Aktuelle Bewertung

Ein Volk ohne Namen schreibt Geschichte

Nilüfer Koç

Es hat wenig Sinn, sich im Mittleren Osten auf die Tagespolitik zu konzentrieren oder sie zu interpretieren. ISIS (Islamischer Staat in Irak und Syrien) und alle anderen barbarischen Gruppen machen weiterhin Schlagzeilen mit ihren Gräueltaten, auf der anderen Seite bereden die einzelnen Staaten ihre Bekämpfung. Deren verschiedenen Interessenlagen geschuldete Differenzen im Hinblick auf die richtige Taktik für diese Bekämpfung bestimmen den anderen Teil der Politik. Eine Lösung für Syrien und Irak ist daher bislang nicht in Sicht. Während sich die betroffenen Staaten (Syrien und Irak) in der Defensive befinden, agiert ISIS offensiv. Die Armeen können trotz ihrer militärischen Ausrüstung nicht standhalten. ISIS ist in der Offensive, weil seine Kämpfer eine ideologische Überzeugung, einen Glauben haben, wofür sie zu sterben bereit sind. Die Armeen sind in der Defensive, weil die Glaubwürdigkeit ihrer Regierungen und Führungen infrage steht. Korruption, diktatorische Machtausübung führen zum Verlust des erforderlichen Patriotismus. Ein anderer wichtiger Faktor ist die Fragestellung, für wen ihre Regierungen kämpfen. Im Falle Iraks und Syriens wird die Frage gestellt, ob für sich selbst oder für die Interessen Irans, der gegenwärtig mit allen ihm zur Verfügung stehenden Möglichkeiten über die Expansion des Schiismus eine große Präsenz in dieser Region zeigt.

Die kurdische Offensive

Die andere offensive Haltung ist bei den Kurden zu finden. Genauso wichtig wie die militärische Offensive ist die politische und gesellschaftliche. Zwar ist in den Mainstream-Medien die Rede von den militärischen Erfolgen der westkurdischen Volks- und Frauenverteidigungseinheiten (YPG und YPJ) in Rojava, weniger aber von den soziopolitischen. Der Wahlerfolg der Demokratischen Partei der Völker (HDP) am 7. Juni in Nordkurdistan und der Türkei allerdings wird zukünftig viel mehr dazu anregen, die gesellschaftspolitische Offensive der Kurden zum Gegenstand der Diskussion zu machen. Für den Frieden in der Region ist daher nunmehr eine andere Betrachtung der Kurden unumgänglich. Das merkwürdige Beharren der westlichen Welt darauf, die Kurden nur als großartige Kämpfer und Kämpferinnen (YPG/YPJ, HPG/Yekitîya Star, YBŞ/YPJ Şengal etc.) im Krieg gegen den ISIS sehen zu wollen, ist angesichts der immer kritischer werdenden Lage in der Region kontraproduktiv. Dieser Blickwinkel verhindert, dass das Bemühen der Kurden um einen politischen und gesellschaftlichen Frieden nicht gesehen wird. Die Region als Schlachtfeld zwischen dem ISIS, den Staaten und den Kurden darzustellen, verleugnet die andere Wahrheit. Dass nämlich die Kurden ihre Friedenspolitik durchaus mit Erfolg entwickeln. Ihre Alternative mit den betreffenden Völkern teilen, sie einbeziehen, mit ihnen zusammen eine friedliche Zukunft entwickeln. Das Modell demokratischer Selbstverwaltung in Rojava und zuletzt der Wahlerfolg der HDP zeigen die andere Seite der Kurden.

Das Problem des Westens

Wenn vom Westen die Rede ist, dann auch von der Interpretation der Politik anhand von Fakten, Daten etc. Dabei bietet Kurdistan in Rojava und Bakûr (kurd.: Westen und Norden) unzählige neue und sehr konkrete Fakten. Die Frage, warum sie dennoch nicht gesehen werden, muss hier gestellt werden. Es ist wichtig, dass vor allem die westliche Welt darauf antwortet. Aus kurdischer Sicht liegt die Antwort in der Geschichte Kurdistans. Der Geschichte eines Volkes, das sehr lange vergessen worden war. Eines Volkes, dessen Freiheitskampf in­strumentalisiert wurde. Eines Volkes, das auf die internationale Agenda kam, wenn die Interessen es erforderten. Eines Volkes, dessen Parteien in die Terror-Listen aufgenommen und kriminalisiert wurden.

Angesichts dieser Fragestellung wird hier auf die Vorstellung der Kurden als neue und alternative Akteure des Mittleren Ostens hingewiesen. Ohne die politische und gesellschaftliche Veränderung der Kurden zu sehen, kann heute keine produktive Politik im Mittleren Osten für den Frieden gemacht werden. Denn mit der Veränderung der Kurden sind die Staaten (Türkei, Iran, Irak und Syrien) gezwungen, auch sich zu ändern.

Aufgrund der in diesem Zusammenhang sowohl geostrategisch als auch diplomatisch viel engeren Bündnispolitik der Türkei mit dem Westen ist es wichtig, sie in den Vordergrund zu stellen. Nicht zuletzt aufgrund des historischen Sieges der HDP, die Zehnprozenthürde übersprungen zu haben. Den Kurden ist es gelungen, die eigentliche Hürde in der Türkei zu überspringen, nämlich die Hürde zur Freundschaft und Solidarität mit den Türken und allen anderen Identitäten im Land.

Die Stunde der Kurden hat nach Rojava auch in Bakûr geschlagen. In Bakûr, in dem seit 1978 ununterbrochen für Freiheit gekämpft worden ist. In Bakûr, in dem die PKK seit ihrer Gründung 1978 bis heute 24 Regierungen, 13 Generalstabs­chefs, 8 Staatspräsidenten überwunden hat. Sie alle wollten die Kurden loswerden. Nun aber wollen die Kurden, Türken, Azeris, Assyrer, Araber, Pontus-Völker, Armenier, Aleviten, Sunniten, Êzîden, Frauen, Akademiker etc. gemeinsam diejenigen loswerden, die mit der Unterdrückung weitermachen wollen. Mit diesem Versprechen hat die HDP überzeugt und gewonnen. Die HDP entwickelt sich weiter in einer kampferfahrenen Widerstandstradition der Kurden, was auch zu einer neuen Hoffnung für die Türkei geworden ist.

Als Fortsetzung der 92-jährigen Staatstradition der türkischen Republik hat die Regierungspartei AKP alles unternommen, um die Kurden davon abzuhalten, die Momente im politischen Vakuum des Mittleren Ostens für sich zu gewinnen. Sie hat über die Unterstützung von ISIS und Al-Nusra den brutalen Krieg gegen die Kurden in Rojava geführt. Sie hat viel Geld in kurdische Städte investiert und geglaubt, die Kurden kaufen zu können. Bei der jüngsten Wahl haben aber die Kurden klar und deutlich geantwortet. In der Stadt Colemêrg (Hakkâri) hatte Erdoğan eine Woche vor dem Wahltermin den Flughafen auf den Namen des Kurden Salhaddini Eyyubi eröffnet. In Colemêrg haben dann 87 % für die HDP gestimmt. Ähnlich war es in anderen Städten in Bakûr. Die Botschaft war klar: Wir sind nicht käuflich, sondern wollen Freiheit anstatt Geld und Investitionen.680x680nc btm 08 06 15 batman hdp kutlama3

Demokratie in Rojava und der Türkei kann auch Iran verändern

Ein demokratischer Wandel in der Türkei kann auch Iran zu einem politischen Wandel im Hinblick auf die Kurden in Rojhilat (kurd.: Osten) verleiten. Immerhin stecken die in Syrien und Irak jetzt nach der Wahl in der Türkei in einem Prozess, mit dem sie die Staaten zur Demokratie zwingen. Die Kurden in Iran verstärken den Druck auf die kurdische Politik vor allem seit dem Kampf um und dem Sieg von Kobanê. Sie wollen kämpfen und sind bereit dazu. Nicht zuletzt verdeutlichten sie diese Botschaft nach dem Fall Ferînaz Xosrawis, die sich aufgrund des Vergewaltigungsversuchs von Mitgliedern des iranischen Geheimdienstes selbst getötet hat. Binnen weniger Stunden gingen die Menschen in Rojhilat auf die Straßen. Obwohl ihnen bewusst ist, dass das iranische Regime die Todesstrafe praktiziert und in den Gefängnissen brutal foltert [s. S. 19].

Die Kurden in Rojhilat geben deutliche Signale an die kurdische Politik, dass sie bereit sind für einen Aufstand gegen das Regime. Die kurdische Politik ist aber bemüht, den politischen Weg einzuschlagen, da Iran im Gegensatz zu der Türkei, Irak und Syrien nach den Grundprinzipen des Machiavelli sehr flexibel sein kann. Ohnehin hatte Nizam al-Mulk bereits lange Zeit vor Machiavelli das Buch »Die Staatskunst. Grundprinzipen des Staates« verfasst. Ein Grundprinzip ist es, zugunsten der Staatsinteressen flexibel sein zu können.

Gegenwärtig läge es auch nicht im Interesse Irans, einen Krieg mit den Kurden anzufangen. Zum einen, da die iranische Strategie die Richtung verfolgt, Iran von Konflikten fernzuhalten, indem Konflikte außerhalb vertieft, erzeugt werden. Überdies ist Iran außer in Irak und Syrien auch in Jemen und anderen Golfstaaten in Konflikten und Kriegen äußerst aktiv. Ein Krieg in Iran mit den Kurden läge gegenwärtig nicht in seinem Interesse. Dafür aber kämpft er gegen die Kurden in Rojava und der Türkei. Im Falle der Kurden in Syrien und in der Türkei wirkt Iran daran mit, dass es zu keinem Frieden kommt. Indem er einerseits in Syrien das Baath-Regime gegen die Kurden provoziert, in Bakûr durch die Unterstützung der kurdischen Hizbullah (Hüda-Par) zu Provokationen gegen die HDP anstachelt. Andererseits bombardiert er die PKK-Stellungen in den Medya-Verteidigungsgebieten und sendet der AKP ein Signal der Solidarität. Fest steht aber, Iran will keinen Krieg im eigenen Haus. Die Kurden in Iran wollen aber den Stand der Kurden in Rojava, Bakûr und Başûr (kurd.: Süden; Irakisch-Kurdistan) erreichen und das Mullah-Regime loswerden.

Die Vergessenen melden sich zu Wort

Für nicht existent wurden die Kurden in den letzten neunzig Jahren erklärt. In internationalen politischen Institutionen vertreten waren sie durch die Türkei, Iran, Irak und Syrien. Weder in den UN noch im Europäischen Rat noch in asiatischen Zusammenschlüssen existiert dieses Volk. Verfassungsrechtlich waren die Kurden in den erwähnten Staaten nicht existent. Selbst im Post-Saddam-Irak ist ihre Existenz fraglich.

Internationale Bedingung für eine Anerkennung ist entweder, einen Staat zu haben, oder in bestimmten politischen Fällen, wie zum Beispiel die Palästinenser, einen Sonderstatus zu erhalten.

Ohne jeglichen Status waren die Kurden Freiwild für die einzelnen Staaten. Zahlreiche Fälle von Verbrechen gegen die Menschlichkeit oder Menschenrechtsverletzungen wurden in Kurdistan durch die Türkei, Iran, Irak und Syrien begangen. Der Rechtsweg war den Kurden versperrt, da sie ein Volk ohne Staat waren.
Mit Beharrlichkeit haben die Kurden aber nicht aufgegeben, sondern Widerstand geleistet. Jeder Aufstand war Reaktion auf die Politik der Negation.
Das letzte Glied der Widerstandskette bildet die kurdische Freiheitsbewegung unter der Führung von Abdullah Öcalan und seiner Partei, der PKK. Sie ist das kritische und selbstkritische Resultat aller kurdischen Aufstände.

Wenn heute der Revolution in Rojava oder dem Wahlerfolg in der Türkei vom 7. Juni applaudiert wird, dann ist es wichtig, nicht zu vergessen, dass sie die Folge einer langen Widerstands­tradition sind, für die unzählige Kurden mit ihrem Leben bezahlt haben. Ob Sieg oder Niederlage, die Kurden haben nie aufgehört zu kämpfen. Ob sie negiert wurden oder aufgrund kurzfristiger politischer Ereignisse mit den Versprechen auf Freiheit betrogen, sie haben nie aufgehört, für die Freiheit zu kämpfen.

Schwächung der AKP ist Verringerung der Aggression im Mittleren Osten

Dieses vergessene Volk schreibt nun Geschichte. Und zwar nicht nur die eigene, sondern die Geschichte einer Region, die Geschichte des Mittleren Ostens. Denn in dieser Region haben in den letzten hundert Jahren die Machthabenden die Geschichte der Völker bestimmt und sie ihnen vorgeschrieben. Die Männer dieser Region haben auf der anderen Seite die Geschichte der Frauen bestimmt. Auch die Gründung der Nationalstaaten Türkei, Iran, Irak und Syrien war kein Rezept für die Türken, Araber und Perser. Heute fürchten diese Staaten um ihre Existenz. Ihre Bürger stellen sie infrage.

Syrien und Irak sind in einem kritischen Zustand. Iran und die Türkei sind in der Defensive und versuchen über externe Intervention in Syrien und Irak ihre Lebensdauer zu verlängern. Die Türkei war mit der AKP bemüht, das Land seit dem Syrienkrieg immer mehr in eine Diktatur umzugestalten. Den Höhepunkt erreichte die AKP mit der Forderung nach Alleinherrschaft für Erdoğan. Die Forderung der AKP nach dem neuen Präsidentenamt war die Forderung nach der absoluten Macht. Symbolisch wurde diese Botschaft mit dem neuen Palast Erdoğans illustriert. Im Land selbst hatte Erdoğan die Zivilrechte der Bürger immer weiter eingeschränkt. Die AKP intervenierte in alle Lebensbereiche der Bürger. Alle islamischen Konfessionen und Glaubensrichtungen sollten zur Hanafi-Lehre des sunnitischen Islam assimiliert werden. Die Hanafi-Rechtsschule war fast 700 Jahre lang das religiöse Merkmal des Osmanischen Reiches. Außer dass die Türkei die zweitgrößte NATO-Armee stellt, hat die AKP zusätzlich noch einen Polizeistaat geschaffen.
Nicht nur in der Innen-, auch in der Außenpolitik sieht die AKP ihren Nährboden im Erzeugen von Konflikten und in Krieg. Durch die Unterstützung für ISIS, Al-Nusra und weitere barbarische Gruppen führt sie Krieg in Syrien. Vor allem gegen die Kurden. In arabischen Ländern förderte sie Gruppen der Muslimbruderschaft. So hatte sie den zur Todesstrafe verurteilten ägyptischen Präsidenten Mohammed Mursi unterstützt und mit ihm große Visionen wie den Aufbau einer »islamischen« Armee. Dies unter anderem führte zu noch mehr Feinden gegen Mursi. Auch die sunnitische Bündnispolitik der AKP in Irak vertiefte die ohnehin bestehende Krise. So hat die AKP versucht, von der wirtschaftlichen Notlage der Kurden in Irakisch-Kurdistan zu profitieren. Während sie den Erdölverkauf über die Türkei erlaubte, förderte sie auch den Konflikt zwischen Bagdad und Hewlêr (Arbil). Zudem war sie maßgeblich am Schüren eines innerkurdischen Konflikts zwischen PKK und PDK (Demokratische Partei Kurdistans) beteiligt.

Kurzum, die AKP ist nach 12 Jahren mit dem Projekt des gemäßigten Islam für den Mittleren Osten gescheitert.

Sie hat seit der Syrienkrise keine internationale Warnung ernst genommen, auch nicht die international geübte und offene Kritik an der Unterstützung von ISIS, Al-Nusra etc. Sie hat sich als NATO-Partnerin nicht an Abkommen zur Bekämpfung von ISIS beteiligt. Aufgrund seiner Unterstützung von ISIS war sich Erdoğan sehr sicher, dass Kobanê fallen würde. Ohnehin ging es der Türkei in der Syrienfrage zum einen um die Verhinderung einer Autonomie für die Kurden. Zum anderen sah sie in der Schwächung des syrischen Regimes die Möglichkeit, es zu okkupieren.

Öcalan leistete die Vorarbeit für den HDP-Sieg

Innenpolitisch war die AKP bemüht, den Störfaktor Kurden ruhigzuhalten. Sowohl bei den Oslo-Verhandlungen als auch über den politischen Lösungsprozess mit dem PKK-Vorsitzenden Abdullah Öcalan seit Anfang 2013 war sich die AKP sicher, die Kurden hinhalten zu können. Die Diplomatie der ungewöhnlichen Kompromissbereitschaft Öcalans stellt eine außerordentliche Herausforderung für die AKP und Erdoğan dar. Öcalans Äußerungen und Vorschläge wurden durch die PKK praktiziert. Im Dialog Öcalans mit der sogenannten staatlichen Delegation fanden sich Wort und Tat im Einklang. Das wurde in der Politik in der Türkei von breiten Gesellschaftsgruppen positiv aufgenommen. Im Gegensatz dazu war die AKP weder im Wort noch in der Tat ernsthaft mit dem Frieden. Zuletzt hatte Öcalan einen weit umfangreicheren Vorschlag unterbreitet: Würde die Türkei eine Beobachtungskommission einberufen, welche die Einhaltung der am 28. Februar zwischen der HDP und der AKP-Regierung gemeinsam in einer Pressekonferenz veröffentlichten Zehnpunktedeklaration begleitet, so würde er die PKK zu einem Kongress aufrufen, auf dem der Krieg für beendet erklärt werden könnte. In seiner diesjährigen Newroz-Grußbotschaft wiederholte Öcalan seine Bereitschaft, einen noch größeren Schritt für den Frieden zu unternehmen.

Die Friedenspolitik Öcalans und der PKK fand in der Türkei positive Resonanz und führte zugleich auch zum Hinterfragen der Absichten Erdoğans und der AKP.
Kurz nach Newroz machte Erdoğan eine 180-Grad-Wendung und stellte alles infrage, was zwischen Öcalan, HDP und AKP vereinbart worden war. Erneut erklärte er, es gäbe keine kurdische Frage in der Türkei. Auf diese Strategie aufbauend beteiligte er sich als Staatspräsident der Türkei, obwohl verfassungswidrig, im Wahlkampf persönlich an Kampagnen gegen die HDP. Es ging um seine absolute Macht. Nur in der HDP sah er eine ernsthafte Konkurrentin. Er ging so weit, die HDP als eine von externen Kräften eingesetzte Feindin darzustellen.

Rojavas Revolution hat auch die Türkei überzeugt

Öcalans politische Analyse des Mittleren Ostens bot den Kurden die Möglichkeit, auf alle Eventualitäten in der politischen Krisenregion vorbereitet zu sein. Seine Theorie, dass die Ära der Nationalstaaten in der Region am Ende sei, wurde durch die Schwächung Syriens und Iraks bestätigt. Er sah im Vorfeld auch die Türkei in dieser Kategorie. Ebenso Iran. Er schlug in seinen Veröffentlichungen den Kurden daher die Ära der Völker vor, allen durch die ethnisch fundamentierten Staaten Türkei, Syrien, Iran, Irak diskriminierten und unterdrückten gesellschaftlichen Gruppen, sich zusammenzuschließen. Weil die Kurden keine ethnisch basierte Staatlichkeit erfahren hatten, sondern deren Opfer waren, waren sie wenig von der Krankheit des Nationalismus und Rassismus infiziert. Sie eigneten sich daher am besten als diejenigen, die die Hand zu Frieden und Freundschaft ausstreckten. Die Einheit der Vielfalt war und ist Öcalans Grundprinzip. Als Kriterium für innergesellschaftliche Demokratisierung und Frieden für jede der Gesellschafts- und Volksgruppen sieht er die Frage der Frauenfreiheit als ausschlaggebend an.

Ein gewichtiger Grund, warum auffallend viele Menschen in der Türkei für die HDP gestimmt haben, war die kurdische Ernsthaftigkeit bei der Völkerfreundschaft. Die YPG/YPJ waren und sind nicht nur eine Guerillaarmee, die Kurden vor ISIS schützt, sondern auch alle anderen Volksgruppen in Rojava.

Die Wahlen als Fortsetzung der Friedensstrategie

In seinen Gesprächen mit der HDP-Imralı-Delegation, die zwischen ihm, der AKP und der PKK vermittelte, hatte Öcalan die HDP beharrlich zu überzeugen versucht, nicht mit unabhängigen Kandidaten, wie es die Kurden seit 1991 gemacht hatten, sondern als Partei, als HDP zur Wahl anzutreten. Er war sich sicher, dass der Zerfallsprozess bei der AKP eingetreten war und dass die Türkei vor einer neuen Diktatur stand. Aus diesem Grund hatte er sich in den Monaten vor der Wahl auch um Überzeugungsarbeit bei der HDP bemüht. Im März 2015 prognostizierte er auch, dass die HDP mehr als 12 % der Stimmen bekommen würde. (Das machte der Sprecher der HDP-Imralı-Delegation, Sirri Süreyya Önder, vor einigen Tagen in einer Livesendung des türkischen CNN öffentlich.) Öcalan war und ist sich sicher, dass der Werdegang der türkischen Republik in den Händen der Kurden liegt. Er hatte auch darauf hingewiesen, dass nach dem Wahlerfolg Vorbereitungen auf staatliche Racheakte getroffen werden sollten. Alle HDP-Kandidaten hatte er im Voraus gewarnt, sich gegen eventuelle Anschläge zu schützen. Zu gut kannte er die türkische Geschichte im Umgang mit Aufständen. Auch war und ist er sicher, dass die Lösung der kurdischen Frage das Schicksal des Landes bestimmt. Und weil die AKP Öcalan gut verstanden hatte, isolierte sie ihn in der Zeit der Wahl von der Außenwelt. Nach dem 5. April hat Öcalan bis heute keine Besuche mehr erhalten. Er wurde bestraft, weil er die HDP zur Kandidatur als Partei motiviert hatte. Er wurde mit Isolation bestraft, weil er die Friedensstrategie entworfen hatte, die die HDP hervorragend praktiziert hat.

Rojava versus Zentralstaat

Das Beispiel des baathistischen Syrien, das den Staat als arabische Republik definierte und daher alle anderen Komponenten außerhalb der Araber entrechtete, ist im Zerfall begriffen. Das Beispiel Rojava in Nordsyrien dagegen stellt die Alternative eines Vielvölkerstaats Syrien mit verschiedenen Glaubensbekenntnissen dar. Rojava zeigt, dass ein anderes, nämlich demokratisches Syrien mit allen Identitäten existieren kann. Die Kurden haben hier gemeinsam mit Arabern, Assyrern, Tschetschenen ein demokratisches Modell entwickelt, das auf gegenseitigem Respekt und Gleichberechtigung, allen voran zwischen Männern und Frauen und Volksgruppen, basiert. Außer dass sie immer mehr Selbstvertrauen entwickelten, haben sie auch die anderen Volksgruppen ermutigt, Vertrauen aufzubauen. Nicht nur im politischen, sozialen, wirtschaftlichen Bereich, auch bei der Verteidigung agieren die verschiedenen Gruppen zusammen. So befreiten die Kurden gemeinsam mit den Arabern und Assyrern in einer Großoffensive die 85 km lange Abdulaziz-Bergkette vom ISIS, während in Syrien das Regime trotz erheblicher Hilfe aus Iran, Russland und China die Städte Idlib und Tedmur (Palmyra) an ISIS verlor. Im selben Zeitraum konnte die irakische Armee auch mit 6 000 Soldaten die Stadt Ramadi nicht gegen 200 ISIS-Kämpfer verteidigen. Obwohl Kurden, Araber und Assyrer militärtechnisch dem ISIS unterlegen sind, so haben sie doch nicht nur die Bergregion um Abdulaziz, sondern auch die ISIS-Hochburg Girê Spî (Tal Abyad) zwischen den Kantonen Cizîrê und Kobanê erkämpft. Die stärkste Waffe der arabischen, kurdischen und assyrischen Kämpfer und Kämpferinnen ist ihre Überzeugung von einer gemeinsam gestalteten demokratischen und friedlichen Zukunft. Es ist auch wichtig, die Unterstützung der internationalen Koalition, vor allem der US-Luftwaffe, die in Rojava militärische Hilfe leisten, nicht zu vergessen. Doch diese Hilfe leisten die USA auch in Irak.

Das neue Bild der Kurden

Das Bild der Kurden im 20. Jahrhundert war immer geprägt vom Opfer-Täter-Muster. Opfer waren die Kurden, Täter die jeweiligen Staaten und indirekt deren Bündnispartner.
Im 21. Jahrhundert allerdings hat sich dieses Muster gewandelt. Die Kurden sind keine Opfer mehr. Weil sie auch die Staaten nicht kopieren, lehnen sie es ab, Täter zu werden. Sie machen es anders.

Die politische Umwälzung bietet den Kurden viel mehr Möglichkeiten, sich mit ihrem Modell der Demokratie zu entwickeln und zu entfalten. Den Staaten wie Iran, Irak, Syrien und Türkei als Tätern geht es allerdings sehr schlecht. Sie haben unglaubliche Schwierigkeiten, aus ihrer Täterrolle herauszukommen. Die Kurden sind jetzt nach erkämpften Siegen viel stärker in ihrem Selbstbewusstsein. Aber auch in ihrer Verantwortung. Die Erfolge haben ihnen auch großartige Freundinnen und Freunde geschaffen. Viele Menschen aus aller Welt kommen und kämpfen mit ihnen. Nicht nur, dass die Kurden aus ihrer Opferrolle geschlüpft sind, sie ermutigen auch andere dazu. Wie es heißt, Tropfen für Tropfen entsteht das Meer!

Ähnlich verlief auch der innerdemokratische Prozess in Kurdistan. Nachdem Öcalan die Frauen zum autonomen Frauenkampf für ihre eigenen Rechte ermutigt hatte, haben sie die Opferrolle abgelegt. Das führte dazu, dass die Täter, also die Männer, entblößt dastanden. Ihnen blieb nichts anderes übrig, als sich zu ändern, ihre Gesinnung zu demokratisieren. Es wird auch den Staaten nichts anderes übrig bleiben, als sich zu ändern, sich zu demokratisieren.

Nun, dieses Volk schreibt jetzt Geschichte.