt. Wir verfügen über ein Gesundheitssystem und ein Sicherheitssystem, durch die wir uns halbwegs sicher fühlen können. Vor allem in Norwegen, wo ich herkomme, sehen wir, dass dieses System wunderbar funktioniert. Aber ich glaube, dass innerhalb dieses Systems nicht die Möglichkeit besteht, als Gesellschaft zusammenzukommen. Die Gesellschaft hat es verlernt, als solche zusammenzukommen und gemeinsame Entscheidungen für sich selbst zu treffen.

Die Ökologie ist einer der Gründe, warum wir Widerstand leisten müssen. Egal wie »gut« unser Sicherheitssystem ist, irgendwann wird es gegen die Wand fahren. Wir können zwar unsere materiellen Reichtümer konsumieren, wie wir mögen, aber auch das wird unsere Zukunft nicht retten. Das ist keine nachhaltige Gesellschaftsform. Der Widerstand im Westen ist meiner Meinung nach kein ökonomischer Widerstand. Das darf er auch nicht sein. Er sollte ethisch sein, quasi eine moralische Verpflichtung.

Und wie bewertest Du Rojava aus einer sozialökologischen und kommunalistischen Perspektive?

Wenn ich ehrlich bin, hatte ich vor meiner Reise nach Rojava ein wenig Angst, die Realität mit meinen eigenen Augen zu sehen. Bevor ich nach Rojava gereist bin, hatte ich Angst davor, desillusioniert zurückzukehren. Ich kannte die Perspektiven Öcalans, seine freiheitlich-linken Ideen und die Schnittmengen zwischen der sozialen Ökologie und dem Demokratischen Konföderalismus. Aber was, wenn ich in Rojava nur eine klassische antiimperialistische, maoistische Revolution vorgefunden hätte, die sich lediglich rhetorisch des Demokratiebegriffs angenommen hatte? Eine andere Befürchtung war, dass ich infolge des BürgerInnenkriegs eine anarchistische Revolution in Rojava vorfinden würde, in der vielleicht einige Räte und Kooperativen hätten aufgebaut werden können, das Ganze jedoch über kein System verfügte.

Aber ich wurde vor Ort gleich dreifach überzeugt: Erstens wurde mir klar, dass die Rojava-Revolution eine soziale Revolution ist. Ihr Ziel ist es, alle Hierarchien außer Kraft zu setzen. Menschen aus allen Bereichen des Lebens, von Leuten mit Leitungsfunktionen, über Arbeiter und Arbeiterinnen in den Kooperativen bis hin zu den militärisch Verantwortlichen in der Stadt Serê Kaniyê (Ras al-Ayn), haben uns dieses Gefühl gegeben und diese Perspektive mit uns geteilt. Sie waren alle voller Selbstvertrauen und gewillt, tiefgreifende soziale Veränderungen zu realisieren. Das haben wir sehr deutlich zu spüren bekommen.

Zweitens wurde ich davon überzeugt, dass die Revolution in Rojava in jedem Fall eine kommunalistische Revolution ist. Die Menschen haben dort ihre kommunalen Strukturen aufgebaut, mit denen sie kommunale Politik betreiben. Natürlich würden meine Vorschläge für eine kommunalistische Politik in Norwegen oder Deutschland andere sein als jene, die in Rojava praktiziert werden. Aber in Rojava sind andere Gegebenheiten als Grundlage vorhanden. Das System in Rojava basiert stärker auf Rätestrukturen und gesellschaftlichen Gruppen. Sie haben ein demokratisches System entwickelt, das möglichst breite Kreise einzubinden versucht. Es ist vielleicht nicht das Paradebeispiel eines kommunalistischen Systems, es basiert aber ohne Zweifel auf den Grundprinzipien des Kommunalismus.

Drittens bin ich restlos davon überzeugt, dass die Revolution in Rojava eine Frauenrevolution ist. Besonders dieser Punkt machte mich neugierig. Ich wollte unbedingt mehr darüber erfahren. Im Westen herrscht das Bild des grausamen Umgangs mit Frauen im Mittleren Osten vor. Doch in Rojava gab es einen großen Respekt, eine Bewunderung für die Frauen. Die Gesellschaft dort ist von der Vorreiterrolle der Frauen überzeugt. Das merkte man in der sozialen Bewegung, in den Parteien, in der Politik und auch im militärischen Bereich.

Zusammengefasst hat mir meine Reise nach Rojava gezeigt, dass die dortige Revolution eine soziale Revolution ist, dass sie auf kommunalistischen Prinzipien beruht und dass die Frauen die Vorreiterinnen dieser Revolution sind.

Hattet Ihr auch die Möglichkeit, in Rojava das System in Funktion zu erleben? Wart Ihr beispielsweise auf einer Ratssitzung?

Ja, tatsächlich hatten wir diese Gelegenheit. Wir durften bei einer Sitzung des Stadtteilrats und einer Sitzung eines Frauenrats dabei sein. Die TeilnehmerInnenzahlen bei den Ratssitzungen waren allzu groß. Bei der Sitzung des Stadtteilrats habe ich zunächst 30 TeilnehmerInnen gezählt, später wuchs diese Zahl auf 50 an. Etwa ein Drittel der TeilnehmerInnen waren Frauen. So wie ich das gesehen habe, konnte jede/r aufstehen und ihre/seine Meinung frei zum Ausdruck bringen. Also, ich glaube, die Menschen aus Rojava sitzen auf dem richtigen Zug.

Ich konnte natürlich die Inhalte der Sitzung nicht komplett mitverfolgen. Aber was mich sehr gefreut hat, war, dass die Diskussionen sich wohl nicht auf einer abstrakt-theoretischen Ebene abspielten. Sie diskutierten darüber, wie sie ihr Leben besser regeln können. Diese Räte können sich durchaus noch weiterentwickeln und größer werden. Es ist zu merken, welches große Potential in diesem System schlummert. In meinem nächsten Buch will ich mich mit dem Kommunalismus der KurdInnen beschäftigen und mich mit der Beziehung der kurdischen Freiheitsbewegung zur sozialen Ökologie auseinandersetzen.

Du warst der Verleger von Murray Bookchins Werken. Welche Parallelen siehst du zwischen den Ansichten von Bookchin und Öcalan?

Ich finde Fragen wie diese ein wenig gefährlich. Denn nach Kobanê (Ain al-Arab) haben verschiedenste Kreise damit angefangen, sich über das Rojava-Modell eine Selbstbestätigung verschaffen zu wollen. Alle möglichen Gruppen fingen auf einmal an zu sagen: »Das ist genau das System, das wir auch die ganze Zeit verteidigt haben.« Das liegt natürlich auch daran, dass das Rojava-Modell die Kraft hat, viele linke Kreise zu inspirieren. Das habe ich auch bei meiner Reise gespürt.

Ich habe dort natürlich viele Leute über die Ideen Öcalans sprechen hören. Ich habe aber auch Menschen über die Ideen Bookchins reden gehört. Sicherlich hat Bookchin Öcalan beeinflusst, aber wir müssen auch sehen, dass Öcalan einigen von Bookchins Ansichten zustimmt, andere hingegen ablehnt. Das Projekt Öcalans ist ein eigenständiges Projekt und ich denke, dass Öcalan die Fähigkeit hat, sich unabhängig Gedanken zu machen und eigene Ideen zu entwickeln.

Eine Sache ist mir noch aufgefallen, das möchte ich auch zum Ausdruck bringen. Wenn wir mit Frauen aus den YPJ (Frauenverteidigungseinheiten) oder den Frauen in den Asayîş-Einheiten (Sicherheitskräfte) gesprochen haben, haben sie sehr selbstbewusst mit uns geredet. Sie gerieten nicht ins Stottern oder mussten sich von jemand anderem bestätigen lassen, wenn sie was zu sagen hatten. Dass diese Frauen so frei mit uns sprechen können, das sind Einflüsse der Ideen Öcalans. Das Aufbrechen der Hierarchien und des Patriarchats ist von herausragender Bedeutung für die Frauenbewegung dort. Es ist ohne Zweifel vor allem Öcalans Rolle, die das möglich macht.

Der Einfluss Bookchins auf Öcalan hängt meiner Meinung nach sowohl mit seiner Festnahme und Verurteilung als auch mit dem Guerillakampf zusammen. Bei diesem Kampf haben sehr viele Menschen ihr Leben verloren. Öcalan könnte im Gefängnis zu der Erkenntnis gelangt sein: Wir müssen für die Organisierung einer wirklichen Autonomie einen Weg finden.

Er hat versucht, einen neuen Weg zu finden. Und was er womöglich an Bookchin anziehend fand, ist, dass der die klassischen dogmatischen Ansätze aus der Linken wie den »Klassenkampf« oder die »Diktatur des Proletariats« überwunden hatte. Ich finde es nicht wirklich überraschend, dass Öcalan angefangen hat, sich mit Bookchin auseinanderzusetzen.

Bei der aktuellen Konferenz in Hamburg hast Du gesagt, dass Dir die KurdInnen 2012 etwas vorsichtiger vorkamen, heute aber hoffnungsvoller erscheinen. Was hast Du damit gemeint?

Ich war auch bei der ersten Konferenz dabei und habe damals über die kommunalistische Alternative und die kapitalistische Moderne gesprochen. In meinen Gesprächen auf und neben den beiden Konferenzen habe ich von der letzten zur aktuellen Konferenz einen wichtigen Unterschied gespürt. Beim letzten Mal erschienen mir die Menschen, so wie das oft üblich ist in der Linken, etwas vorsichtig und zurückhaltend. Fast so, als ob sie an keine wirkliche Alternative glauben, aber trotzdem ihren Kampf weiterführen wollen oder müssen. Aber dieses Mal habe ich gemerkt, dass diese Zurückhaltung einem neuem Selbstbewusstsein gewichen ist, das daran glaubt, dass diese Bewegung die Fähigkeit hat, die Gesellschaft zu verändern.