Umweltzerstörung in den von Ausgangssperre betroffenen Orten in Nordkurdistan

Ökologische Auswirkungen des Krieges in Städten

Ercan Ayboğa

Das vollkommen zerstörte Altstadtviertel Sûr von Amed | Foto: DIHADie über mehrere Städte und Stadtteile in Nordkurdi­stan/Südosttürkei verhängten Ausgangssperren und die anschließenden Angriffe des türkischen Staates haben zu Vernichtung und Massakern in bisher unbekanntem Ausmaß geführt. Die Angriffe des türkischen Militärs und der Polizei durch Abriegelung von Ortschaften sind eine intensivierte Form der Kriegsführung in Städten, welche undifferenziert die ganze Bevölkerung zur Zielscheibe macht. Das führt in diesen Kommunen zu systematischer Staatsgewalt und hat eine enorme Zerstörung von Lebensraum und den Verlust hundertfachen Menschenlebens zur Folge.

Ortschaften, die nach dem Beginn des Krieges durch den türkischen Staat im Juli 2015 ihre Selbstverwaltung erklärt haben, sind mit besonderer Repression konfrontiert worden. In vielen dieser Orte haben daraufhin politisch aktive Jugendliche »Freiräume« mittels Gräben und Barrikaden geschaffen. Kurz darauf wurde über mehrere dieser sich verteidigenden Orte eine Ausgangssperre verhängt und vollständige Blockaden durch die Polizei – ab Dezember auch durch das Militär – über Tage und Wochen erzwungen. Die Folge war eine verstärkte Verteidigung der Ortschaften durch die Anwohner*innen, die sich ab Dezember 2015 in den Zivilen Verteidigungseinheiten (YPS) zusammenschlossen.

Die Ökologiebewegung Mesopotamiens (MEH) hat in den von Ausgangssperre und Krieg betroffenen Gebieten eine Untersuchung durchgeführt, um über die ökologische Dimension angesichts der Zerstörung zu berichten.

Zur Methodik und Rahmensetzung

Die Untersuchung wurde durch eine Arbeitsgruppe von Aktivist*innen der MEH, einiger NGOs und Menschen ohne organisatorischen Hintergrund durchgeführt. 85 Interviewer*innen, die alle in der betroffenen Region leben, haben in mehreren Gruppen in verschiedenen Provinzen gearbeitet. Bewohner*innen, die von der Ausgangssperre betroffen waren, wurden zuvor vorbereitete Fragen gestellt und die Antworten unmittelbar in ein Formular eingegeben. Insgesamt wurden 800 Familien interviewt.

Die Interviews und Forschung wurden durchgeführt in der Provinz Amed (Diyarbakır), Bezirke Sûr und Bismil, in der Provinz Mêrdîn (Mardin), Bezirke Nisêbîn (Nusaybin) und Dargeçit, in der Provinz Çolemêrg (Hakkâri), Bezirke Gever (Yüksekova) und Şemzînan (Şemdinli), in der Provinz Şirnex (Şırnak), Bezirke Şirnex, Cizîr (Cizre), Silopiya (Silopi) und Elkê (Beytüsşebap), in der Provinz Wan (Van), Bezirk Edremit.

Die Untersuchung wurde zwischen dem 24.10. und dem 10.11.2015 durchgeführt, also vor den verheerendsten Angriffen, die im Dezember 2015 eingeleitet wurden. Nichtsdestotrotz geben die Ergebnisse dieser Arbeit einen qualitativen Überblick über das, was sich im Nachhinein abspielt. Zur Zeit der Veröffentlichung dieser Untersuchung – am 25.12.2015 – dauerten die Blockaden in intensivster Form an.

Beobachtete und festgestellte Tatsachenermittlungen

In den Bezirken, in denen die Ausgangssperre verhängt wurde, haben die Gebäude in der Regel wenige Stockwerke und oft Gärten im Hof. Ein großer Teil der Bewohner*innen betreibt Gemüseanbau und pflanzt Obstbäume an. Sie halten ihre Nutztiere in ihren Gärten oder im Keller.

Wegen der Ausgangssperren und der Kämpfe kamen sowohl die Nutztiere als auch die Gärten in großem Ausmaß zu Schaden. Die Bewohner*innen der Viertel konnten nicht zur Arbeit auf ihr nahe gelegenes Ackerland gehen, was zu Verlusten bei der Ernte von landwirtschaftlichen Produkten führte.

Es wurde von Einwohner*innen beobachtet, dass schätzungsweise mindestens mehrere hundert Tiere durch Gewehrkugeln, Granatsplitter und breitflächig eingesetztes Tränengas zu Tode kamen. Einige tote Tiere wurden in den Gärten begraben, nachdem sie von ihren Eigentümer*innen gekalkt worden sind. Die meisten Gärten und Tiere blieben vernachlässigt, weil einerseits manche ihr Haus bzw. das Viertel verlassen mussten und andererseits sie ihr Haus nicht verlassen durften bzw. wegen Beschuss durch Polizei und Militär nicht rauskonnten.

In den Orten nahe der Bergregionen (insbesondere Şirnex, Şemzînan, Gever, Dargeçit) wird von den Einwohner*innen in den anschließenden Weidelandschaften Nutztierhaltung betrieben. Der türkische Staat hat diese Gebiete zu besonderen Sicherheitszonen erklärt und sie systematisch bombardieren lassen. Die Menschen wurden dazu gezwungen, ihr Weideland zu verlassen, ohne dass sie ihre Tiere mitnehmen konnten. Einige Tiere starben durch die Bombardierungen. Insbesondere die Bienenhaltung ist stark betroffen worden. Zahlreiche Waldbrände sind Folge der Bombardierungen, die auch zum Tod vieler Tiere in den Wäldern führten (siehe Bericht zu den Waldbränden im Oktober 2015: http://www.hasankeyfgirisimi.net/?p=314).

Zum täglichen Leben im Bezirk Sûr von Amed gehört das Taubenfüttern. Nach Verhängung der Ausgangssperre starben viele Tauben durch Granatsplitter, Tränengas und gezieltes Abschießen durch die Sicherheitskräfte. Es wurde sogar beobachtet, dass Sicherheitskräfte die Tauben mit ihren bloßen Händen töteten.

In den von den Ausgangssperren betroffenen Gebieten wurden in vielen Straßenzügen die Trinkwasserleitungen durch staatliche Sicherheitskräfte zerstört, und das Trinkwasser vermischte sich mit dem Abwasser. In allen Gebieten mit Ausgangssperre wurde die Strom-und Wasserversorgung weitflächig abgesperrt. Die Regierung übte Druck auf die Kommunalverwaltungen aus, damit diese in den Gebieten mit Ausgangssperre das Wasser absperren. Diese verweigerten dies standhaft. Diejenigen Menschen, die Mangel an Trinkwasser hatten, wurden gezwungen, Wasser aus Brunnen zu nutzen, die vor vielen Jahren in ihren Gärten gegraben worden waren und lange nicht benutzt wurden. In einigen dieser Gebiete erklärten die Menschen, dass sich der Geschmack der Agrarprodukte und des Trinkwassers geändert hat. Es wird angeführt, dass der Einsatz von Tränengas und Munition die Geschmacksänderung von Lebensmitteln und Trinkwasser in diesen Gebieten verursacht hat.

Viele Menschen erklärten, dass sie oder ihre Kinder sich durch den Konsum von Lebensmitteln oder Wasser übergeben mussten. Es wurde beobachtet, dass bei Kindern in Dargeçit, Nisêbîn, Gever und Cizîr oft Fiebererkrankungen festgestellt wurden. Krankheiten wie die chronisch obstruktive Lungenerkrankung (COPD) und Kurzatmigkeit wurden als Folge der Auseinandersetzungen und der Munition festgestellt.

In der Regel wurde der Strom für die betroffenen Ortschaften von den verantwortlichen privaten Versorgern auf Druck des Staates abgesperrt.

Die Sicherheitskräfte erlauben den Kommunen nicht, in den Konfliktgebieten den Müll einzusammeln, so dass in den Straßen zusätzlich ein ungesundes Umfeld entstanden ist.

Es konnte beobachtet werden, dass besonders Kinder unter sehr schwierigen Bedingungen mit gravierenden Auswirkungen leben. Die Kinder haben Verhaltensstörungen entwickelt. Wenn sie Explosionen, Schüsse und ständige Durchsagen von Polizeifahrzeugen hören, reagieren sie mit Unruhe, Angst, Weinen, Schlafstörungen usw. Es wurde beobachtet, dass manche Familien ihre Kindern angebunden haben, um zu verhindern, dass sie das Haus verlassen. Kinder spielen auf den Straßen mit Blindgängern. Dass der gesamte Konflikt gravierende Auswirkungen auf die Gesundheit und Psyche der Kinder haben wird, ist den Untersuchungen und grundsätzlichen Annahmen nach zu erwarten.

Als Ergebnis der wiederholten Ausgangssperren und der zunehmenden staatlichen Repression hat in den meisten Wohngebieten eine Minderheit der Einwohner*innen ihre Häuser zeitweilig verlassen müssen, während in wenigen Wohngebieten eine Mehrheit der Bewohner*innen ihr Wohngebiet während der Zeit der Ausgangssperre verlassen hat. Letzteres trifft auf die betroffenen Stadtteile in Farqîn (Silvan) und Sûr zu.

Die beschriebene repressive Politik liegt in der Verantwortung der türkischen Regierung und verursachte schwerwiegende Schäden an der Umwelt und den Gesundheitsbedingungen in den Wohngebieten und deren Umgebung. Die staatliche Politik in den von der Ausgangssperre betroffenen Gebieten hat das grundlegende Menschenrecht auf Leben usurpiert. Dazu gehören eine saubere und bewohnbare Umwelt, Bildung und Gesundheitsversorgung sowie das Recht, in Sicherheit zu leben und die Ernährungsbedürfnisse befriedigen zu können.

Die MEH fordert daher, dass die türkische Regierung und ihre Organe sofort die Politik der Ausgangssperre in Gebieten, in denen die Selbstverwaltung erklärt wurde, beenden muss. Die türkische Regierung muss sofort zusichern, dass ab jetzt bei jeder Handlung der türkischen Sicherheitskräfte in Nordkurdistan/Südosttürkei Gewalt gegen das der Zivilbevölkerung angeborene Recht auf Leben verhindert werden muss. Jede Zerstörung oder Schaden an Menschen als Ergebnis des Handelns der türkischen Sicherheitskräfte, einschließlich der langfristig zu erwartenden sozialen und psychischen Auswirkungen, muss vollständig ausgesetzt werden. Bei der Betrachtung der Zerstörung müssen auch die Auswirkungen auf die Natur berücksichtigt werden.

Um ähnliche soziale und ökologische Zerstörungen, Schaden und Leid zukünftig dauerhaft zu verhindern, fordern wir einen sofortigen zweiseitigen Waffenstillstand, der in neue Verhandlungen zwischen den beiden Konfliktparteien – d. h. zwischen der türkischen Regierung und der kurdischen Freiheitsbewegung – münden muss. Diese müssen von einer dritten Partei beobachtet bzw. moderiert werden, damit beide Parteien ihre Zusagen einhalten und so ein wirklicher Friedensprozess einsetzen kann.


Ercan Ayboğa lebte und arbeitete lange Zeit in der BRD als Umweltingenieur und gründete die Kampagne TATORT Kurdistan mit. Er ist seit Jahren aktiv in der Initiative zur Rettung von Hasankeyf gegen den Ilısu-Staudamm und in der Ökologiebewegung Mesopotamiens in Nordkurdistan.