Erste Konferenz zum Wiederaufbau von Kobanê

Rekonstruktion der Menschlichkeit

Leyla Wessling

Um die Nachkriegslage von Kobanê zu evaluieren sowie eine Strategie und Projekte für seinen Wiederaufbau zu besprechen, fand am 2. und 3. Mai in Amed (Diyarbakır) eine entsprechende Konferenz statt. Daran nahmen etwa 370 Personen aus allen vier Teilen Kurdistans, aus Europa und anderen Ländern der Welt teil. Bis dato hatte noch kein Wiederaufbau begonnen, kurz nach der Befreiung wurde dafür eine Behörde gebildet, wurden Pläne erstellt und diplomatische Kontakte ins Ausland geknüpft. Die Konferenz in Amed ist der erste Schritt zur Vernetzung und Koordinierung des Wiederaufbaus. Einem Konferenzbeschluss zufolge soll es im Juli in Strasbourg eine weiterführende internationale Konferenz zur Gewinnung der Aufmerksamkeit der internationalen Gemeinschaft und Vernetzung der Unterstützer geben. Aus eigener Kraft wird Kobanê den Wiederaufbau nicht stemmen können.Einladung zur ersten Konferenz in Amed

Die Konferenz war ein historisches Zusammenkommen von Kurden aus allen Gebieten einerseits und andererseits von solidarischen Menschen international. Die Teilnehmenden waren mit ihren Interessen und politischen Tätigkeiten sowie Berufen vielfältig vertreten – eine Melange aus Sprechern verschiedener NGOs, Öko-Aktivisten, Bauarbeitern, Gewerkschaftlern, Sprechern unterschiedlicher konfessioneller Institutionen, Architekten, Ingenieuren, Politikern, Helfern aus dem Flüchtlingscamp in Pîrsûs (Suruç) und auch Aktivisten aus der kurdischen Diaspora.

Nach der offiziellen Eröffnung der Konferenz und einem bewegenden Kurzfilm, der einen tiefen Einblick in Kobanês Geschichte und Gegenwart gewährte, wurden von den Teilnehmenden verschiedene Themen wie die soziokulturellen und politischen Konsequenzen des Krieges in Kobanê, der offizielle Bericht über die materielle Lage der Stadt und Lösungen für einen schnellen Weg zum Wiederaufbau diskutiert.

Die Teilnehmenden evaluierten die Angriffe des IS und den breiten kurdischen Widerstand dagegen. In diesem Zusammenhang wurde der brutale IS-Angriff als eine Fortsetzung der Kolonisierung betrachtet, um die demokratischen Rechte des kurdischen Volkes und einer friedlichen Gesellschaft einzuschränken. Der historische Konflikt in Kobanê war demnach ein Kampf zwischen Verteidigern der demokratischen Moderne und Kräften der kapitalistischen Moderne bzw. deren barbarischen Helfern. Der Widerstand in Kobanê wurde zu einer globalen Stimme derjenigen, die an die Werte des Friedens glauben und bereit sind, einen Krieg zum Schutze der Menschlichkeit zu führen. Es war das erste Mal, dass Individuen aus allen Teilen Kurdistans und etlichen Regionen der Welt Solidarität zeigten und sich an der Verteidigung der Stadt beteiligten. Deshalb grüßte die Konferenz alle nationalen Verteidigungseinheiten, darunter die YPG/YPJ, HPG, YBŞ, YJA Star, Peşmerga und alle linken und internationalen Kräfte. Ein Sprecher der Kommunistischen Partei aus Rojhilat (Ostkurdistan) betonte: »Kobanê ist zu einer Front für den Frieden im Mittleren Osten geworden«, ebenso, dass »der Wiederaufbau von Kobanê uns die Gelegenheit gibt, eine andere Gesellschaft aufzubauen.« Die Konferenz gedachte aller Märtyrer des historischen Widerstands und erinnerte an sie als »Märtyrer für den Schutz der Werte der Menschlichkeit«. Sie grüßte alle Friedenskämpfer und den Widerstand der kurdischen Frauen. Dass eine Stadt wie Kobanê zum Symbol der kurdischen Einheit wurde, ist historisch einmalig. Revolutionäre Einheiten, Individuen und internationale Kräfte hatten all ihre Bemühungen und Unterstützung für Kobanê gezeigt und sich Seite an Seite mit den Kurden an den Verteidigungseinheiten beteiligt. Die Konferenz dankte ihnen im Namen der Kurden. Der politische und soziale Sieg Kobanês hat den Weg für fortschrittliche und demokratische Entwicklungen weltweit geebnet. Er hat gezeigt, dass eine Gesellschaft mit ihrem eigenen Willen gegen kapitalistische und imperialistische Angriffe an Boden gewinnen kann. Das Gefühl der Einheit aller Kurden ist zu einer unvorhersehbaren Dimension herangewachsen, und Hoffnungen auf eine Revolution sind auch unter den Jugendlichen, den Frauen und den unterdrückten Teilen der Gesellschaft wiederbelebt.Erste Konferenz zum Wiederaufbau von Kobanê

Es war bemerkenswert, mit welchem Enthusiasmus die Teilnehmenden sich für einen Wiederaufbau Kobanês einsetzten und ihre Ideen und Projekte in ihren kurzen Redebeiträgen mit großer Zuversicht vorstellten. Auch in den Pausen wurde vernetzt, vor allem mit der Hoffnung auf finanzielle Hilfe aus Europa. Gleichzeitig wurde immer wieder die bisher fehlende Koordination betont. Die Konferenz hat für einen ersten Schritt zur Koordinierung aller Hilfsprojekte und Gelder eine wichtige Aufgabe ins Rollen gebracht. Denn in der Realität ist es so, dass es bereits Hilfsprojekte und Aktivitäten gibt, beispielsweise für den Bau eines kleinen Krankenhauses, von der Bauarbeitergewerkschaft aus der Türkei gestartet und für das bereits erfolgreich Spenden gesammelt worden sind.

Solche Projekte finden aber bisher keinen Weg nach Kobanê. Es fehlt ein humanitärer Korridor am einzigen Grenzübergang Mürşitpınar an der türkischen Grenze. Vor allem die Schikanen der türkischen Verwaltung vor Ort stellen ein Hindernis dar. In der Tat sieht es so aus, dass die Grenze nicht ganz offen und auch nicht ganz geschlossen ist, d. h. wenn internationale Hilfsorganisationen humanitäre Güter schicken, werden diese von den türkischen Behörden angehalten, manchmal für mehrere Wochen. Zur Begründung wird gesagt, Kobanê grenze an das IS-Gebiet; gleichzeitig hat die Türkei an anderen Orten gemeinsame Grenzübergänge mit dem IS. Der Vorsitzende des Menschenrechtsvereins (IHD) in der Türkei beklagte, dass es für seine Organisation aufgrund der türkischen Gesetze schwierig sei, Spenden und Gelder in der Türkei zu sammeln. Die Hindernisse am Grenzübergang gelten auch für die Bewohner Kobanês, die auf jeden Fall zurückkehren und ihre Stadt wiederaufbauen wollen. Deutlich wurde also, dass aufgrund der Hindernisse an der Grenze, aber auch wegen der türkischen Gesetze bisher fast gar nichts in Kobanê ankommt. Wichtig ist deshalb, die Koordinierung der Spenden zu einem offiziell anerkannten Spendenkonto. Dazu bedarf es aus Sicht der Konferenz dringend einer zentralen Koordination. Die Konferenz appellierte an die türkische Regierung, die Grenze bei Mürşitpınar zwischen Pîrsûs und Kobanê offiziell zu öffnen. Es wurde vor allem die Dringlichkeit eines humanitären Korridors betont, der unter Aufsicht einer internationalen Organisation stehen sollte.

Nach der bewegenden Diskussion über die soziale und politische Lage Kobanês und dem deutlichen Ausdruck des Engagements für den Wiederaufbau dokumentierten Berichte und Analysen der Zerstörung die prekäre Lage der Stadt und eine dringend benötigte Gewährleistung der Alltagsbedürfnisse der Einwohner. Dabei geht es vor allem um Grundbedürfnisse wie sauberes Trinkwasser – das Wassernetzwerk ist nicht sauber und es besteht höchste Infektionsgefahr. Bauarbeiten für die Elektrizitätsversorgung haben bereits begonnen. Ein an der Konferenz Teilnehmender betonte die Notwendigkeit einer Zementfabrik für Kobanê – es gebe bereits eine in der Umgebung, die vor dem 12. April noch in IS-Hand gewesen sei. Ferner ist ein hoher Grad der Luftverschmutzung zu verzeichnen und es fehlen Mittel zur Bergung der Leichen. Die medizinische Versorgung stellt ein großes Problem dar, es werden Krankenhäuser und Medikamente benötigt. Auch Nahrungsergänzungsmittel wie Vitamintabletten sind sehr wichtig. Zwei Drittel der Schulen und zwei der vier kleinen Krankenhäuser sind zerstört. Der Kanton Kobanê verfügt über sehr ertragreiche Getreideanbauflächen, von denen aber etwa achtzig Prozent zerstört sind; der gesamte Vieh- und Nutztierbestand existiert nicht mehr. Die Lage bezüglich der Gebäudezerstörung ist in den umliegenden Dörfern ein wenig besser, dort werden auch die freiwilligen Helfer untergebracht. Die Konferenz war sich darüber einig, dass Kobanê und die umliegenden Dörfer mit dem gleichen demokratischen Zusammenhalt wie bei der Verteidigung Kobanês wieder aufgebaut werden müssen.

Eines stand fest: Der Wiederaufbau Kobanês ist ein seelisches und moralisches sowie physisches Unterfangen zugleich. Die Stadt sollte mit einem Verständnis von Demokratie, Ökologie und Freiheit der Frauen wiedererrichtet werden. Eine Vertreterin der Demokratischen Partei der Völker (HDP) aus der Türkei betonte, dass die internationale Solidarität nun an einen anderen Punkt geführt werden müsse. Mit dieser fortgeschrittenen Solidarität würde nun ein freiheitliches Leben wieder aufgebaut und nicht nur die Stadt. Es besteht auch großes Interesse von Seiten türkischer Öko-Aktivisten, die sich zu einer großen Ökonomie-Arbeitsplattform zusammengeschlossen haben.

Es wurde sich auf die Notwendigkeit einer nationalen Kampagne für die ökonomische Unterstützung und eine allgemeine Mobilisierung des Kantons Kobanê für den Wiederaufbau geeinigt. Damit diese Wiederaufbau- und Koordinierungsarbeit glattlaufen kann, müssen weltweit Kommissionen unter Führung der Konferenz gegründet werden. Die Teilnehmenden der Konferenz merkten an, dass Kobanê immer noch der Bedrohung durch Angriffe ausgesetzt ist. Die Stadt braucht somit neben der Gewährleistung der menschlichen Grundbedürfnisse auch einen Verteidigungsmechanismus. Es wurde außerdem deutlich gemacht, dass aufgrund der fortwährenden Bedrohung der Kurden ein nationaler Kongress organisiert werden solle, um ihre Werte zu verteidigen und gemeinsam agieren zu können.

Die Teilnehmenden einigten sich zum Ende der Konferenz auf einen 18-Punkte-Plan. Demnach werden u. a. technische Geräte benötigt; es soll an einer Dokumentation und einem Pressearchiv gearbeitet werden; beim Aufbau soll nachhaltige Energiegewinnung wie Sonnen- und Windenergie im Vordergrund stehen; am Wiederaufbau soll sich weltweit beteiligt werden; Frauenzentren sollen gegründet, eine Bildungskommission und ein Bildungszentrum für Kinder eingerichtet werden; mit den Kanalarbeiten am Euphrat soll schnellstmöglich begonnen und ein Teil der Stadt zu einem Open-Air-Museum werden. Frauen und junge wie alte Menschen, die hatten fliehen müssen, wurden aufgerufen, zurückzukehren und aktiv am Wiederaufbau teilzunehmen.

Schließlich wurde betont, dass alle Teilnehmenden Verantwortung für das Engagement beim Wiederaufbau übernehmen und für die Umsetzung der Projekte und Pläne sorgen sollten. Der Appell ging auch an die Kurden in der Diaspora. Man hofft, dass durch kollektive Bemühungen die Stadt wieder aufgebaut und als ein Beispiel für alle Zivilisationen gelten kann, um Erfolg gegen den Terror zu demonstrieren, der die Menschlichkeit angreift. Die internationalen Teilnehmenden verließen die Konferenz gleichfalls mit großer Entschlossenheit zur Verbreitung der Konferenzergebnisse in ihren Heimatländern und zur intensiven Öffentlichkeitsarbeit und Vernetzung.

Im Zusammenhang mit der Konferenz wurde die Homepage www.helpkobane.com eingerichtet.