Zur aktuellen Situation von HDP und DBP

Aufbau und Verteidigung

Interview mit Besime Konca und Muharrem Erbey

Das Gespräch mit Besime Konca, der Abgeordneten der Demokratischen Partei der Völker (HDP) und der in der HDP organisierten Partei der Demokratischen Regionen (DBP), sowie Muharrem Erbey, dem HDP-Abgeordneten von Amed (Diyarbakır) und ehemaligen langjährigen Vorsitzenden des Menschenrechtsvereins IHD, führten wir anlässlich ihres Besuches in Berlin am 19.12.2015.

Sehr geehrte Frau Konca, sehr geehrter Herr Erbey, wie bewerten Sie Ihren aktuellen Besuch in Deutschland?

Besime Konca: In den letzten Monaten wurde vermehrt über die Gräueltaten des Islamischen Staates (IS) gesprochen, aber wir sind hier, um klarzustellen, dass die Frage der Menschenrechte im Mittleren Osten auch von einer anderen Seite her betrachtet werden sollte: Es wurde in Europa und im Westen nicht wahrgenommen, dass sich die Regierung der Partei für Gerechtigkeit und Entwicklung (AKP) im Hinblick auf Menschenrechte keinen Zentimeter bewegt hat und der Statuslosigkeit der Kurd*innen von Deutschland und dem Westen keinerlei Relevanz beigemessen wurde. Es wird immer nur darüber diskutiert, wenn Krieg herrscht, aber es wird auf keine Lösung hingewirkt. In den neunziger Jahren wurden drei Millionen Kurd*innen vertrieben, eine Million lebt in Deutschland, die Kurd*innen können auch hier ihre Kultur nicht ausleben, sie werden kriminalisiert und assimiliert und ansonsten als billige Arbeitskräfte benutzt. Die kurdische Frage ist eine internationale Frage, nicht nur eine Frage der AKP oder der Türkei. Die Lösung kann daher auch nur international sein.

Wir wird Ihrer Meinung nach der Krieg in den Städten Nordkurdistans im Westen der Türkei wahrgenommen? Gibt es Solidarität wie bei den Gezi-Protesten?

B. K.: In dreizehn Jahren AKP-Regierung wurde die Türkei auf eine tief greifende Weise verändert, die Presse wurde zum Schweigen gebracht, ebenso die Opposition, die Hälfte der Gesellschaft mit ökonomischen Mitteln, mit Geld eingefangen, die andere Hälfte mit Gewalt unterdrückt – es entstand ein Klima des Schweigens, dieses Schweigen wurde mit dem Gezi-Widerstand durchbrochen. Insbesondere die massive Organisierung des IS in der Türkei und seine Unterstützung durch den Staat haben einerseits zu einem Solidarisierungseffekt in der Opposition und andererseits aber auch zu Angst und Einschüchterung geführt. Als HDP stellen wir ein sehr starkes Bündnis dar, das aus ganz verschiedenen gesellschaftlichen Bereichen kommt, Linke, Sozialist*innen, Intellektuelle, Demokrat*innen, die Frauenbewegungen, aber dennoch gibt es im Westen der Türkei keine sehr starke, massenhafte Haltung zur Situation in den kurdischen Städten. Denn diejenigen, die als Teil dieser Proteste wahrgenommen werden, kommen entweder ins Gefängnis oder, wie wir es in Ankara gesehen haben, werden in die Luft gesprengt. Die Inhaftierung von Can Dündar und Erdem Gül [Chefredakteur und Büroleiter der Zeitung Cumhuriyet] hat diese Politik deutlich gemacht. Es gibt immer noch Menschen, die ihre Stimme erheben, aber keine massenhafte Aktivität. Etwa sechzig Kanäle strahlen Propaganda der herrschenden AKP aus, zwei bis drei Kanäle berichten aus unserer Perspektive. Alles ist verboten in der Türkei. Die Internetseite der Nachrichtenagentur DIHA wurde geschlossen, Internet und soziale Medien werden blockiert, und alle Verbreitungskanäle werden von der Regierungsmeinung beherrscht, insofern können wir von einer ernsthaften Manipulation der Öffentlichkeit sprechen.

Zerstörung ganzer Straßenzüge durch staatliche Kräfte in der Stadt CizîrKommen wir nun zur Situation in den nordkurdischen Städten, warum wurden die Ausgangssperren durch den Staat verhängt? Gibt es einen Zusammenhang mit den Wahlen vom 7. 6.?

B. K.: Die AKP hat einen Regimewechsel durchgesetzt, unabhängig vom Präsidialsystem, das sie einführen will, hat sie die Türkei in eine islamische Republik verwandelt. Sie will eine konservative islamistische Türkei errichten. Sie weist die Kurd*innen zurück, sie weist die Alevit*innen zurück, sie weist alle anderen Ethnizitäten zurück, auch die klassischen Laizist*innen aus der Republikanischen Volkspartei (CHP), und sie will die Türkei auf die Basis einer islamistischen Ideologie stellen. Das hatte sie bis zum 7. Juni 2015 allein durchsetzen können, aber als die HDP 13 % erhielt, die Wahlhürde überwand, konnte die AKP nicht mehr allein regieren und begann mit einer neuen Phase. Die AKP hat alles dafür getan, die Auseinandersetzungen zu verschärfen, denn dass die HDP die Zehnprozenthürde überschritten hatte, bedeutete, dass die Alleinregierung der AKP zu Ende war und eine Demokratisierung der Türkei bevorstehen würde, weil die Struktur der HDP aus den ganzen verleugneten Identitäten und Ethnizitäten besteht. Dass diese Identitäten jetzt im Parlament waren, hieß, dass weder AKP noch CHP allein herrschen können würden. Eine Koalitionsregierung hätte eine Demokratisierung der Türkei bedeutet. Das einzige Ziel nach den Wahlen war es also, die HDP mit allen Mitteln unter die Zehnprozenthürde zu drücken, zu terrorisieren und die Kämpfe in der europäischen und US-amerikanischen Öffentlichkeit als Notwendigkeit darzustellen. Also, damit keine organisierte Opposition entstehen kann, die HDP als »Terrorunterstützer*innen« zu verleumden und die Arbeiter*innenpartei Kurdistan (PKK) als Grund für eine solche Manipulation zu verwenden. Das, was die AKP also wollte, war, die Alleinherrschaft, das Präsidialsystem einführen und die ganze Opposition unterdrücken.

Einen weiteren Faktor sollte die internationale Öffentlichkeit zur Kenntnis nehmen: Die internationalen Kräfte versuchen seit Langem die kurdische Frage zu nutzen, um aus dem Chaos im Mittleren Osten Profit zu ziehen. Das hat Deutschland gemacht, das hat Frankreich gemacht, das hat Großbritannien gemacht, und auch im Namen des Kampfes gegen den »Terror« gegen die PKK hat die AKP Europa und die USA dazu gebracht, viele ihrer Praktiken zu unterstützen. Die Angriffe, die gerade in Silopiya, in Cizîr (Cizre) und in anderen Städten laufen, werden als Kampf gegen den Terror legitimiert und es wird den Europäer*innen leicht gemacht, diesen Vorwand zu akzeptieren. Wenn sie sagen würden, »wir unterdrücken die demokratischen Forderungen des kurdischen Volkes«, dann wäre das so nicht durchführbar. Wenn ich sage, es handelt sich um einen Kampf gegen den Terror, dann geht das. Dann werden auch alle Getöteten, unter denen bisher 150 Zivilist*innen sind [Stand Dezember 2015], als Terrorist*innen und die Angriffe als Verteidigung hingestellt.

Wie kam es zur Ausrufung der »Demokratischen Autonomie«?

B. K.: Diese Phase begann am 8.7., die Alleinregierung der AKP war zu Ende – am nächsten Tag tritt Staatspräsident Erdoğan auf und sagt, ich akzeptiere diese Wahl nicht, ich werde für Neuwahlen sorgen. Damit wurden auch die mit Abdullah Öcalan verhandelten Friedensvereinbarungen über Bord geworfen und die Entscheidung für einen Krieg gegen die Kurd*innen fiel. Die Unterstützung für den IS, der Wunsch Erdoğans, dass Kobanê fällt, hat das allen vorher schon deutlich gemacht. Als Kobanê nicht vom IS vernichtet werden konnte, richtete sich die Politik der AKP wieder gegen die Bevölkerung. Aus einer Logik heraus, mit Verboten, Repression, Kriegspolitik ein Übergreifen des Erfolgs von Kobanê auf die Türkei zu verhindern.

Wie sah der Aufbau der Räte und der Selbstverteidigung konkret aus?

B. K.: Im Programm der HDP und der DBP ist ohnehin das Prinzip der Selbstverwaltung verankert und es war klar, dass dieses Prinzip auch nach dem Dolmabahçe-Abkommen mit der türkischen Regierung umgesetzt werden würde. Nachdem nach dieser Wahl unser Wille nicht anerkannt worden war, wurden neue Stadtviertelräte, Jugendräte, Frauenräte gegründet. Die Menschen haben begonnen, das System der Selbstverwaltung selbst zu organisieren, auf politischer, kultureller und ökologischer Ebene. Die Stadtteilräte förderten die Gründung von Kommunen. Sie haben auf eigene Initiative dann begonnen, ihre Autonomie auszurufen: Als Stadtviertel A, als Viertel B schaffen wir unsere Selbstverwaltung. Wir organisieren unsere Verwaltung, unsere Kultur selbst und auch unseren Unterricht in kurdischer Sprache, wir bauen selbst unsere Schulen auf und wir verwalten uns nach unserem Willen und bestimmen unsere Führung selbst. In den Orten der Selbstverteidigung mit Hilfe von Barrikaden und Gräben hatten HDP und DBP einen Stimmenanteil von etwa 90–95 % erzielt. Es sind die Orte, in denen die Menschen sich durch die Selbstverwaltung vollkommen selbst vertreten und organisieren. Es ist so, dass der Aufbau von Kommunen ein jahrelanger Prozess war, der durch die Repression des Staates behindert wurde. Es wurden immer wieder Räte gebildet und deren Vertreter*innen wurden dann inhaftiert, das betraf sowohl die Bürgermeister*innen als auch die Kovorsitzenden der Räte. Wer auch immer auf Versammlungen gesprochen oder auch nur teilgenommen hatte, wurde inhaftiert. Es gab auch Bildungsstätten und kurdische Schulen, aber der Staat ließ alle immer wieder schließen. Deshalb haben die Menschen gesagt: »Wir entwickeln unsere Selbstverteidigung und wir graben Gräben und die Polizei kommt auch mit ihren Panzern nicht in unsere Viertel rein und wird auch niemanden festnehmen.« Praktisch orientiert sich das Ganze am Beispiel Rojava, oder besser gesagt, dieses Modell wurde schon seit zehn, fünfzehn Jahren auch hier in der Region diskutiert, seit zehn Jahren findet der praktische Aufbau statt, durch die Institutionen der Jugend- wie auch der Frauenbewegung.

Wie weit geht die Unterstützung für die Selbstverteidigung?

B. K.: Die Gräben sind keine Lösungsstrategie, sondern eine Konsequenz. Sie sind Ausdruck der legitimen Selbstverteidigung. Es gibt sie nicht überall, nur in einigen Kreisen, in einigen Stadtvierteln. Genau gesagt, in vier. Aber die AKP hat ihre Kriegs- und Verleugnungspolitik auf ganz Kurdistan ausgedehnt. Natürlich haben manche aufgrund der so extrem kriegerischen Situation ihre Befürchtungen. Insbesondere die Mittelklasse, die Beamt*innen, ihre Zweifel sind noch mal was anderes, aber sie sind nicht gegen die Autonomie und Selbstverwaltung. Wenn wir uns die 80–90 % bei den Wahlen anschauen, dann zeigt das, dass sie nicht gegen diese Perspektive sind. Aber die Angst ist da, denn der Staat schlachtet uns seit vierzig Jahren ab und davor fürchten sie sich. Der Stimmenverlust der HDP nach dem 7. Juni liegt nicht an einer Änderung ihrer Politik, das liegt an dem Chaos, in das die Türkei gestürzt wurde; die AKP hat keine Stimmen von der HDP gewonnen, ihre Gewinne kommen von der Partei der Nationalistischen Bewegung (MHP), nicht nur die HDP hat hier abgenommen.

Muarrem Erbey: Und man muss da auch noch hinzufügen, dass der Wahlkampf der HDP von der AKP nicht zugelassen wurde. Wir können von fünf, sechs Bombenanschlägen, mehr als 200 Angriffen auf die HDP inklusive Parteizentrale in Ankara, Morden, Festnahmen, Attentatsversuchen auf unsere Kovorsitzenden berichten. Durch die Anschläge von Ankara und Pîrsûs (Suruç) war es der HDP nicht möglich, einen Wahlkampf zu führen.

Würden Sie die Türkei als vom Polizeistaat nun in den Faschismus übergegangen verstehen? Macht parlamentarische Arbeit in diesem Rahmen überhaupt noch Sinn?

M. E.: Die HDP geht nicht nur den parlamentarischen Weg. Wir wollen gemeinsam mit allen Volksgruppen der Region eine Demokratisierung der Türkei umsetzen. Heute kann es möglich sein, dass Widerstand die passende Methode zum Herbeiführen einer Lösung ist, dasselbe sagen wir auch für Rojava. Rojava fordert ein demokratisches Syrien mit einer demokratischen Verfassung, in der Türkei ist es genauso. Wir befinden uns heute in einer kriegerischen Phase, und auch wenn wir in diesem Rahmen unsere Selbstverwaltung aufbauen, so werden wir schließlich, um eine Lösung zu erreichen, politische Methoden anwenden. Die AKP macht das unmöglich, wir sind dazu bereit. Sie wollen die Verfassung ändern, nicht um den Menschen zu helfen und sich zu demokratisieren, sondern damit sie mehr Macht erhalten. Deshalb sagen wir, dass das Parlament gerade kein Ort der Lösung ist, aber andererseits, wenn eine andere demokratische Verfassung eingeführt wird, dann wird man auch wieder andere Methoden entwickeln und anwenden.

Man hört immer wieder von Widersprüchen in der HDP gerade zum Thema Präsidialsystem. Was sagen Sie dazu?

M. E.: Es gibt keine größeren Widersprüche innerhalb der HDP, insbesondere nicht zum Präsidialsystem. Das sind Diskussionen, die kommen aus einer Zeit, als der Friedensprozess bestand, zur Zeit der Newroz-Erklärung 2013 und der Dolmabahçe-Gespräche. Seit 2007 regiert die AKP allein und es gab immer eine Delegation, die mit Imralı verhandelte oder nach Kandil fuhr, und es herrschte ein Klima einer möglichen Lösung mit der AKP. Zur Kampagne »wir machen dich nicht zum Präsidenten« gab es solche Einzelmeinungen, aber heute ist das nicht mehr so. Das waren individuelle Ansichten einiger unserer ehemaligen Abgeordneten. Die Presse hat großes Interesse, Konflikte in der HDP hochzuspielen.

Könnten Sie als ehemaliger langjähriger Vorsitzender im Menschenrechtsverein IHD einen Vergleich zwischen der aktuellen Situation und der der neunziger Jahre anstellen?

M. E.: Die Situation unterscheidet sich jetzt nicht von der in den Neunzigern, die kurdische Bevölkerung wird einer Vernichtungspolitik unterzogen, diejenigen, die aktiv sind, werden umgebracht, aber die Methoden und die Täter*innen haben sich geändert. In den neunziger Jahren herrschte mehr Furcht in der Bevölkerung, damals wurden ebenfalls Politiker*innen, Geverkschafter*innen, Menschenrechtsaktivist*innen und Journalist*innen ins Visier genommen wie alle anderen Oppositionellen auch, sie wurden mit den weißen Toros-Wagen nachts aus ihren Häusern abgeholt und hingerichtet. Heute leistet das kurdische Volk geschlossen Widerstand. Gegen die Bevölkerung gehen Gruppen und Spezialeinheiten vor, die sich Osmanlı Ocakları [»Osmanische Zentren«] oder Esadullah [»Löwen Allahs«] nennen. Die Esadullah-Spezialeinheiten bestehen aus vollbärtigen Männern; früher setzten sich die Todesschwadronen aus türkischen Nationalisten und Rechtsextremisten zusammen, jetzt haben sie ein islamistisches Auftreten, lassen sich Bärte stehen und schreiben nationalistische, sexistische Parolen und Parolen mit Islam-Bezug an die Wände. In diesem Rahmen können wir feststellen, dass die Vernichtung die gleiche wie in den neunziger Jahren ist, die Methoden sich aber geändert haben. Die Gesinnung der Täter mag sich geändert haben, diejenigen, die umgebracht werden, sind jedoch dieselben geblieben. Früher wurden die Menschen heimlich umgebracht, heute werden sie auf offener Straße erschossen. Die Situation heute ist sogar gefährlicher als in den Neunzigern. Damals geschah das im Geheimen, heute in aller Öffentlichkeit vor den Augen der Familien und die Täter machen sich nicht einmal die Mühe wegzulaufen, weil sie sich auf die Straflosigkeit verlassen können. Bürgermeister*innen, die an Kundgebungen teilnehmen, werden sofort festgenommen und ihrer Ämter enthoben, aber die Polizisten, die meinen Freund und Anwaltskollegen Tahir Elçi letzte Woche ermordet haben, wurden weder suspendiert noch festgenommen noch verhaftet, sie wurden nur als Zeugen vorgeladen.

Wie sehen Sie die Verbindung zwischen dschihadistischen Gruppen und der AKP?

M. E.: Alle wissen, dass die AKP den IS wie auch andere dschihadistische Gruppen unterstützt, es ist auch bekannt, dass die Menschen, die sich dem IS anschließen, über die Türkei teilweise mit türkischen Pässen einreisen und in der Türkei medizinisch versorgt werden. In Serê Kaniyê (Ceylanpınar) gibt es ein IS-Ausbildungscamp. Es wurde bekannt, dass êzîdische Frauen in Dîlok (Antep) vom IS verkauft wurden. In der Türkei sind es Hüda Par [»Partei der Freien Sache«; Nachfolgerin der 2000 zerschlagenen türkischen Hizbullah], in Rojava der IS. Es gehen tausende LKWs mit Waffen und Logistik über die Türkei an den IS. Die Türkei will ihre Grenze für den IS nicht schließen; obwohl die USA und der Westen wie auch Russland drängen, dass sie geschlossen wird, tun sie alles dafür, dass es nicht passiert. Es ist keine Frage des Islam, denn über die Lage in Somalia oder Gaza vergießt die türkische Regierung Krokodilstränen, aber sie interessiert sich überhaupt nicht für die Situation der großteils ebenfalls muslimischen Kurd*innen in Rojava und der Türkei. Es wird eine monistische, konfessionsbezogene und ethnisierte Politik gemacht, die Turkmen*innen sollen in diesem Rahmen benutzt werden. Es befinden sich immer noch 5 000 êzîdische Frauen als Sexsklavinnen in den Händen des IS. Durch ihn herrschen in der Region Zustände wie im Mittelalter, und durch die Unterstützung der Türkei und ihren Erdölhandel mit dem IS wird diese Politik gestärkt. Europa muss sich für eine Seite entscheiden, entweder auf Seiten der Gleichberechtigung und Emanzipation an der Seite der Kurd*innen oder an der Seite der AKP und des IS, wo Frauen auf Märkten verkauft werden. Die Selbstmordattentäter von Amed, Pîrsûs und Ankara wurden alle in Semsûr (Adıyaman) ausgebildet und sie standen die ganze Zeit unter Beobachtung des türkischen Nachrichtendienstes MIT, die Familien hatten sie schon lange zuvor gemeldet. Die Personen, die sich in der Türkei in die Luft sprengen, haben eine Verbindung zum MIT, wir wissen nicht, ob sie IS oder Hizbullah sind, aber wir wissen, dass sie mit dem Staat in Verbindung stehen. Es geht darum, um jeden Preis die Errungenschaften der Kurd*innen zunichtezumachen, in der Türkei, in Rojava und auf der ganzen Welt. Sie lassen den IS die Menschen in Syrien angreifen, zwingen die Menschen zur Flucht; die kommen in die Türkei, unsere Stadtverwaltungen kümmern sich um die meisten von ihnen und Erdoğan versucht, sie als Druckmittel nach Europa weiterzuschicken.

Die Türkei betont immer wieder, sie nähme Millionen von Geflüchteten auf und kümmere sich um sie. Wie bewerten Sie diese Aussage?

M. E.: Die meisten Geflüchteten, die aus Syrien kommen, werden von den Stadtverwaltungen aus eigenen Mitteln versorgt. Bei denen, um die sich der Staat kümmert, handelt es sich vor allem um Turkmen*innen und Araber*innen. Und es leben im Moment 230 000 Geflüchtete in den staatlichen Lagern; das wirft die Frage auf, wenn von mehr als zwei Millionen gesprochen wird, wo denn der Rest sich befindet und wie diese Menschen überleben. Das Geld der EU wird dort nicht ankommen, in diesem Sinne wäre es besser, praktische humanitäre Hilfe mit Zelten etc. zu leisten.

Was haben Sie bei ihren Gesprächen mit Vertreter*innen von NGOs, Parteien und Regierung in Deutschland erlebt?

M. E.: Obwohl wir es in der Region mit der Situation eines offenen Krieges zu tun haben, blieben bei den Gesprächen, die wir hier mit Vertreter*innen verschiedenster offizieller Stellen und Parteien geführt haben, die Fragen an uns immer an dem Punkt stehen, warum die PKK Soldaten umbringe. Es ist eine Frage der Perspektive; wenn man es aus der Sicht der türkischen Regierung betrachtet und die seit dem 7. Juni 160 getöteten Zivilist*innen außer Acht lässt, dann erscheint diese Frage berechtigt, man tut so, als würde nur die PKK Soldat*innen und Polizist*innen töten und der Staat bringe keine Zivilist*innen um und übe keine Repression oder Unterdrückung aus. Daher ist in diesem Sinne die Frage der Perspektive sehr entscheidend. Wenn ihr aus dem Fenster der Regierung schaut, ergibt sich ein anderes Bild, als wenn ihr aus dem Fenster der Kurd*innen schaut. Wir machen in unserer Perspektive keinen Unterschied zwischen den Toten, es sollen keine Soldat*innen oder Polizist*innen, aber auch keine Guerillas oder Zivilist*innen sterben. Alle Toten schmerzen uns. Doch die deutsche Regierung und die Institutionen bestehen nur darauf zu fragen, warum die PKK türkische Soldat*innen und Polizist*innen tötet. Es gibt aber so viele Menschen, vom Baby bis zum/zur Alten, die getötet wurden, auch die sollten nicht sterben, aber danach fragt niemand. Nur eine demokratische Lösung kann dem ein Ende setzen. Wir sind weder Feind*innen des Staates noch der AKP, aber das, was diese jetzt praktiziert, ist vollkommen illegal; niemand hat die kurdische Frage bisher mit solch einer verlogenen, gewalttätigen Politik lösen können und wird es auch nicht, es werden keine demokratischen Lösungsmethoden angewandt.

Herr Erbey, könnten Sie noch einmal Ihre Partei, die DBP, und den Zusammenhang mit der HDP darstellen?

M. E.: Die DBP wurde 2008 gegründet und arbeitet seitdem politisch. Wir stehen in der Tradition der HEP von 1991 (Arbeitspartei des Volkes), aber diese ganzen Parteien wurden ja verboten. HDP wie DBP sind Projekte von Herrn Öcalan. Die HDP ist eine Dachpartei, unter der es sechs politische Parteien gibt, Demkokrat*innen, Linke, Feminist*innen, Ökofeminist*innen, Ökoaktivist*innen, alle sind ein Teil davon. Die DBP hat 120 Stadtverwaltungen in Kurdistan und bemüht sich darum dort, mit der Demokratischen Autonomie ein neues Gesellschaftsmodell der Selbstverwaltung durch die Gesellschaft aufzubauen. Man kann das mögen oder nicht, aber dieses Modell beinhaltet keine Gewalt. Es geht um Selbstverteidigung. Wenn man eine Gesellschaft permanent angreift, ihre Politiker*innen inhaftiert, ihre Bürgermeister*innen inhaftiert, fast jede/n, die/der bei einer Pressekonferenz den Mund aufmacht, ins Gefängnis wirft, werden die Jugendlichen oder die Menschen dort allgemein ihre Verteidigung organisieren. Das geschieht auf der ganzen Welt. Wenn auch nur der kleinste Stamm mit einem Heer angegriffen wird, dann wird der sich verteidigen, und wenn eine kleine Babykatze in eine Ecke gedrängt und angegriffen wird, dann wird sie einen ebenfalls anspringen, das ist ein natürlicher und auch menschlicher Reflex. Ob richtig oder nicht, ist eine andere Frage, in Kurdistan können wir sagen, dass die Gewalt zu ihrem Verursacher zurückkehrt; also, der Staat zeigt kein Mitgefühl, er versucht nicht zu verstehen, er versucht die Menschen nicht zu umarmen, stattdessen versucht er mit den an Verteidigungsgräben und den von der PKK getöteten Soldat*innen und Polizist*innen Politik zu machen. Wir sagen, jedes Töten ist falsch, das muss aufhören, es soll niemand mehr sterben, kein/e Polizist*in, kein/e Soldat*in, keine Zivilist*innen, keine Guerillas. Deshalb bestehen wir auf einem Lösungsmodell, welches das Töten beendet. In Medienkampagnen wird aber behauptet, die PKK habe die Gewalt zugespitzt, die PKK habe Tahir Elçi umgebracht, die PKK habe dies oder das getan. Die PKK ist aber nicht das Problem, hinter ihr steht die Forderung der Kurd*innen nach Freiheit. In den letzten 200 Jahren gab es 24 kurdische Aufstände. Gab es denn damals die PKK schon? Die PKK ist nur ein Name, sie bezeichnen die PKK als Terrororganisation und halten damit jeglichen Prozess auf. Aber die eigentliche Frage ist keine Frage der PKK, sondern die Forderung des kurdischen Volkes nach Freiheit. Diese wird unterdrückt und auf die PKK und damit auf die Frage getöteter Soldat*innen und Polizist*innen reduziert. Darum ist es unser Ansatz als Partei, das Problem an der Wurzel zu lösen. Das bringt Gleichheit und Demokratie mit sich. Im Moment ist es so, wenn die Kurd*innen ihren Weg selbst gestalten wollen, dann heißt es: »Nein, stopp, tut das nicht, ich denke an Eurer Stelle. Ich richte an Eurer Stelle ein System ein. Tut gar nichts, konsumiert einfach. Die kapitalistische Moderne und der Staat sorgen für Euch, vielleicht könnt Ihr dann auch etwas verdienen. Macht bloß keine Politik. Ihr habt Eure Abgeordneten in Ankara, aber macht bloß nichts in der Region.« Auf der ganzen Welt gibt es regionale Selbstverwaltungen und die Kurd*innen wollen sich eben auch selbst verwalten. Gibt es hier in Deutschland eine/n Gouverneur*in? Nein, aber in Amed gibt es gewählte Kobürgermeister*innen, doch über ihnen steht ein ernannter Gouverneur. Alle Macht liegt in dessen Hand. Alle Macht wird vom AKP-Staat an die eigenen Anhänger*innen verteilt. Alle öffentlichen Dienste, Straßenbau, etc. werden von den Klient*innen der AKP oder, wenn die CHP an der Macht ist, der CHP verteilt und organisiert. Aber der Gouverneur ist überflüssig, gewählte Kobürgermeister*innen reichen völlig aus. Der Gouverneur kommt aus Tekirdağ, er kennt Amed nicht. Um ihn herum gibt es zwei, drei Beamt*innen und er macht, was sie ihm raten. Alle Menschen sollen frei leben können, es sollen nicht nur Moscheen gebaut werden, sondern wenn in Dersim (Tunceli) ein Cemevi [alevitisches Gemeindehaus] nötig ist, soll das gebaut werden, wenn eine Kirche nötig ist, soll diese gebaut werden, die Menschen sollen ihre Religion frei ausleben. Aber so ist es nicht, mit Gewalt und Zwang werden in alevitischen Dörfern Moscheen errichtet. Es herrscht eine gewalttätige Zwangshomogenisierung der Gesellschaft, eine Türkisierung, eine Islamisierung – wir sagen als DBP, dass sich das ändern muss. Wir haben es unterstützt, dass nach den Dolmabahçe-Gesprächen die Waffen niedergelegt werden, aber wer hat den Verhandlungstisch umgestoßen? Wer hat die Friedensverhandlungen abgebrochen? Als Erdoğan merkte, dass seine Stimmen schwinden, hat er sofort die Rhetorik geändert, hat sein Wort nicht gehalten – daher kann festgehalten werden, dass der Fokus der Regierung nicht auf eine Lösung gerichtet ist, sondern auf die Fortsetzung der eigenen Macht. Erdoğan hat sich den Islamist*innen, Faschist*innen, Nationalist*innen und den Militarist*innen zugewandt und viele Stimmen aus dem Bereich der konservativen Mittelschicht erhalten. Die Kräfte, welche die Demokratie wollen, sind weniger geworden außerhalb der Kurd*innen, es gibt mehr Nationalist*innen und nach den Dolmabahçe-Gesprächen hat er sich diesen zugewandt. Das Gesetzespaket zur Inneren Sicherheit wurde verabschiedet, die Befugnisse der Gouverneur*innen wurden ausgeweitet, überall wurden neue schwer befestigte Militärbasen errichtet, Wälder wurden gerodet, Staudämme gebaut und daraufhin die Unterdrückungspolitik gegen die Gesellschaft ausgeweitet, es wurden Spezialeinheiten gebildet, Berufssoldat*innen angeheuert, der Staat hat all seine Kader verteilt, die Justiz wird vom Staat geführt, das widerspricht dem Recht wie auch der Moral. Wir wollen Demokratie, ein menschlicheres System der Demokratischen Autonomie, in dem sich die Menschen selbst verwalten. Die Administration soll auch ihre Ressourcen regional verteilen. Alles in Ankara zu versammeln, ist diktatorisch, sexistisch und antidemokratisch. Alle sollen gleichermaßen an der Politik partizipieren. Wir sagen, der Profit darf nicht im Mittelpunkt stehen, die Natur darf nicht zerstört werden – z. B. werden überall Staudämme gebaut, welche die Natur und die Geschichte zerstören, nur für den Profit. Sûr wird jetzt gerade verwüstet, aber niemand sagt etwas. Wir sagen, die Menschen müssen für ihr Gewissen einstehen und darauf reagieren. Die Politik in der Türkei ist unter Profiteur*innen aufgeteilt, dem Militär, den Stiftungen und anderen, wir sind dafür, dass das Geld an die Volksgruppen der Türkei verteilt wird. Das Problem ist kein kurdisches, es ist keine Sache der HDP, es ist keine Sache der PKK, es ist ein Problem derjenigen, die ihre Macht nicht verlieren wollen, denn wenn sie sie verlieren, dann werden sie verurteilt werden. Sie tun alles, um sie nicht zu verlieren, sie versuchen alles zu kontrollieren, selbst in Europa, sie unterstützen den IS, erzeugen damit Flucht, aber die Menschen, die für Emanzipation, für Frauenrechte kämpfen, werden siegen. Die deutsche Öffentlichkeit muss wissen, so oder so, Erdoğan wird verschwinden, heute oder morgen, aber das kurdische Volk von 40 000 000 wird bleiben. Die europäische Öffentlichkeit soll wissen, wir wollen mit allen Gruppen aus den modernen Gesellschaften, die für Menschenrechte, Demokratie eintreten, zusammenarbeiten. Wir stehen nicht an der Seite religiös-radikaler und sektiererischer Kräfte im Mittleren Osten, ob Baath oder IS.