Über die Kriegspolitik in Nordkurdistan

»Die Berge und Straßen werden sich vereinigen«

Michael Knapp

Jeden Tag überschlagen sich die Nachrichten über neue Angriffe, neue von Kräften des türkischen Staats umgebrachte Zivilist_innen; seit dem 07.06.15 sind es mehr als 150 Zivilist_innen jeden Alters, die von türkischen Sicherheitskräften umgebracht wurden, in derselben Periode wurden mindestens 140 Friedensaktivist_innen durch den von der Türkei unterstützten Islamischen Staat (IS) ermordet. Seit der für die Demokratische Partei der Völker (HDP) erfolgreichen Parlamentswahl am 07.06. und der damit zusammenhängenden Verhinderung der absoluten Mehrheit für die Partei für Gerechtigkeit und Aufschwung (AKP) hat der türkische Staat zu einer Eskalations- und Kriegspolitik gegriffen, die nur mit der in den blutigen 1990er Jahren zu vergleichen ist. Das Votum der Bevölkerung gegen eine absolute AKP-Mehrheit wurde nicht akzeptiert, stattdessen verhinderte das Übergangskabinett systematisch eine Regierungsbildung und bekundete offen, auf Neuwahlen zu setzen. Hinzu kommt eine Welle von Übergriffen auf die Zivilgesellschaft und die in Waffenstillstandsposition befindliche Guerilla. Schon vor der Wahl war durch verschärfte Militäroperationen alles versucht worden, um ein Ende des einseitigen Waffenstillstands zu erzwingen. Terroranschläge am 05.06. in Amed (Diyarbakır) und am 20.07. in Pirsûs (Suruç) töteten mehr als 140 Menschen und machten jeglichen Wahlkampf der HDP unmöglich, aus Sicherheitsgründen sagte sie alle Wahlveranstaltungen ab. Eine von der AKP angestachelte Pogromwelle gegen kurdische Strukturen tobte über die Türkei und mit der Legitimation der Anschläge des von der Türkei unterstützten IS startete der Staat eine offizielle »Antiterroroffensive«, die sich allerdings nicht gegen den IS richtete, sondern gegen die Friedensbewegung, die kurdische Freiheitsbewegung und die Guerilla, also gegen diejenigen, auf welche die Bombenanschläge gezielt hatten.

Als in Gimgim (Varto) am 15. August, dem in Kurdistan gefeierten Jahrestag der Aufnahme des bewaffneten Kampfes der PKK, der Körper der getöteten Guerillakämpferin Ekin Van in der Stadt entkleidet präsentiert wurde, begann eine neue Phase des Widerstands. Nach den Festnahmewellen und mehreren Massakern und der antidemokratischen Haltung der AKP war offensichtlich geworden, dass in einem sich faschisierenden System der parlamentarische Weg verschlossen bleibt. Daher entschieden sich große Teile der Bevölkerung in etlichen Stadtteilen und Städten – wie Amed-Sûr, Gever (Yüksekova), Colemêrg (Hakkâri), Gimgim, Cizîra Botan (Cizre), Farqîn (Silvan), Dêrik, Qoser (Kızıltepe) –, ihre Stadtviertel selbst zu verwalten, unabhängig von den vom Staat eingesetzten Provinzgouverneur_innen. Dabei ist zu beachten, dass diese Selbstverwaltung einen langen Prozess darstellt und in vielen kurdischen Städten starke radikaldemokratische Rätestrukturen und ein starkes Bewusstsein existieren. Auf Initiative der lokalen Räte erklärte ein Ort nach dem anderen seine demokratische Autonomie und Selbstverwaltung. Als der türkische Staat dann anfing, militärisch in diese Viertel vorzudringen und Übergriffe als »Exempel« zu statuieren wie z. B. die Präsentation des misshandelten Körpers der Guerillakämpferin Ekin Van, begann die Bevölkerung damit, die Verteidigung einiger Viertel selbst in die Hand zu nehmen. Insbesondere die PKK-Jugendbewegung, YDG-H und YDG-K, spielt bei dieser Selbstverteidigung eine tragende Rolle.

Die HDP-Abgeordnete Besime Konca erklärt dazu: »Wir als HDP und DBP [Partei der Demokratische Regionen] haben sowieso die Selbstverwaltung in unserem Programm. Die Bevölkerung hat in diesem Kontext schon lange, seit fünfzehn Jahren, Kommunen und Viertelräte aufgebaut. Für Kultur, Frauenbefreiung, Ökonomie und alle anderen gesellschaftlichen Bereiche. (...) An den Orten, wo wir über neunzig Prozent hatten, haben die Menschen auf eigene Initiative entschieden, die Selbstverwaltung zu erklären. Es konnten aber nicht überall Kommunen gegründet werden, denn der Staat hat diejenigen, die Kommunen gründeten, wie auch alle, die Reden hielten, an Kundgebungen teilnahmen oder etwas organisierten, inhaftiert. Also haben die Kommunen beschlossen, ihre Selbstverteidigung zu organisieren und, wenn nötig, eben auch Gräben zu ziehen und Barrikaden zu bauen. Und zu sagen, die Polizei kommt auch mit ihren Panzern nicht mehr in die Viertel hinein ...«Bei dem Aufbau der Selbstverwaltung und Selbstverteidigung in den Vierteln durchbrechen Frauen patriarchale Gesellschaftsstrukturen. | Foto: JINHA

Viele betonen, dass es jetzt um die praktische Umsetzung der Basisdemokratie geht, wenn nötig, wird diese verteidigt. Auch Besime Konca sagt: »Die Gräben sind keine Lösungsmethode, sondern eine Konsequenz, sie sind legitime Selbstverteidigung.« Die bewaffnete Selbstverteidigung der Stadtviertel stellt eine Reaktion auf die antidemokratische Politik des Staates dar, die sich immer weiter auszubreiten scheint. Der Vorsitzende des Menschenrechtsvereins (IHD) und DBP-Vertreter Muharrem Erbey erklärt zur aktuellen Lage: »Es ist kein Unterschied zu den 90er Jahren. Die Methoden haben sich verändert. Damals wurden Menschen, Gewerkschafter_innen, Abgeordnete, Menschenrechtler_innen nachts abgeholt und ermordet. Es herrschte ein Klima der Angst. Heute leistet die Gesellschaft geschlossen Widerstand. Damals waren die Spezialeinheiten extreme Nationalist_innen unter der Ideologie des Türkentums, heute treten sie beispielsweise als Esadullah (Löwen Allahs) mit Vollbärten auf, schreiben dschihadistische, sexistische, nationalistische Parolen an die Wände. Die Vernichtung geht aber genauso weiter. Die Weltanschauung der Mörder_innen hat sich geändert, aber die Ermordeten sind die gleichen. Jetzt ist es gefährlicher als in den 90ern. Damals wurden die Menschen im Geheimen umgebracht, jetzt werden sie auf offener Straße – vor allen Zivilist_innen – erschossen und die Mörder fliehen nicht einmal, denn sie sind sich der Straffreiheit sicher; die Polizist_innen, die meinen Freund und Anwaltskollegen Tahir Elçi ermordet haben, werden weder ihres Amtes enthoben und auch zu Prozessen nur als Zeug_innen geladen. Während unsere Bürgermeister_innen inhaftiert und sofort ihres Amtes enthoben werden.«

Doch nicht nur Spezialeinheiten werden gegen die Bevölkerung eingesetzt, es werden Häuser niedergebrannt und es findet eine regelrechte Vertreibungswelle statt. Am 14.12. wurden aus der Provinz Șirnex (Şırnak)alle verbeamteten Lehrer_innen auf unbestimmte Zeit abgezogen und es zeichnen sich weitere Angriffe ab. Auch Alltagsbesorgungen wie Wasser holen – das Wasser aus der Leitung ist wie der Strom gesperrt – werden zum potenziell tödlichen Unterfangen. In Dêrik brannten nach sechs Tagen Beschuss und Belagerungszustand die ersten Gebäude in den acht Stadtvierteln unter Ausnahmezustand, in Amed-Sûr brennen die Häuser. Auch hier waren nach Berichten des IHD die Stromversorgung gekappt, Wasserspeicher unter Feuer genommen und Scharfschützen der Sicherheitskräfte auf den Dächern postiert worden. So scheint versucht zu werden, den Willen der widerständigen Bevölkerung zu brechen und sie zu vertreiben. Doch trotz massivster Angriffe musste das Militär in Gever, Farqîn und anderen Orten immer wieder erfolglos abziehen. Es war ihnen trotz massiven Beschusses und Belagerung nicht gelungen, den Widerstand in den drei umkämpften Stadtvierteln Farqîns zu brechen. Widerstandstechniken, die im Kampf um Kobanê erprobt worden waren, werden nun in den Städten »Nordkurdistans« angewandt. So werden große Betttücher über die Straßen gehängt, um den Snipern kein Schussfeld zu bieten.

Die emanzipatorischen Strukturen der Selbstverwaltung offenbaren sich auch deutlich unter den Bedingungen des Angriffs. Ähnlich wie in Rojava zeigt sich auch hier, dass das offensive Auftreten der Frauen immer mehr patriarchale Gesellschaftsstrukturen aufbricht, so befreite die Frauenjugendeinheit der YDG-K beispielsweise in Cizîre eine 17-Jährige, die zwangsverheiratet werden sollte, direkt aus dem Hochzeitshaus. Aus zahlreichen Städten können wir hören, dass neue Kommunen gebildet werden, in Nisêbîn (Nusaybin) wurden gerade jetzt im Belagerungszustand Kulturkommunen gegründet, in Gever ist das erste Mal die ganze Stadt in Kommunen organisiert. Der Wegfall des Staates scheint trotz der massiven Angriffe auf allen Ebenen kreative Kräfte freizusetzen. Viele in selbstorganisierten Gebieten sehen sich deshalb auch als Mustergebiete und rechnen fest mit der Ausbreitung dieses Konzepts und der Aktivierung weiterer Regionen.


Michael KnappMichael Knapp ist Historiker und Autor. Er ist Mitglied des Kurdistan-Solidaritäts-Komitees in Berlin.