Die 15. Generalvollversammlung des Nationalkongresses Kurdistan (KNK)

Steht die Ära der KurdInnen bevor?

Nilüfer Koç, KNK-Kovorsitzende, im Interview mit dem Kurdistan Report

Kongreya Neteweyî ya Kurdistanê (KNK)

Sie haben Ihre Vollversammlung zu einer Zeit der für die KurdInnen im Mittleren Osten günstigen Entwicklungen durchgeführt. Wie hat sich das auf Ihr Treffen ausgewirkt?

Das politische und soziale Bild Kurdistans von einem Jahr ist erneut auf unserer 15. Generalvollversammlung reflektiert worden. Die zahllosen Erfolge gegen den Islamischen Staat (IS) in Rojava [kurd.: Westen; Westkurdistan/Nordsyrien] und Başur [kurd.: Süden; Südkurdistan/Nordirak], der dreijährig

 

e politische Kampf um Verhandlungen Abdullah Öcalans mit der Regierung der Partei für Gerechtigkeit und Aufschwung (AKP), die Festigung der demokratischen Autonomie in Rojava und das steigende internationale politische Interesse an Kurdistan waren die wesentlichen gemeinsamen Nenner in den Debatten. Trotz politischer Differenzen waren sich die 52 RednerInnen der kurdischen Parteien in vielen Punkten einig: dass es jetzt nämlich um die Ära der KurdInnen gehe.

Auch waren sich die politischen Parteien, die êzîdischen, alevitischen, christlichen, islamischen VertreterInnen darüber einig, dass bei der Neugestaltung des Mittleren Ostens KurdInnen heute nicht mehr übersehen werden könnten, wie etwa 1923 bei den Debatten um den Lausanner Vertrag. Damals waren die KurdInnen ausgeschlossen worden. Ihre Zukunft war bestimmt worden durch Fremdmächte. Kurdistan war zu einer regionalen wie internationalen Kolonie verdammt worden. Heute, nach 92 Jahren, sieht sein Bild ganz anders aus: in all seinen vier Teilen organisierte KurdInnen. Die Solidarität zwischen der kurdischen Bevölkerung in der Türkei, Iran, Irak, Syrien sowie der Diaspora hat sich gefestigt. Politische Differenzen zwischen den kurdischen politischen Parteien bieten nicht mehr dieselben Möglichkeiten zur ausländischen Intervention wie früher. Der hohe Grad politischen Bewusstseins in der kurdischen Bevölkerung setzt die kurdischen politischen Parteien unter starken Druck, was den »Bruderkrieg« verhindert.

Im Gegensatz dazu wurde vermerkt, dass die einst so mächtigen Kolonialmächte Kurdistans in ernsten Schwierigkeiten steckten, und zwar innen- wie auch außenpolitisch. Das heißt, die Staaten, sprich die Ausführenden der Leugnungs- und Vernichtungspolitik gegen die KurdInnen, seien noch nie so schwach gewesen wie heute. Außenpolitisch steht der türkische Staat in Visier und Kritik internationaler Politik. Das Baath-Regime in Syrien wird künstlich am Leben erhalten. Iran ist sowohl innen- als auch außenpolitisch derart marginalisiert, dass kleine Unruhen im Land dem Regime großen Schaden zufügen könnten. Auch der arabische Teil Iraks, ob SunnitInnen oder SchiitInnen, steckt in einem unlösbaren Chaos.

Diese Kolonialstaaten haben in den Jahrzehnten alles Erdenkliche unternommen, um das kurdische Recht auf Selbstbestimmung zu unterdrücken. Diplomatisch haben sie die KurdInnen als Bedrohung ihrer Souveränität verkauft und das Recht auf Selbstbestimmung stets als Separatismus diffamiert. Nicht, dass diese Staaten es aufgegeben hätten, gegen die KurdInnen anzukämpfen. Sie können aber zumindest in keiner antikurdischen Allianz zusammenkommen, da sie untereinander verfeindet sind. Obwohl sie jahrzehntelang kollektive Verbrechen in Kurdistan begangen haben. International verlieren sie an Glaubwürdigkeit, während das Bild von den KurdInnen immer mehr als eines der GarantInnen für Stabilität gezeichnet wird.

In fast allen Redebeiträgen wurde auf die negative und aggressive Politik der gegenwärtigen türkischen Regierung hingewiesen. Die RednerInnen sowohl aus Başur als auch aus Rojava kritisierten die türkische antikurdische Politik. In der Gesamtheit der Debatten ergab sich, dass die Türkei außer in Rojava und Başur jetzt auch einen Krieg gegen KurdInnen in Bakur [kurd.: Norden; Nordkurdistan/Südosttürkei] führt. In Rojava realisiere die Türkei ihren antikurdischen Kurs über die Unterstützung des IS; für Başur wurde auf die türkische Beteiligung beim Fall Mûsils (Mossuls) hingewiesen. Ferner wurde betont, dass die AKP-Regierung bemüht sei, einen innerkurdischen Konflikt, namentlich eine Konfrontation zwischen der ArbeiterInnenpartei Kurdistan (PKK) und der Demokratischen Partei Kurdistans (PDK), zu entfachen. Aus diesem Grund wurde der Wahlerfolg der KurdInnen bei der türkischen Parlamentswahl im vergangenen Juni als historischer Sieg begriffen und erneut auf die Bedeutung der Neuwahlen am 1. November hingewiesen. Die kürzlich proklamierte demokratische Autonomie in Teilen Bakurs wurde begrüßt und als legitime Anwendung des Selbstbestimmungsrechtes anerkannt. Zugleich wurde betont, dass die AKP in den letzten drei Jahren des »Friedensprozesses« zwischen dem türkischen Staat, Abdullah Öcalan, der Demokratischen Partei der Völker (HDP) und der PKK nicht die kurdische Hand zum Frieden ergriffen habe. In diesem Zusammenhang wurde erneut die Freilassung Öcalans als eine Prämisse für den Frieden betont.

KurdistanFerner wurde des Öfteren zum gemeinsamen Handeln gegen die AKP-Regierung aufgerufen und der Kampf gegen die AKP als nationale kurdische Notwendigkeit gesehen, da sie gegenwärtig als eine Gefahr für drei Teile Kurdistans verstanden wird.

Ein wichtiges Thema war die politische Krise in Başur. Dabei wurde betont, dass sie auf die Dauer eine Gefahr für die Autonomieregion (KRG) darstelle, da interne Probleme die gegenwärtigen außenpolitischen Chancen aufs Spiel setzten. Für Başur wurde eine Demokratisierung der politischen Strukturen gefordert. Dafür solle der KNK noch weitere kurdische Parteien aufnehmen und die Funktion eines gesamtkurdischen Kongresses ausüben.
Die Revolution von Rojava als nationales Augenmerk der KurdInnen solle als nationale Errungenschaft weiterhin gefördert werden; und für ihre internationale Akzeptanz sei zu kämpfen.

Das Massaker des letzten Jahres an den êzîdischen KurdInnen hatte in nationalem Sinne einen wichtigen, sensiblen Punkt getroffen. Der Völkermord an den Êzîdis wurde als nationales Trauma erneut debattiert, und es wurde zugleich gefordert, dass die Verantwortlichen früher oder später zur Rechenschaft gezogen werden müssten.

Erstaunlich war auf dem diesjährigen Kongress die rege Kritik der Frauen an kurdischen politischen Parteien. Immer wieder wurde auf die positiven Erfahrungen der Kurdinnen in Bakur und Rojava hingewiesen und politische Parteien in Başur und Rojhilat [kurd.: Osten; Ostkurdistan/Westiran] wurden aufgefordert, die internen Strukturen durch die emanzipatorische Beteiligung von Frauen zu öffnen. Sowohl die Erfolge der Frauenverteidigungseinheiten (YPJ; in Rojava) und der Einheiten der Freien Frauen STAR (YJA Star; in Bakur) als auch die hohe politische Beteiligung von Frauen in allen Lebensbereichen in den anderen beiden Teilen Kurdistans sollen als nationale Avantgarde der sozialen Revolution gesehen werden.

Die christlichen AssyrerInnen betonten, ihre »Auferstehung« habe gemeinsam im Kampf mit den KurdInnen in Rojava begonnen und sie wollten sie auch in Başur erfahren. Erstmals nach dem Zerfall des Assyrischen Reiches seien sie in der Lage, sich selbst verteidigen zu können gegen die Angriffe des IS. Sie verwiesen auf die Notwendigkeit einer Lösung in Rojava.

Im KNK wurde begrüßt, dass ihm jetzt auch arabische Parteien sowie VertreterInnen der MandäerInnen und Kaka’i als Mitglieder angehören; bislang waren es nur zwei assyrische Parteien gewesen. Auch die diesjährige hohe Anzahl Frauen wurde positiv aufgenommen. Starke Kritik am KNK wurde vor allem daran geäußert, dass er bei akuten politischen Ereignissen nicht offensiv genug sei.

Der KNK formuliert als eines seiner Hauptziele die nationale Einheit. Wie sieht es heute mit ihr aus?

Die Erfolge des letzten Jahres, wie die Siege von Kobanê, Girê Spî (Tall Abyad), Maxmur, Şengal (Sindschar) als auch die erfolgreiche Verteidigung weiterer Orte in der KRG gegen den IS, haben das nationale Selbstbewusstsein der KurdInnen gestärkt. Ähnlich wirkt sich auch der Wahlerfolg in der Türkei am 7. Juni aus. Fazit ist: Wenn KurdInnen zusammen kämpfen, siegen sie. Daher wurde die Diskussion über die Entwicklung einer nationalen Strategie in der Verteidigung, aber auch in der internationalen Politik als unausweichlich betont. Auch die Tatsache, dass immer mehr internationale Kräfte im kurdischen Freiheitskampf ebenfalls eine Förderung der Stabilität sehen, eröffnet den KurdInnen neue diplomatische Chancen.

Daher werden wir als KNK in Zukunft unseren Schwerpunkt darauf setzen, auf verschiedenen Wegen die Konflikte zwischen den Parteien offensiver anzugehen. Nationale Einheit innerhalb der Bevölkerung existiert. Die Erfahrungen des letzten Jahres haben gezeigt, dass für Kobanê KurdInnen in allen vier Teilen Kurdistans, aber auch der Diaspora recht sensibel reagierten und auf die Barrikaden gingen. Für das Verhältnis zwischen den einzelnen Teilen Kurdistans lässt sich sagen, dass die nationale Solidarität das philosophische Ausmaß »einer für alle, alle für einen« erreicht hat. Als es für Kobanê kritisch wurde oder als Maxmur in Başur durch den IS extrem gefährdet war, waren KurdInnen in Bakur, Rojhilat, Başur und Rojava auf den Beinen. Diese neue Entwicklung birgt auch neue Chancen für den lang ersehnten kurdischen Nationalkongress1. Denn die Solidarität der Bevölkerung zwischen den Landesteilen setzt die politischen Parteien unter einen immensen politischen Druck.

Probleme hinsichtlich der nationalen Einheit stellen die politischen Parteien dar. In Kurdistan ist die Parteienlandschaft durch konservative TraditionalistInnen und progressive DemokratInnen geprägt. Vom KNK aus müssen wir den Dialog zwischen den Richtungen aufrechterhalten und eine Art kurdische Innenpolitik der Kompromisse erreichen können. Gegenseitiger Respekt und die Bereitschaft, bei internen Konflikten die Kolonialstaaten Türkei und Iran sowie Global Player aus unseren Angelegenheiten herauszuhalten, werden erforderlich sein.

Auch müssen wir nationale Richtlinien und Klarheit in der Bündnispolitik der einzelnen kurdischen Parteien mit der Türkei, Iran, Irak, Syrien durchsetzen. Es kann nicht sein, dass kurdische Bündnispolitik die Kolonialstaaten stärkt und kurdischen Interessen schadet. Das heißt, wir müssen gemeinsame Richtlinien für unsere Diplomatie erarbeiten. Gelingt uns das, dann wird dem kurdischen Nationalkongress nichts im Wege stehen. Denn wie des Öfteren bekundet, die KurdInnen setzen auf die Praktizierung des Selbstbestimmungsrechts innerhalb der bestehenden Staatsgrenzen. Ferner kämpfen sie für die Dezentralisierung. Diese Forderungen sind relativ bescheiden und stellen daher an sich keine Gefahr für die so oft betonte Souveränität der Staaten Türkei, Iran, Irak und Syrien dar. Damit bestünde mit dem kurdischen Nationalkongress auch keine Gefahr für Interessen ausländischer Mächte.
Wir hatten bereits 2013 auf den Appell Abdullah Öcalans hin, des Vorsitzenden der Gemeinschaft der Gesellschaften Kurdistans (KCK), einen ersten Schritt unternommen, den kurdischen Nationalkongress ins Leben zu rufen. Damals hatte der KRG-Präsident und PDK-Vorsitzende, Herr Mesûd Barzanî, in seinem, Abdullah Öcalans und Dschalal Talabanis [des damaligen irakischen Staatspräsidenten und Vorsitzenden der zweiten großen KRG-Regierungspartei Patriotische Union Kurdistans (YNK)] Namen 72 kurdische Parteien zu einer ersten Sitzung am 19. Juli 2013 eingeladen. Unter der Schirmherrschaft von Herrn Barzanî führten wir vier Monate lang Diskussionen, haben den Kongress allerdings nicht zustande bringen können. Die Haltung kurdischer Parteien zu Rojava war gespalten. Außerdem haben wir den Fehler gemacht, die Kongressvorbereitungen während des Parlamentswahlkampfs in der KRG durchzuführen. Weshalb einige der politischen Parteien dort die Vorbereitungsarbeiten für ihren Wahlerfolg ausgenutzt haben.

Wie wurden Aufgaben und Gefahren für die KurdInnen auf Ihrem Kongress bewertet? Welches sind die gegenwärtigen Herausforderungen und Chancen für sie?

Die einzige Gefahr, auf die hingewiesen wurde, war das Problem der inneren Spaltung. Diese Spaltung, die von der AKP und Iran vehement forciert wird, wütet gerade in der Autonomen Region Kurdistan in Form einer ernsthaften politischen Führungskrise. Während in Bakur und Rojava im Hinblick auf innergesellschaftliche Demokratie nach der Maßgabe »Einheit der Vielfalt« erfolgreich historische Schritte unternommen worden sind, ist Başur nach wie vor gespalten zwischen konservativ-traditionalistischer und progressiv-moderner Politik. Es darf nicht außer Acht gelassen werden, dass sowohl Iran als auch die Türkei als auch einige arabische Staaten mit dem autonomen KRG-Status niemals glücklich waren. Nach wie vor ist ihnen Başur als kurdische Errungenschaft ein Dorn im Auge. Mit verschiedenen Mitteln versuchen sie, Başur zu kolonialisieren und zu destabilisieren. Ähnlich verhält es sich auch mit Rojava. Die erwähnten Staaten kämpfen seit vier Jahren dagegen an, dass die KurdInnen Rojava als autonomes Teilgebiet eines zukünftigen demokratischen Syrien entwickeln können. Unter diesen Staaten ist die Türkei am aggressivsten. Die kurdische Bündnispolitik einzelner Parteien bietet den Staaten, vor allem der AKP, Interventionsmöglichkeiten.

In meiner Abschlussrede auf dem Kongress habe ich mehrmals betont, dass die AKP eine nationale Gefahr für uns alle KurdInnen darstellt. Die Sorge, dass wir von den politischen Gelegenheiten profitieren könnten, hat bei ihr zu einer erneuten KurdInnenphobie auch jenseits der türkischen Grenzen geführt. Die AKP betrachtet die KurdInnen als Barriere, die den türkischen Staat im politischen Vakuum in Syrien, in dem Chaos in Irak und mit der avantgardistischen Politik der Opposition in der Türkei an der Verwirklichung der neoosmanischen Vision gehindert hat. In Rojava führt die AKP mithilfe des IS seit drei Jahren Krieg, in Başur schürt sie einen Konflikt zwischen PKK und PDK. Außerdem verschärft sie mit ihrer Doppelstrategie die Krise in den Beziehungen zwischen Bagdad und Hewlêr (Arbil). Mithilfe des türkischen Nachrichtendienstes MIT mischt sie sich in die inneren Angelegenheiten der KRG. In Kooperation mit Saudi-Arabien und Qatar versucht sie eine gemeinsame Strategie gegen Rojava und Başur zu entwickeln. Sie schürt Konflikte zwischen KurdInnen und AraberInnen, zwischen KurdInnen und TurkmenInnen. Für die AKP bedeutet KRG Erdöl. Das Öl wird von der KRG über die einzige Transportmöglichkeit, die Türkei, verkauft. Dabei hat die AKP illegale Kriterien aufgestellt. Etwa fünfzehn Prozent aus den Öleinnahmen fließen direkt in die Kassen der AKP und der Familie Erdoğan.

Auch auf internationaler Ebene trachtet die AKP danach, das positive Bild der KurdInnen zu schädigen. Denn vor allem die USA haben die Schwelle der Distanz zu einigen kurdischen politischen Parteien wie der Partei der Demokratischen Einheit (PYD) in Rojava überwunden und stehen öffentlich zu deren Unterstützung. Das hat zuletzt dazu geführt, dass der türkische Premier Davutoğlu den USA drohte: Im Falle weiterer US-amerikanischer Militärunterstützung für Rojava würde die Türkei die PYD-kontrollierten Gebiete direkt militärisch angreifen.

Nicht zuletzt hat die AKP den Flüchtlingen Tür und Tor nach Europa geöffnet, vor allem nach Deutschland. Diese Drohung und Erpressung folgte, nachdem aus Berlin kritische Stimmen gegen die AKP-Führung laut geworden waren.

Alles in allem stehen Europa, besonders Deutschland, Russland und die USA vor einer neuen Entscheidung in der kurdischen Frage. Vor allem aber über die PKK.

Wie sehen Sie die Rolle des Westens im Hinblick auf die Einheitspolitik der KurdInnen: förderlich oder hinderlich?

Ich denke, dass die Teile-und-herrsche-Politik aus dem Westen in Kurdistan immer schwieriger werden wird. Die Aufteilung der kurdischen politischen Parteien in die Bösen und die Guten hat auf Dauer wenig Chancen. Die PKK war primär ein Problem der westlichen Politik; sie weiterhin als Problem zu behandeln, wird angesichts ihres Einflusses auf die vier Teile Kurdistans nicht einfach sein. Es muss angemerkt werden, dass die politische Kultur der PKK als einer modernen und progressiven Kraft gegenwärtig große Sympathien in allen vier Teilen Kurdistans und der kurdischen Diaspora genießt. Ferner muss festgehalten werden, dass sie als einzige kurdische Kraft in allen vier Teilen Kurdistans militärisch präsent ist. Schließlich verfügt sie zur Bekämpfung des IS auch über Guerillakräfte in der KRG. Im Mittleren Osten sind militärische Präsenz und Stärke ausschlaggebend für politische Arbeit. Nicht zuletzt ist Kurdistan durch den IS gefährdet. Mit ihrer Verteidigungsstrategie hat die PKK Stärke bewiesen und in Kobanê, Girê Spî, Şengal, Maxmur den Unbesiegbarkeitsmythos des IS gebrochen. Weshalb die AKP jetzt bemüht ist, Teile des IS in die Al-Nusra-Front zu integrieren und sie auszurüsten, um mit dieser den Kampf gegen die KurdInnen fortsetzen zu können.

Künftig wird es wichtig sein, etwas Ordnung in das Chaos in Syrien und Irak zu bringen. Dabei setzen die USA für die Befreiung von u. a. Kaniya Dil (Dscharabulus) vom IS auf die kurdischen Kräfte. Der Fall von Kaniya Dil wird den Fall von ar-Raqqa und dann Mûsil nach sich ziehen. In diesem Zusammenhang wird es schwierig werden, eine Anti-PKK-Politik aufrechtzuerhalten. Auch die Überwindung der Krise in der KRG hängt sehr stark von der Haltung der PKK ab. Trotz der gezielten Provokationen der AKP hat die PKK klar und deutlich erklärt, sie werde keine Konfrontation mit der PDK eingehen; diese äußerte sich ähnlich. Viele kritische Stimmen in der KRG hören auf die PKK, weshalb diese jetzt herausgefordert ist, die PDK mit politischen Mitteln von einer demokratisch-parlamentarischen Linie zu überzeugen. Die Autonomieregion ist nicht nur für die Gesamtheit der KurdInnen eine nationale Errungenschaft, sondern als weitgehend stabiles Gebilde auch für internationale Kräfte von Bedeutung. Stabilität in der KRG wird auch vom Kampf der KurdInnen gegen die AKP in der Türkei abhängen.

Ich verfolge seit geraumer Zeit, wie die europäische Politik im Hinblick auf die KurdInnen unter Druck steht. Europa und vor allem Deutschland sehen sich einer neuen Herausforderung gegenüber. Dabei kann die kurdische Diplomatie einen gewichtigen Beitrag leisten, indem sie systematische Überzeugungsarbeit leistet. Denn noch herrscht die Skepsis der vierzigjährigen Vorurteile. Hier besteht noch immer die Besorgnis, inwieweit nichtstaatlichen AkteurInnen vertraut werden kann. Außerdem ist es für Europa gegenwärtig sehr schwierig, sich mit der AKP-Regierung auseinanderzusetzen. Einst verhalfen Europa und die USA der AKP als Modell für den gemäßigten Islam zur Macht. Nun aber ist etwas ganz anderes aus ihr geworden, womit sowohl die USA als auch die EU Probleme haben. Eine AKP, die im Widerspruch zur internationalen Anti-IS-Koalition ihren Stellvertreterkrieg mit allen Mitteln über den IS ausgetragen hat. Die AKP destabilisiert, wo sie interveniert, und vertieft das ohnehin bestehende Chaos.

Für Deutschland stelle ich die Frage, ob wie einst zu Kaisers Zeiten in den »kranken Mann am Bosporus« investiert wird, um seine Lebensdauer zu verlängern, oder ob die demokratischen Kräfte des Landes unterstützt werden. Damals war es Sultan Abdülhamid II., heute ist es der Sultan Recep Tayyip Erdoğan.

Ich denke, dass eine Schwächung der kurdischen Kräfte den gesamten Mittleren Osten negativ beeinflussen wird. Zumal die Schwäche der KurdInnen die Stärkung des IS sowie die Verlängerung der Lebensdauer korrupter und antidemokratischer Regime bedeuten wird. Daher ist das Zusammenkommen der KurdInnen auch im Interesse derjenigen, die an Stabilität im Mittleren Osten interessiert sind.


Fußnote:
1Damit ist im Gegensatz zum ähnlichen Namen der Institution KNK das seit Jahren immer wieder verschobene Projekt einer gesamtkurdischen Versammlung/Konferenz gemeint