Über den Aufbau einer kommunalen Ökonomie in Kurdistan

Gemeinschaftseigentum und Gemeinschaftlichkeit

Interview mit Azize Aslan

Azize Aslan promoviert in Istanbul zum Thema »Wirtschaftspolitik der Demokratischen Autonomie« und ist Aktivistin beim Kongress für eine Demokratische Gesellschaft (DTK) im Bereich Wirtschaft. Auf der zweiten Konferenz »Die kapitalistische Moderne herausfordern« im April 2015 in Hamburg referierte sie über den Aufbau einer kommunalen Ökonomie in Kurdistan. In diesem Zusammenhang sprach Ellen Jae­dicke mit ihr für den Kurdistan Report.

Du hast heute auf der Konferenz über den Aufbau einer kommunalen Ökonomie in Kurdistan gesprochen. Die Frage eines demokratischen Wirtschaftssystems bildete in vielen Revolutionen einen nicht unwesentlichen Knackpunkt. Welche Ideen hat Abdullah Öcalan diesbezüglich entwickelt und welche Gemeinsamkeiten und Widersprüche siehst Du zwischen seinen Thesen und denen von Marx, Wallerstein und Braudel?

konferenz Session 3 Oekologische Industrie und kommunale OekonomieMein heutiger Vortrag hieß im Titel »Existiert eine Wechselwirkung zwischen Braudel, Wallerstein, Marx und Öcalan?«. Hierbei habe ich Öcalans Thesen betrachtet und versucht herauszufinden, an welchen Punkten Öcalan widerspricht oder aber sich von ihnen auch hat inspirieren lassen. Eigentlich begegnen wir dem Gedanken der kommunalen Ökonomie weder bei Marx noch bei Braudel oder Wallerstein. Wir können sagen, dass es in Ansätzen bei Marx Ideen dazu gibt in Bezug auf den Kommunismus. Aber bei Braudel und Wallerstein begegnen wir der Frage nach dem Aufbau einer kommunalen Ökonomie im Prinzip nicht, weil Braudel ein Historiker ist und Wallerstein ein den Kapitalismus analysierender Soziologe und Ökonom. Öcalans Ausgangspunkt ist da ein anderer, der wird durch seine Rolle als Vorsitzender einer Befreiungsbewegung bestimmt. Er hat ein Ziel und ein Problem, welches er lösen will. Dieses Ziel ist, Kurdistan und die Völker Kurdistans zu befreien und ein freies Leben zu ermöglichen. Um das zu erreichen, ist er bestrebt, eine Theorie und ein Paradigma zu entwickeln, und hat sich dafür mit sehr vielen Theorien auseinandergesetzt, insbesondere mit den Schriften von Marx, Braudel und Wallerstein zum Thema Ökonomie.

Inspiriert durch deren Schriften hat er versucht, eine eigene Theorie zu formulieren. Öcalan lehnt die kapitalistische Moderne ab und setzt ihr die demokratische Moderne entgegen. Um in seiner Kritik und seiner Vision einer befreiten Gesellschaft weiterzukommen, beschäftigt er sich sehr intensiv mit unterschiedlichsten ÖkonomInnen, ProfessorInnen und AktivistInnen.

In meinem Vortrag habe ich versucht, Parallelen und Widersprüche zwischen Öcalan und den drei genannten Theoretikern herauszufinden. Zum Beispiel lehnt Öcalan die Arbeitswerttheorie von Marx ab, diese Theorie beginnt im Grunde nicht mit Marx, vor ihm haben sie bereits andere PolitökonomInnen formuliert, aber mit dem Marxismus setzt sich diese Theorie in der Weltliteratur durch. Um diese Theorie herum wurden viele weitere kritische Kapitalismusanalysen entwickelt.

Dagegen stimmt Öcalan Braudels Annahme zu, der Kapitalismus habe den natürlichen Markt, den es in Urgesellschaften gab, zerstört. Diese Gesellschaften betrieben Tauschwirtschaft. David Graeber und andere sagen hingegen, dass es zu keiner Zeit eine ernsthafte Tauschwirtschaft gegeben habe. Sie sprechen von einer Schenkökonomie, als zentrale Wirtschaftsform in der Vergangenheit. Braudel beschreibt den Kapitalismus als einen Feind von Tauschwirtschaft. Öcalans Thesen sind da sehr viel weitreichender. Seiner Meinung nach richte sich Kapitalismus nicht nur gegen die Tauschwirtschaft, sondern gegen die Wirtschaft im Ganzen, denn er begreift Wirtschaft nicht nur bezogen auf den Markt, sondern auf die Gesellschaft. Die Gesellschaft erschaffe sich durch das Wirtschaften und stelle sich immer wieder von Neuem her.

Öcalan inspirierten Wallersteins Analysen über den globalen Kapitalismus. Nach Wallerstein existiert nicht nur die Geschichte von Klassenkämpfen im Gegensatz zu Marx und Engels, die im Kommunistischen Manifest schreiben »Die Geschichte aller bisherigen Gesellschaft ist die Geschichte von Klassenkämpfen«. Sondern es existiert zugleich auch eine Geschichte von sozialen Kämpfen. Diese sozialen Kämpfe sind wichtig, um eine Umwälzung im Gesamten herbeizuführen. Auch Öcalan beschreibt die Parallelität von Kämpfen wie z. B. den Widerstand der Jugend, der Frauen, der Natur. Die tatsächlichen Ziele dieser Kämpfe seien die demokratische Moderne und deren ökonomisches Modell, das Kommunale.

Wie verhält es sich zwischen all diesen Theorien hinsichtlich Haupt- und Nebenwidersprüchen?

Öcalan sagt, die Geschichte der Gesellschaften ist die von sozialen Kämpfen. Er negiert Klassenkämpfe nicht. Es gibt Klassen in der Gesellschaft und diese kämpfen auch gegeneinander. Das heißt, sie sind ein Teil aller Kämpfe. Wenn wir uns die Geschichte der Gesellschaften Kurdistans ansehen, sehen wir, dass es dort einen Kampf von Frauen gibt für ein selbstbestimmtes Leben in Freiheit. Ein weiterer wichtiger Kampf, welcher in den letzten Jahren sehr intensiv diskutiert wird, ist der Kampf um die Natur. In der Vergangenheit ging es um Umweltschutz. Heute reicht dies nicht mehr aus. Uns muss bewusst werden, dass der Planet, auf dem wir leben, genauso wertvoll ist wie wir Menschen, er selber lebt und ein Lebewesen ist. Wenn wir mit der endlosen Produktion von [materiellen] Gütern weitermachen, die der Kapitalismus mit sich bringt, erkennen wir der Natur in Wirklichkeit das Existenzrecht ab. Wir nehmen der Natur so die Kraft, sich selbst zu erneuern. Auf der Erde gibt es z. B. einen immensen Verbrauch von Kunststoffen. Die verbrauchten Kunststoffe schmeißen wir wahllos in die Umwelt. Es ist so, dass wir die Natur verschmutzen können. Dies wurde hunderttausende Jahre so praktiziert, auch um lebensfähig zu bleiben. Heute aber ist die Verschmutzung so schlimm geworden, dass sich die Natur nicht mehr erneuern kann, und das ist das eigentliche Problem.

Aus diesem Dilemma heraus betont Öcalan, dass die Natur einen eigenen Kampf führt und ein eigenständiger Organismus ist. Der Kampf der Natur ist nicht auf den Umweltschutz reduzierbar, sondern bedeutet auch den Kampf mit der Natur, um im Einklang mit ihr leben zu können.

Welche Rolle spielen die Frauen im Aufbau der demokratischen Ökonomie?

Ihre Rolle im Aufbau der demokratischen Ökonomie ist zentral. Die demokratische Ökonomie, oder wie wir auch sagen, die kommunale Ökonomie, ist zum einen wie gesagt eine Art und Weise, mit der Natur im Einklang zu leben. Wenn wir wissen wollen, wer ein Leben im Einklang mit der Natur aufbaut, führt uns Öcalan in die Geschichte und sagt, die Frauen haben tausende von Jahren die Natur beschützt und ein Leben im Einklang mit ihr erschaffen. Und aus dem folgt, wenn wir wieder ein Leben im Einklang mit der Natur leben wollen und die Ökonomie dieses Lebens die kommunale Ökonomie sein soll, dann wird die Frau ein solches Leben schaffen.

Und wie errichtet sie eine kommunale Ökonomie?

Wenn wir uns das heutige Wirtschaftssystem ansehen, dann sieht es so aus, als ob die Frauen nicht vorhanden wären. Es ist wesentliches Merkmal des Kapitalismus, Frauen unsichtbar zu machen. Frauen erbringen einen wesentlichen Teil der Wirtschaftsleistung. Meiner Meinung nach basiert sie zu 90 Prozent auf den Leistungen der Frauen.

Alle Arbeiten der Frauen im Haushalt und in der Familie macht sie mit einem kommunalen Verständnis. Sie produziert nur so viel, wie gerade benötigt wird. Wenn wir dies auf alle gesellschaftlichen Ebenen übertragen, kommen wir zu dem Ergebnis, dass das Verständnis der kommunalen Ökonomie das der Frau ist und sie uns an diese Art und Weise des Wirtschaftens heranführen kann. Also wird die Frau das eigentliche Gründungssubjekt unserer Wirtschaftsform sein. In Rojava gibt es in diesem Bereich große Fortschritte. Im Norden Kurdistans sind wir kleine Schritte in diese Richtung gegangen, und alle Schritte, die gegangen wurden, wurden von Frauen gemacht.

Du hast in Deinem Vortrag zwei wesentliche Fragen aufgeworfen. Die eine Frage war, wie können die Autonomen Regionen in Rojava vor dem Kapitalismus geschützt werden?

Das ist ein sehr wichtiges Thema, es ist auch ein Thema, über das ich mir sehr viele Gedanken gemacht habe. Die ganze Welt schaut mit Bewunderung nach Rojava und verfolgt den Prozess der Selbstbestimmung, also die Errichtung der Demokratischen Autonomie. Diese baut sich in Kommunen und Kooperativen auf, auf Grundlage eines kommunalen Verständnisses. Selbst ich aus dem Norden Kurdistans verfolge es mit Bewunderung.

Aber Rojava ist sehr ernsthaften militärischen Angriffen ausgesetzt von Jihadisten und anderweitig staatlich organisierten Gruppen, die sich in den angrenzenden Gebieten befinden. Sollten diese Angriffe einmal aufhören, werden andere Angriffe von anderen Systemen aus auf Rojava laufen. Über die Angriffe auf Kobanê haben wir gesagt, dass zwei Systeme gegeneinander kämpfen. Also, es ist ein Krieg gegen den Kapitalismus und die kapitalistische Moderne. Ein enormer Druck lastet auf Rojava.

Wie werden wir in diesem Falle Rojava stärken?

Rojava stellt einen riesigen Riss dar, der dem bestehenden System zugefügt wurde. Wir müssen jetzt diesen Riss weiter vergrößern. Je größer wir ihn machen, desto stärker wird die Region auch werden.
Rojava ist umgeben von den anderen Teilen Kurdistans und der größte Teil Kurdistans ist der Norden. Der Norden Kurdistans und Rojava entwickeln sich auf der Basis desselben Paradigmas, des Paradigmas Abdullah Öcalans. Aus diesem Grund muss eine »Luftröhre« vom Norden nach Rojava errichtet werden.

Wie soll das gehen?

Im Norden stellen wir in vielen Kommunen den Bürgermeister oder die Bürgermeisterin. Wir leiten die Verwaltung, im Grunde stellen wir dort eine Kraft dar. Und mit dieser Kraft müssen wir Rojava stärken. Dies werden wir nicht schaffen, indem wir Geld oder Waren nach Rojava bringen oder helfen, sondern nur, indem wir das soziale und gesellschaftliche Leben von Rojava und im Norden miteinander verbinden.

Und wie könnten wir das schaffen?

Das ist eine der Fragen, die ich mir schon sehr oft gestellt habe. Zum Beispiel, indem wir einen gemeinsamen Wirtschaftsraum bilden. Produkte, die im Norden gebraucht werden, könnten in Rojava gefertigt werden und umgekehrt. Dies könnten wir alles schaffen ohne ein Finanzsystem. Wir müssen es kommunal regeln. Aber es kommt mir so vor, als müssen wir dies erst einmal auf seinen Ursprung zurückführen und in unseren Gedanken bewerkstelligen.

Die Entstehung von Privateigentum hat in der Herausbildung von Herrschaftsverhältnissen eine wesentliche Rolle gespielt. Wie geht die kurdische Bewegung mit der Frage des Privateigentums um, gerade auch in Rojava?

Im Marxismus heißt es, dass Privateigentum und Produktionsmittel verstaatlicht werden sollen. Somit gäbe es kein Privateigentum und auch keine Ungleichheit mehr. Aber die Ungleichheit wird hierdurch nicht aufgehoben, sondern lediglich verschoben. Das heißt, so können wir die Ungleichheit innerhalb der Bevölkerung aufheben, aber wie schaffen wir es, die Ungleichheit zwischen dem Staat und der Bevölkerung zu überwinden?

Im Paradigma der Demokratischen Autonomie gibt es so etwas wie öffentliches Eigentum nicht. Ich kann nicht sagen, dass Öcalan sich sehr tiefgründig mit Eigentumsverhältnissen auseinandergesetzt hat. Aber er sagt, unser Modell der Eigentumsverhältnisse ist das des flexiblen Eigentums. Das setzt sich größtenteils aus Gemeinschaftseigentum zusammen, aber auch Privateigentum und Eigentum, welches die Gemeinschaften zur Selbstverwaltung benötigen. Aber Grundlage ist das Gemeinschaftseigentum. Darunter verstehen wir, was Silke Helfrich in ihrem Vortrag zu commons beschrieben hat: Es braucht Eigentum, das uns allen gehört und gleichzeitig niemandem. Von solcher Art Eigentumsverhältnisse sprechen wir.

In Kurdistan gibt es solcherlei Eigentumsverhältnisse. In Rojava z. B. gibt es Formen des Gemeinschaftseigentums. Nach der Ausrufung der Kantonsverwaltungen wurde zusammen mit den Kommunen in bestimmten Bereichen Gemeinschaftseigentum geschaffen. Alle Maschinen, die in der Landwirtschaft zum Einsatz kommen, die Produktionsmittel zur Erzeugung von Strom und Trinkwasser, das sind Bereiche, in denen es Gemeinschaftseigentum gibt. Aber Gemeinschaftseigentum besteht nicht nur aus materiellen Dingen. Wir haben die letzten drei Tage Gemeinschaftlichkeit erlebt. Wir haben versucht, es zu verstehen, zu erweitern, zu lesen und zu verbreiten. Wir dürfen Eigentum nicht, wie es der Marxismus tut, nur als Produktionsmittel oder Grundbesitz begreifen. Viel eher sollten wir unter Eigentum all das verstehen, was wir produzieren, verbrauchen und auch für unser Überleben brauchen. Aus diesem Grund ist ein grundlegendes Element der demokratischen Moderne das Gemeinschaftseigentum.

Gibt es etwas, was Du noch hinzufügen möchtest?

Ich denke, dass das Thema der kommunalen Ökonomie noch viel intensiver behandelt werden muss und wir viel weiter in die Tiefe gehen müssen. Denn wenn wir eine kommunale Ökonomie errichten wollen, dann müssen wir das in all seinen Facetten fassen können. Wir stehen noch am Anfang und haben ein sehr eingeschränktes Wissen darüber. Dies muss mehr werden – viel mehr. Aus diesem Grund wünsche ich mir in ganz Kurdistan einen Geist der Hingabe.