Interview anlässlich der Konferenz „Die kapitalistische Moderne herausfordern II"

„Ein Naher und Mittlerer Osten jenseits von repressiven Nationalstaaten und Imperialismus ist möglich"

Rosa Burc im Gespräch mit Dr. Thomas Jeffrey Miley

Wenn Nationalstaatsparadigmen nicht mehr haltbar sind und Föderalismus keine Lösung mehr ist: Weshalb Öcalans Modell des demokratischen Konföderalismus, aus demokratietheoretischer Sicht, die einzige Alternative darstellt.
Dr. Thomas Jeffrey Miley ist Dozent der politischen Soziologie an der Fakultät für Soziologie in Cambridge. Er erhielt seinen Bachelor von der U.L.A. 81995) und promovierte an der Yale University (2004). Er war wissenschaftlicher Mitarbeiter der Politik- und Verfassungsstudien in Madrid (2007–2009). Seine Forschungsfelder beinhalten die Themen vergleichende Nationalismen, Migrationspolitik, Religion und Politik sowie Demokratietheorien.

680 konfernzII Die kapitalistische Moderne herausfordernWie haltbar ist das Paradigma der Nationalstaatlichkeit in der heutigen Welt? Ist es an der Zeit, das Konzept des Nationalstaates zu überwinden?

Nun, das Konzept des Nationalstaates ist ein zweischneidiges Konzept. Geschichtlich betrachtet entstand es mit einem emanzipatorischen Versprechen, assoziiert mit dem Übergang der Souveränität aus den Händen der Monarchen und Aristokraten in die Hände des Volkes. Volk ist hier zu verstehen als die Nation. Dieses emanzipatorische Verständnis von Nationalstaatlichkeit steht hauptsächlich in Verbindung mit der französischen Revolution und dominiert das Denken des 19. Jahrhunderts. Nationalismus in Europa wurde aus diesem Grund stets mit demokratischen Werten und Forderungen assoziiert: Die Nation als Quelle der demokratischen Legitimation und die Ausübung von politischer Macht. Im Laufe des 19. Jahrhunderts wandelte sich jedoch das Verständnis von Nationalität weg von einem demokratisch emanzipatorischen zu einem partikularistisch ethnischen. Zum einen wurde die nationale Befreiung nur noch für eine homogen-ethnische Gruppe angestrebt und zum anderen begonnen die Machthabenden, Nationalismus für die Legitimation ihrer Macht zu instrumentalisieren. In vielen imperialen Ländern wurde Nationalismus auch ideologisch genutzt, um eine Unterstützung im Volk für ihre imperialistischen Projekte zu finden. So konstruierte Großbritannien das Konzept von „Britishness", damit es der Arbeiterklasse einfacher fiel, sich mit dem imperialistischen Projekt zu identifizieren. Ähnliche Prozesse finden ebenfalls in Russland statt, wo ein offizieller Staatsnationalismus vorherrscht. Dies ist die geschichtliche Dimension der Problematik von Nationalstaatlichkeit. Das Beispiel Europa illustriert außerdem, wie der Anstieg von Nationalismus einherging mit dem Aufkommen von Faschismus und dem Versuch von Staatsakteuren, mit Hilfe von Nationalismus Menschenmassen zu mobilisieren.

Mobilisieren, um für das „Nationalist Project" zu manipulieren?

Ganz genau, um die Massen für reaktionäre Projekte des Nationalstaates zu instrumentalisieren. Das Problem ist zurückzuführen auf den Übergang von „das Volk" zu „mein Volk" in einer Welt, in der unvermeidlich alles miteinander verbunden und intermixed ist. Jede Gesellschaft ist linguistisch, ethnisch oder religiös heterogen zusammensetzt – nicht zu vergessen, dass all diese Elemente gleichzeitig auch als Komponenten nationaler Identifikation gelten können. Die Bildung von Nationalstaaten im Zuge einer Sezession von einer imperialistischen Einheit löst in keiner Weise das Problem der ethnischen Minderheiten, sprich das problematische Verhältnis von Mehrheit und Minderheit. So werden lediglich neue Grenzen kreiert, wodurch wieder neue Mehrheiten und Minderheiten entstehen.

Kann behauptet werden, dass die Mechanismen, die Sie erwähnt haben, wie beispielsweise die Konstruktion von neuen Grenzen, die (Wieder-)Herstellung von Mehrheits-/Minderheits-Dichotomien oder die systematische Marginalisierung von bestimmten gesellschaftlichen Gruppen, eine systemeigene Charaktereigenschaft bzw. Funktionslogik von Nationalstaaten ist?

Ja, in gewisser Weise trifft das zu. Insbesondere wenn es um die nationale Komponente des Staates geht. Dann gibt es natürlich auch den Staat als solches. Wie ich bereits erwähnt habe, wird die Transformation größtenteils damit in Verbindung gebracht, wie die Akteure des Staates nationale Sentiments instrumentalisieren. Es handelt sich hierbei hauptsächlich um die Frage der Top-down-Nationenbildung. Ja, die Akteure, die den Staat kontrollieren, haben großes Interesse daran, mit Hilfe einer Ideologie ihren Machtanspruch zu legitimieren. Außerdem ist ebenfalls der Umfang des Regierens ein entscheidendes und zeitgenössisches Element des Nationalstaates. Zum einen handelt es sich um einen zu großen Umfang für eine demokratische Teilhabe und zum anderen ist es ein zu kleiner Rahmen für eine demokratische Kontrolle über die dominierenden Kräfte in der Welt. In diesem Zusammenhang ist die aktuelle globale neoliberale Dominanz in der Welt besonders im Auge zu behalten. Heute haben wir eine in sich vereinte und organisierte kapitalistische Klasse, die in ihrem Umfang transnational ist. Der Nationalstaat hingegen, wie bereits erwähnt, ist zu groß für effektive direkte Partizipation und deutlich zu klein, um die Kräfte der kapitalistischen Hegemonie zu regulieren, zu regieren und zu kontrollieren.

Wie schätzen Sie den Versuch einer Dezentralisierung von Staaten, sprich einer Föderalisierung als Mittel für eine Demokratisierung des Staates ein? Denken Sie, dass föderale Strukturen eine Alternative darstellen, oder basiert auch der Föderalismus auf den gleichen Paradigmen der Nationalstaatlichkeit?

Da, wo ethnonationale Minderheiten territorial konzentriert sind, kann Föderalismus vielleicht keine Lösung für die Probleme darstellen, jedoch als „working paradigm" beurteilt werden. Repräsentativen Demokratien wird durch Föderalismus ermöglicht, einerseits auf große Mehrheiten im Bund zurückzugreifen und gleichzeitig lokale Mehrheiten zu schaffen. Das aktuelle Problem von nationalen Minderheiten ist es, dass sie permanent nur als Minderheit im System existieren können. Föderale Strukturen wirken eben diesem Problem entgegen, da sie einen Raum schaffen, in dem es einer Minderheit ermöglicht wird, die Mehrheit innerhalb eines bestimmten Gebietes zu konstituieren. In diesem Sinne kann Föderalismus als ein Überwinden von mononationalen Projekten und als die Verteidigung eines eher multinationalen Konzeptes zur Staatsangehörigkeit verstanden werden.

Führt die Schaffung von lokalen Minderheiten innerhalb eines föderalen Systems dazu, die Problematik der Hegemonie und Hierarchie zu überwinden, oder kreiert es eigentlich nur ähnliche Spannungsfelder auf lokaler Ebene?

Es können ähnliche Spannungsfelder auf lokaler Ebene entstehen, ja. Aus diesem Grund stellt es in keinster Weise eine Lösung des Problems dar. Zudem sind lokale Mehrheiten stets motiviert, ihre Kompetenzen dazu zu nutzen, einen Nationalstaat innerhalb eines Nationalstaates zu schaffen. Wir können bestimmte Tendenzen dazu beispielsweise in Katalonien sehen. Grundsätzlich würde ich behaupten, dass Föderalismus mit Dezentralisierung Demokratie näherbringen kann, jedoch ist es gleichzeitig auch eine bemerkenswerte Verbundenheit zwischen Dezentralisierungsbestrebungen und kapitalistischer Hegemonie – insbesondere mit Blick auf Fragen der Demokratie. Demokratie besteht aus zwei Elementen, zum einen gleichberechtigte Partizipation, in diesem Fall: je lokaler die Regierungsebene, umso besser. Dann gibt es zum anderen neben dem partizipatorischen Element auch die Frage des Regierungsumfangs. Beispielsweise kann jedes Individuum in einer Versammlung seiner Stimme direktes Gehör verschaffen, doch ist die Regulierung von multinationalen Kooperationen in einer Versammlung äußerst schwierig. In den letzten Jahrzehnten konnten wir beobachten, wie neoliberale Projekte versuchen, durch Dezentralisierung Staaten zu schwächen – denn dezentrale und geschwächte Staaten sind einfacher zu kontrollieren und im Sinne der kapitalistischen Hegemonie. Es ist kein Zufall, dass die Welt genau dann in Nationalstaaten eingeteilt wurde, als die kapitalistische Hegemonie sich langsam, aber sicher etablierte – ganz im Sinne einer „Teile-und-Herrsche"-Logik. An dieser Stelle fallen mir Beispiele der wirtschaftlichen Föderalisierung ein, wo es um die Teilung der Ressourcen auf nationaler Ebene geht. So wollen die reicheren Staaten in den USA nicht mit den ärmeren Staaten diese Ressourcen teilen – hier sind die Staaten zu verstehen als föderale Subeinheiten. Dieses Beispiel illustriert den Zusammenhang zwischen Föderalismus bzw. Dezentralisierung und den Dynamiken des „Teile-und-Herrsche". Nichtsdestotrotz kann Föderalismus gewisse demokratische Reize schaffen, insbesondere bei Fragen der Partizipation. Da der Bund meistens einfach zu groß ist für eine effektive lokale Partizipation. Föderalismus bietet mehrere Ebenen des Regierens, kann jedoch auch ganz klar zur Entmächtigung des Volkes führen – insbesondere, wenn die föderalen Einheiten von Millionen bewohnt sind.

Sie sprachen über den Versuch der lokalen Mehrheiten, einen Nationalstaat innerhalb eines Nationalstaates zu schaffen bzw. eine wachsende Mehrheit für eine separatistische Agenda zu finden – was zur Zeit in Katalonien der Fall ist. Dies lässt darauf schließen, dass der Föderalismus keine zufriedenstellende Alternative im Hinblick auf eine demokratische Transformation darstellt. Welche Lehren lassen sich ziehen und wie müsste eine Alternative aussehen?

Das spanische Beispiel kann durchaus behilflich sein mit Blick auf die Situation der Kurden in der Türkei. Der türkische Staat verfolgt eine sehr starke mononationalistische Idee – die große Ähnlichkeiten mit dem unitären Nationalismus des Franco-Regimes aufweist. Entscheidend für die demokratische Transformation in Spanien war ein Vertrag zwischen demokratisch gewählten Repräsentanten der demokratischen Opposition, der im Verfassungsvertrag von 1978 für die Dezentralisierung und die Schaffung von föderalen Strukturen umgesetzt wurde. Diese Integration von nationalen Minderheiten sowie die Anerkennung von nationaler und linguistischer Pluralität und dergleichen war nicht nur unentbehrlich für den Verfassungsvertrag, sondern auch der Katalysator für eine demokratische Transformation. In diesem Sinne denke ich, dass es für die Kurden in der Türkei, die keinerlei linguistische Rechte haben oder auf keinerlei institutionalisierte Kontrollmechanismen zurückgreifen können, ein notwendiger Schritt wäre, dass die Zentralregierung in Ankara dezentralisiert wird. Gleichzeitig wäre es auch ein wichtiger Schritt in der Rekonzeptualisierung der Frage nach der gesellschaftlichen Zugehörigkeit, wie es auch in Spanien der Fall war. Dieser Prozess beinhaltet an erster Stelle das Überwinden der unitären nationalistischen Idee. Ich bin der Meinung, dass der türkische Nationalismus mit Blick auf die genannten Reformen viel von den spanischen Nationalisten lernen kann. Natürlich besteht jedoch weiterhin die Gefahr, dass Föderalismus zu sezessionistischen Tendenzen führen kann und neue Nationalstaaten mit der gleichen Problematik von Mehrheit und Minderheit entstehen. Der Fall Katalonien zeigt relativ deutlich, dass trotz einer Zeitspanne von 30–40 Jahren Frieden und repräsentativer Demokratie keine institutionelle Absicherung für ein „Zusammenleben" bestehen kann.

Wie ordnen Sie das Modell des demokratischen Konföderalismus ein, das zur Zeit in Rojava umgesetzt wird, und denken Sie, dass dieses Modell eine Alternative zur Problematik des Nationalstaates darstellt sowie einen staatlich gesteuerten Föderalismus überwindet?

Öcalans Modell des demokratischen Konföderalismus hat in gewisser Weise einige Überschneidungen mit der föderalen Idee – insbesondere deutlich in der Idee, verschiedenen nationalen Minderheiten politische Repräsentation zu gewähren. Gleichzeitig jedoch entfernt sich dieses Modell von einem territorialen Verständnis von Mehrheitsbildung und präsentiert eine radikalpartizipatorische Alternative zur Idee der repräsentativen Demokratie. Ich denke, dass Öcalans Modell im Grunde näher an einem austromarxistischen Verständnis über den Umgang mit Vielfalt ist und aus diesem Grund territoriale Bestrebungen nicht Teil der Idee sind. Die föderale Idee ist weiterhin eine Idee rund um das Verständnis von „In diesem Territorium stellen wir die Mehrheit". Öcalan hingegen hat in seinem Modell die Idee des Konföderalismus verbunden mit den Rechten der in einer Gesellschaft lebenden Mitglieder – also entterritorialisiert. Er überwindet mit seinem Modell die Mehrheits-/Minderheits-Logik, indem Minderheiten grundsätzlich Repräsentation, Partizipation und Organisation gewährleistet wird. Im Kontext des Nahen und Mittleren Ostens ist dies ein vielversprechendes Modell. Wir sehen, wie es aktuell in Rojava Früchte trägt. Egal, ob in Israel/Palästina oder einmal durch die gesamte Region, Öcalans Modell des demokratischen Konföderalismus bietet die einzige haltbare und tragfähige Alternative im Kampf zwischen verschiedenen nationalistischen und exkludierenden und hegemonialen Projekten. Außerdem darf nicht vergessen werden, dass dieses hoffnungsspendende Modell inmitten eines humanitären Desasters entstanden ist und umgesetzt wird. In Syrien und auch im Irak führte der Zerfall des Staates zur humanitären Katastrophe – im Grunde zum Hobbes'schen Alptraum. Aus diesem Setting heraus entwickelt sich eine politische Alternative, die sich in der Rojava-Revolution versinnbildlicht.

Trotz der Tatsache, dass die Kämpfe gegen den IS in Kobanê und Şengal anhalten, haben die Menschen vor Ort mit Rekonstruktionsmaßnahmen begonnen und implementieren gleichzeitig Öcalans Modell des demokratischen Konföderalismus in allen Bereichen des gesellschaftlichen Lebens. Sie waren in Rojava, wie haben Sie die aktuelle Situation wahrgenommen?

Ich war extrem beeindruckt von der revolutionären Disziplin und der kollektiven Mobilisierung eines Volkes, welches sich bewaffnet hat, um gegen eine existentielle Gefahr und für die Existenz eines gesamten Volkes zu kämpfen. Gleichzeitig war es überaus beeindruckend, dass trotz der humanitären Tragödien, die das Leben jedes Einzelnen betreffen, die Menschen sich für ihr Überleben mobilisierten und dies im Streben nach ehrenvollen und großartigen Werten wie beispielsweise der Herstellung einer multikulturellen, multiethnischen und multireligiösen Gesellschaft. All diese Bestrebungen haben rund um den ideologischen Kern der Revolution – sprich die Emanzipation der Frau – stattgefunden. Dies hat insbesondere im Kontext des Nahen und Mittleren Ostens etwas unglaublich Beflügelndes und Großartiges an sich. Mit Blick auf die Legitimationsbestrebungen imperialistischer Dominanz in der Region, wie beispielsweise das Verständnis von „Die Menschen im Nahen Osten wissen nicht, was Emanzipation ist, und auch nicht, wie sie ihre Frauen zu behandeln haben", beweist die Rojava-Revolution das Gegenteil.

Lässt sich sagen, dass es erst durch die Rojava-Revolution – vielleicht zum ersten Mal – möglich geworden ist, die orientalistische Haltung gegenüber dem Nahen und Mittleren Osten zu überwinden? Handelt es sich bei der Revolution in Rojava um einen emanzipatorischen Moment, der über Kurdistan hinausgeht?

Mit Blick auf die Frage der Emanzipation der Frau sowie auf die Frage, „ob die Menschen dort drüben überhaupt in der Lage sind, sich selbst zu regieren", leistet die Revolution in Rojava durchaus einen erheblichen Beitrag, um mit dem Orientalismus zu brechen. Dies liegt hauptsächlich daran, dass ein Selbstverwaltungsprojekt etabliert wurde, in dem die Emanzipation und Partizipation von Frauen von Anfang an institutionell garantiert ist. Diese Art des revolutionären Konstitutionalismus ist eine sehr interessante Entwicklung, insbesondere weil Konstitutionalismus meist nur mit repräsentativen Demokratien in Verbindung gebracht wird, die zwar viel Repräsentation, jedoch ganz wenig Demokratie aufweisen. In Rojava handelt es sich um ein direktdemokratisches Modell, welches zur gleichen Zeit die Rechte der Frauen und ethnischen sowie religiösen Minderheiten konstitutionalisiert. Ich denke, dass dieses Modell definitiv als ein dritter Weg zwischen den autokratischen Tyrannen, die in den letzten Jahrzehnten über die gesamte Region geherrscht haben, und der imperialistischen Hegemonie, die Grund für zahlreiche unfreie Situationen in der Region war, fungieren kann. Auch bietet es eine Alternative zum politischen Islam, sprich für ein Politikverständnis, welches zum einen reaktionär funktioniert und zum anderen von den Saudis und von Katar propagiert wird. Öcalans Modell des demokratischen Konföderalismus ist ein dritter Weg, eine Alternative, die viel attraktiver ist als alle Entwicklungen im Nahen und Mittleren Osten des letzten Jahrhunderts – insbesondere nach der kriminellen Invasion des Irak.

Wenn wir nun einen Schritt weiter, also über die Region Kurdistan hinaus gehen – mit Blick auf andere Konflikte, wie beispielsweise Israel-Palästina oder andere ähnliche Problemfelder –, denken Sie, dass Öcalans Idee des demokratischen Konföderalismus das Potential mitbringt, Lösungen für solche Konflikte oder sogar Frieden in der Region zu initiieren?

Im Hinblick auf den Israel-Palästina-Konflikt kann mittlerweile gesagt werden, dass eine Zwei-Staaten-Lösung nicht mehr wirklich auf der Liste der Lösungsmöglichkeiten steht. Gleichzeitig sehen wir einen zunehmenden zionistischen Nationalismus im Kommen. Nichtsdestotrotz stellt sich die Frage, was die Gründung eines palästinensischen Staates eigentlich für die palästinensische Freiheit bedeuten würde. Ich denke, dass der demokratische Konföderalismus eine Alternative darstellt, die einerseits assoziiert werden kann mit einer „Ein-Staat"-Lösung und andererseits mit einer „Kein-Staat"-Lösung. Es handelt sich insoweit um „einen Staat", als es sich nicht um eine sezessionistische und separatistische Herangehensweise an den Konflikt handelt. Gleichzeitig mündet das Modell jedoch auch in eine „Kein-Staat"-Lösung, da es hier nicht unbedingt um ein Staatsmodell geht, sondern um eine Selbstverwaltung basierend auf radikaldemokratischer Teilhabe.

Was dann möglicherweise zu Freiheit in einem weiteren Sinn führt?

Absolut. Ich denke, dass so eine realisierbare und tragfähige Alternative aussehen könnte, insbesondere für Konflikte wie in Israel und Palästina oder woanders. Nichtsdestotrotz ist es natürlich sehr schwer, nationalistische Kreise, beispielsweise in Israel oder der Türkei, dazu zu bringen, von ihrem nationalistischen Hegemonialanspruch abzurücken. Der türkische Fall, sprich türkische Nationalismus, hat große Ähnlichkeiten mit dem israelischen Nationalismus. Ich denke, dass die Türkei und der türkische Nationalismus noch viel zu lernen haben von Öcalans Modell des demokratischen Konföderalismus. Im Hinblick auf den künftigen Nahen und Mittleren Osten ist es notwendig, die arabische Bevölkerung, insbesondere die sunnitische Mehrheit, mit an Bord zu nehmen. Ich sehe hier die größte Herausforderung für die Revolutionäre in Rojava. Wie kann die Botschaft der Rojava-Revolution in der arabischen Welt verbreitet werden? Ich denke, das ist ein Dilemma für die kurdischen Revolutionskräfte, welches sich auch im Zuge der Kollaboration mit den amerikanischen Machthabern, der NATO-Allianz und der Kurdistan-Regionalregierung im Irak bei der Verteidigung der Stadt Kobanê abgezeichnet hat. Einerseits ist diese Kollaboration ohne Diskussion hilfreich und notwendig gewesen für die revolutionären Kräfte vor Ort, insbesondere um die heftigen Angriffe des IS abzuwehren. Andererseits führt eine augenscheinliche zu starke Kooperation mit den imperialistischen Kräften dazu, dass die arabische Mehrheit in der Region opponiert – insbesondere wenn es in den Augen der sunnitisch-arabischen Bevölkerung um die Legitimität der Revolution geht. In meinen Augen ist es offensichtlich, dass die starke Sympathie mit dem IS innerhalb der sunnitisch-arabischen Bevölkerung hauptsächlich daher kommt, dass der IS eine scheinbare – und ich betone hier „scheinbare" – Ablehnung von Imperialismus symbolisiert. Scheinbar aus dem Grund, da durchaus bekannt und offensichtlich ist, dass hinter dem IS Saudi-Arabien, Katar und der NATO-Partner Türkei als Unterstützer der IS-Angriffe stecken, worauf viele Revolutionäre vor Ort in Rojava stets mit Beweisen aufmerksam machen. Aus diesem Grund denke ich, dass es unheimlich wichtig ist, den IS-Unterstützern und Sympathisanten die Verbundenheit des IS mit imperialistischen Kräften hinter seiner antiimperialistischen Maske deutlich zu machen. Ich würde sogar so weit gehen und sagen, dass die Zukunft der Rojava-Revolution daran hängt, wie erfolgreich die Botschaft über Rojava hinaus verbreitet wird und somit das Modell des demokratischen Konföderalismus nicht nur in Rojava und Kurdistan Fuß fasst, sondern im gesamten Nahen und Mittleren Osten – und zwar nach der fortschrittlichen Vision Abdullah Öcalans.

Handelt es sich nicht bereits systembedingt um ein antiimperiales Projekt, das Öcalan mit seinem Modell des demokratischen Konföderalismus vorstellt? Insbesondere mit Blick auf die Mechanismen, die systematisch jegliche hierarchischen und hegemonialen Strukturen umwerfen sowie auf die lokale und kommunitäre Ebene zurückgehen, um hier u. a. direktdemokratische Strukturen und dergleichen zu nennen.

Definitiv. Als [US-]amerikanischer Staatsbürger ist es für mich durchaus durchsichtig, aus welchem Grund die Region in Flammen steht und dass starkes Interesse an regionaler Instabilität herrscht. Die wichtigste Frage jedoch steht in Verbindung mit der Tatsache, dass es sich hier um eine Region handelt, die durchweg reich an natürlichen Ressourcen ist, Erdöl insbesondere. Aus diesem Grund versuchen die imperialistischen Kräfte alles in ihrer Macht Stehende, dass die Bevölkerung über keine eigene Kontrolle über die Ressourcen verfügt. Dies trifft insbesondere zu, wenn die Bevölkerung die Etablierung eines demokratischen Konföderalismus anstrebt, welcher gleichzeitig auch umweltfreundlich ist. Das ist nämlich auch eine weitere wichtige Dimension. Es geht nun darum zu verdeutlichen, dass die Kollaboration mit neoliberalen Mächten, u. a. auch mit der Kurdistan-Regionalregierung zu einer Zeit, als diese ihre Brüder und Schwestern in Rojava betrog, weil die türkische Regierung sie dazu gezwungen hat, nur ein kurzzeitiges Instrument zur Verteidigung der Revolution war. Nur dann sehe ich die realistische Möglichkeit für die Rojava-Revolution, über Kurdistan hinaus Früchte zu tragen.

Würden Sie dem zustimmen, dass Öcalans Modell des demokratischen Konföderalismus nicht nur eine Alternative für das Paradigma zentralisierter Nationalstaaten, sprich die Realitäten antidemokratischer Nationalstaaten, darstellt, sondern zusätzlich noch die Möglichkeit bietet, den imperialistischen Einfluss in der Region zu minimieren?

Das ist unsere große Hoffnung. Die Realisierung der radikaldemokratischen Ideale der Rojava-Revolution kann nur einhergehen mit einer starken Opposition zum Imperialismus. Aus diesem Grund, ja, ich denke, dass die Durchsetzung der revolutionären Werte den Einfluss und die Kontrolle imperialistischer Kräfte minimieren, wenn nicht sogar beenden würde. Um es noch mal zu betonen, als [US-]amerikanischer Staatsbürger sehe ich jedoch auch ein großes Problem mit dem Konsens für das imperialistische Projekt in den USA, auch wenn die meisten [US-]Amerikaner eigentlich selbst durch dieses Projekt und ähnliche Machtmechanismen entfremdet und unterdrückt werden.

Dieser „dritte Weg", so wie Sie es genannt haben, der von Öcalan vorgeschlagen wird und bisher im Kurdistan-Kontext und für den Nahen und Mittleren Osten diskutiert wurde, könnte im Grunde auch ein alternatives System für die repressiven Machtmechanismen, die überall auf der Welt vorherrschen, sein?

Genau. Öcalans Modell des demokratischen Konföderalismus überwindet die Grenzen des Nationalstaates, die Grenzen der Limitation repräsentativer Demokratien und bietet eine Alternative zur kapitalistischen Moderne. Der letzte Punkt ist unheimlich wichtig für uns, wenn wir uns als Menschheit mit den großen Problemen, die uns in unserer Existenz bedrohen, auseinandersetzen wollen – um zu überleben: ökologische Nachhaltigkeit als ein entscheidendes Problemfeld, die Frage nach dem Umgang mit Technologien der Vernichtung als ein weiteres Thema – mehr oder weniger die Fragen der menschlichen Emanzipation, um auch eine alte marxistische Terminologie verwendet zu haben. Diese Fragen werden alle im demokratischen Konföderalismus nach Abduallah Öcalan aufgegriffen. Während diese Themen einen entscheidenden Bestandteil des demokratischen Konföderalismus darstellen, werden sie in der liberaldemokratisch kapitalistischen Hegemonie bewusst ignoriert.

Vielen Dank für dieses Gespräch.


Rosa Burc hat ihren M.Sc. in International Politics an der SOAS, University of London. Derzeit ist sie wissenschaftliche Mitarbeiterin am Institut für Politische Wissenschaft und Soziologie der Universität Bonn. Sie promoviert am Lehrstuhl für Regierungslehre im Bereich der Transformations-, Nationalismus- und Föderalismusforschung.