Überlegungen zum Wesen der globalen Bewegungsfreiheit

Is Freedom of Movement Everybody’s Right?!

Kardelen Sürgün

Is Freedom of Movement Everybody’s Right?!Während wir auf der einen Seite mit der Tatsache konfrontiert sind, dass Menschen im Mittelmeer sterben oder auf dem Landweg durch Osteuropa enorm gequält werden, erleben wir auf der anderen Seite einen bereits etablierten Umgang mit diesem politischen Thema. Die angepasste Akzeptanz der Grausamkeiten erkennen wir an der mittlerweile entstandenen Routine der Berichterstattung über das Massensterben im Mittelmeer oder andere Skandale.

Migrationsbewegungen haben schon immer stattgefunden, in den verschiedensten Epochen und aus verschiedensten Gründen. Was wir heute in und um Europa erleben jedoch, erscheint so manchen wie ein Ausnahmezustand. In der Tat hören wir von enorm hohen statistischen Zahlen, die stetig steigen, wenn es um Migrierende und Geflüchtete geht. Ein Nährboden für stereotype Argumentationen in der »Angst-vor-Überfremdung-Gesellschaft«, die ihren Höhepunkt zurzeit in PEGIDA und Co. erleben. Doch wenn wir hinter die Fassade der Statistik-Kultur schauen, dann müssen wir uns eine Frage stellen: Wie definiert sich in diesem Zusammenhang Migration? Wer legt die Definition fest und erhält sie aufrecht?

Wir sprechen nicht von Migrant*innen, wenn Deutsche auswandern, denn diese werden als »Auswander*innen« klassifiziert, was sie von dem Bild »Migrant*in« abgrenzt. Wenn Deutsche diesen Nationalstaat verlassen, dann sind sie wagemutig und auf der Suche nach einem Abenteuer oder Erfahrungen. So ist es fast schon maßgeblich, während oder nach der Schulzeit für kurze Zeit ins Ausland zu gehen, um mal was »Gutes« zu tun und sich dabei selbst zu entdecken. Später in der Studienzeit können oder sollten wir für eine weitere Zeile im Lebenslauf die Beziehungen zwischen den europäischen Ländern stärken. In dieser Hinsicht sprechen wir nicht gern von Migrationsbewegungen. Für uns sind diejenigen Migrant*innen, die nach Deutschland kommen, gekommen sind und kommen werden, um zu bleiben. Wir werden überschüttet mit Bildern von Booten voller schwarzer Menschen. Die einzige Information, die am Ende hängen bleibt, besagt, ob sie diesmal gestorben sind oder es geschafft haben. In den Medien wird das Bild der afrikanischen Geflüchteten gerne benutzt, um bestimmte rassistische Bilder zu reproduzieren, wobei das »afrikanisch« auch gar nicht genauer bestimmt werden muss.

Können wir in der heutigen Zeit überhaupt noch in derartigen abgegrenzten Kategorien denken, wenn sich doch aufgrund der sogenannten Globalisierung alles stetig bewegt? Wir können günstig reisen und an wichtigen Ereignissen von Familie und Freund*innen teilhaben, wie das zum Beispiel für viele Menschen in Deutschland ist, die regelmäßig in die Türkei oder nach Kurdistan reisen. Wir skypen mit Menschen, die uns zeitlich sieben Stunden vorauseilen, und verfolgen in sozialen Netzwerken, was sich auf der anderen Seite der Welt abspielt. Wir reisen, wenn wir es wollen und weil wir es können, solange die Staatsangehörigkeit passt. Beziehungen sind über Länder hinweg miteinander verbunden, weil Menschen irgendwann den Ort verlassen haben, an dem sie geboren wurden. Sei es vom Dorf in die Stadt oder in das nächstbeste Land. Wir sind flexibel, wenn es um Studienorte oder Berufsperspektiven geht, solange das unserer Karriere guttut. Umzuziehen und große Distanzen zurückzulegen, temporär oder auch dauerhaft, erscheint uns folglich auch völlig legitim, doch dieses Verständnis von Bewegungsfreiheit endet schlagartig, wenn es um die Einreise bestimmter Menschen geht.

Obwohl Migrationsbewegungen überall auf der Welt stattfinden, zum Beispiel zu großen Teilen innerhalb Asiens oder Afrikas oder nach Australien und in die USA, ist Bewegungsfreiheit ein Privileg für Menschen mit Pässen aus Industriestaaten. Vor allem also für weiße Menschen.

Ein kleiner Teil der migrierenden Menschen kommt auch nach Europa, weil sich hier Perspektiven erhofft werden oder es einfach geographisch nahe liegt. Sie kommen wie so üblich zum Reisen, Studieren oder Arbeiten, aber vielen anderen Menschen wird das Visum verwehrt, obwohl sie es sich leisten könnten, sei es wirtschaftlich oder zeitlich. Ein junger Mensch aus Ghana beispielsweise, der oder die nach Deutschland möchte, bekommt ohne genauere Erklärungen eine Absage. Ist es also so abwegig, von Rassismus zu sprechen, wenn es darum geht, was weißen Passprivilegierten gewährt, jedoch Menschen aus dem globalen Süden verwehrt wird? Bewegungsfreiheit ja, aber nur für bestimmte Menschen. Für Menschen, die zufälligerweise das Glück hatten, in einem Mitgliedsstaat der Europäischen Union geboren zu sein. Das Privileg selbst jedoch hat eine lange Geschichte, warum es gewissermaßen so erstrebenswert geworden ist oder gemacht wird.

In der Tat erhält die Geschichte hinter den medial vorherrschenden und rassifizierten Migrationsbewegungen viel zu wenig Beachtung, obwohl sie doch ein so wichtiger Grund dafür ist, warum viele Menschen migrieren. Dass die Europäer*innen ausströmten, um andere Länder auszubeuten und zu kolonialisieren, wird viel zu wenig in Zusammenhang mit den Zuständen heute gebracht. Migrationsbewegungen vom globalen Süden zum globalen Norden maßgeblich als Resultate kolonialer Geschichte zu sehen, erscheint in der Realität nicht nennenswert oder als kein Rechtfertigungsgrund für Akzeptanz von Migration nach Europa. Die ehemaligen und weiterhin bestehenden Ausbeutungsverhältnisse, welche die westlichen Industriestaaten reich machten und weiterhin profitieren lassen, führen beispielsweise immer noch zu Krieg und Armut, was wiederum in den schlimmsten Fällen die Menschen dazu zwingt zu flüchten. Viele ressourcenreiche Länder sind gefangen in diesen wirtschaftlich hierarchischen Abhängigkeitsverhältnissen, die ihnen ihre Ressourcen wegnehmen, um sie andernorts teuer zu verkaufen. Menschen flüchten auch, weil sie verfolgt werden aufgrund ihrer politischen Einstellung oder sexuellen Orientierung, und oftmals sehen sie keine andere Lösung, als in einen dieser Staaten zu gehen, die so gern mit ihrer Demokratieliebe und ihren Menschenrechten prahlen.

Ihre Verzweiflung oder Perspektivlosigkeit wird dann aber ausgenutzt, um die Machtverhältnisse der Einreisestaaten klarzustellen. Indem sie entscheiden, wer bleiben darf, sitzen sie am längeren Hebel, denn hier zu sein, ist mit gewissen privilegierten Rechten bestückt, die nicht jeder Person vergönnt sind. Wäre die EU heute das politische System in seiner jetzigen Form, wenn sie nicht stets bemüht wäre, sich mit dieser wortwörtlichen Abgrenzung als Einheit zu verfestigen? Die Einreisebedingungen materialisieren sich an den Außengrenzen, die das Bild eines festen Europas schaffen. Die EU zieht ihre Grenzen und erschwert die Einreise, zum Beispiel nach Deutschland, auf allen Wegen, um den Menschen vor den Toren Europas zu zeigen, dass sie ausgewählt werden müssen, weil die Einreise nur für manche bestimmt ist. Nämlich für diejenigen, die ökonomisch wertvoll sind. So kann sich die »Festung Europa« eher als Sieb vorgestellt werden, denn das Grobe wird selektiert. Es wird von illegaler Einreise gesprochen, wenn Menschen trotz fehlender »Gründe« wagen, auf ihrem Einreiserecht zu bestehen und die Grenze zu einem EU-Staat zu passieren. Somit ist die Kriminalisierung ein weiteres Mittel, um die Menschen zu selektieren, die nach Europa kommen. Die Papierlosigkeit und die damit verbundene Illegalität erweist sich wirtschaftlich als sinnvoll, um bestimmte Jobs mit den billigsten Arbeitskräften abzudecken. Das sind dann diejenigen, die aufgrund ihrer Illegalität ihre Arbeitsressourcen dem Kapitalismus nicht anders zur Verfügung stellen können. Der Kreislauf der Migrant*innen nimmt seinen Lauf, denn Länder wie Deutschland vor allem benötigen billige Arbeiter*innen, die seit jeher angeschafft werden müssen.

Obwohl und weil sich Europa so abschottet, nutzen Menschen trotzdem lebensgefährliche Wege nach Europa. Die Tatsache der Migration wird mit Mitteln bekämpft, die keine Auswirkungen auf die realen Situationen der Weltordnung haben. So ändern sich die Ausbeutungsverhältnisse zwischen Industriestaaten und Ländern des globalen Südens nicht, wenn die Grenzen um Europa dichter gemacht werden. Der Wunsch oder der Zwang, nach Europa zu kommen, bleibt dennoch bestehen. Nur werden die Möglichkeiten, das heil zu schaffen, geringer. Die Migrationswege sind lebensgefährlich, weil Industriestaaten ihre Außengrenzen bereits auf andere Länder und Kontinente ausweiten und verteidigen. Boote und Schiffe werden in sogenannten »Push-back-Aktionen« zum Umkehren gezwungen, bevor sie europäische Gewässer erreichen. Menschen, die es auf dem Landweg über Osteuropa versuchen, werden in Gefängnisse gesperrt, bis sie wieder aus dem Land abgeschoben oder an der Grenze ausgesetzt werden. Das Mittelmeer müsste zu keinem Massengrab und Osteuropa kein Minenfeld werden, würde die EU nicht mit allen Mitteln versuchen, die unerwünschte Reise in die Mitte Europas zu verhindern.

Die europäischen Länder mit relevanten Außengrenzen sind aufgrund ihrer geographischen Lage Ersteinreiseländer vieler Menschen. So werden Staaten wie Italien alleingelassen, obwohl die EU so viel von europäischer Gemeinschaft hält. Somit muss sich ein Land wie Deutschland, das zu allen Seiten an andere europäische Länder grenzt, für keine Migrationsbewegung über den Landweg verantwortlich fühlen. Die Dublin-Abkommen schreiben vor, dass Geflüchtete das Land, in dem sie ihren Asylantrag stellen, nicht frei wählen dürfen. Sie müssen in jenem Land bleiben und das Asylverfahren durchlaufen, in dem sie sich offiziell als Erstes aufgehalten haben. Einzelne EU-Staaten sind somit berechtigt, Geflüchtete und Migrant*innen in einen anderen EU-Staat abzuschieben. Sofern dies geschieht, ist ein Land wie Deutschland fein raus. Haben die Menschen es aber mal in ein europäisches Land geschafft, trotz der ganzen Hindernisse, dann droht ihnen womöglich jenseits von Dublin-Regelungen die Ausreise aus Europa, wenn nach Meinung der Behörden kein Grund für einen legalen Aufenthalt besteht, da Asyl nicht notwendig erscheint. Asyl wäre die allerletzte legal geltende Möglichkeit, bleiben zu dürfen, denn andere Möglichkeiten wie zum Beispiel Eheschließung, Familiennachzug oder die Blue Card für »hochqualifizierte« Fachkräfte hätten schon von vornherein die legale Einreise bewirkt.

Ist die Freude über das Ankommen und Bleibendürfen in Europa groß, so hat sie keinen berechtigten Daseinsgrund, denn das Willkommen ist geprägt von bürokratischen Höllen, unmenschlichen Unterkunftsbedingungen und dem Verdammtsein zum Nichtstun. Oftmals wird das begleitet von der Angst, jederzeit immer noch abgeschoben werden zu können, selbst nach vielen Jahren und der Gründung von Familienverhältnissen. Die Willkür über Menschen mit Geflüchtetenstatus ist enorm rassistisch geprägt und institutionalisiert. Selbst wenn viele Menschen mit Geflüchtetenstatus dankbar sind, bleibt zu bemerken, dass das Abhängigkeitsverhältnis, das sie zu Menschen zweiter Klasse macht, nie aufgelöst wurde.

Nur mit dem politischen Bewusstsein, dass hinter dem System von Nationalstaaten eine rassistische Ideologie gekoppelt mit kapitalistischen Hierarchien innerhalb der Weltwirtschaft steht, kann eine Welt mit wirklicher Bewegungsfreiheit als Alternative gedacht werden. Eine Alternative, die der aktiven Solidarität und kritischen Bewusstseins europäischer Bürger*innen bedarf.