Kriegsrecht und die Realität Kurdistans

Internationales Recht versagt

Mahmut Şakar

Die Kurd*innen wurden in den letzten hundert Jahren in ihrem Auf und Ab in der Türkei nicht nur politisch und gesellschaftlich ausgegrenzt, sie wurden auch durch die Rechtsprechung des Landes benachteiligt. Denn die Beziehung der Kurd*innen zum Rechtssystem beruht auf Gesetzen, die allein dem Zweck dienen, die kolonialistische Unterwerfung zu vollziehen und die Gewaltanwendung auszuweiten, aus diesem Grunde handelt es sich um ein negatives Verhältnis. So wurden beispielsweise alle kurdischen Namen von Städten und Dörfern in Kurdistan per Gesetz türkisiert. Die kurdische Sprache wurde durch gesetzliche Regelung verboten und aus dem öffentlichen Leben verbannt. Oder das Massaker von Dersim, es wurde durch den Erlass des sog. »Tunceli-Gesetzes« in die Wege geleitet. Wenn wir also die Rechtsprechung als das Recht der Herrschenden begreifen, Gesetze zu erlassen, so ist das hundertjährige Leid der Kurdinnen und Kurden als gesetzeskonform zu betrachten.

Türkische "Sicherheitskräfte" sperren Altstadtviertel von Amed ab | Foto: Hinrich SchultzeWeil das türkische Herrschaftssystem seine antikurdische Grundhaltung in Gesetzestexte gegossen hat, ist es für die Kurd*innen nicht möglich, ihre Rechte innerstaatlich einzufordern. Ihre im Prinzip einzige Möglichkeit, ihre Rechte auf Grundlage der türkischen Rechtsprechung einzufordern, wird ihnen dann zugestanden, wenn sie als Angeklagte vor Gericht stehen. Und auch dann wird ihnen diese Möglichkeit, außer der Gelegenheit, ihre Forderungen zu artikulieren, nicht viel einbringen. Dennoch haben kurdische Politiker*innen und Intellektuelle diese Bühne des Gerichtsverfahrens oftmals genutzt, um ihr Dasein als Teil eines Volkes mit den ihm zustehenden Rechten zu verteidigen. Viele dieser Verteidigungsreden sind später in Buchform gedruckt worden, weil das eben eine der sehr begrenzten Möglichkeiten zur öffentlichen politischen Artikulation für die Kurd*innen darstellte.

Seitdem die Türkei den Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) im Jahr 1988 anerkannt hat, haben kurdische Jurist*innen seit Beginn der 1990er Jahre vielfach die Praxis der Individualbeschwerde vor dem EGMR in einer effektiven Art und Weise genutzt. Die meisten dieser Individualbeschwerden wurden aufgrund schwerer Straftaten wie der Morde sog. unbekannter Täter*innen, des Verschwindenlassens von Personen, der Durchführung von Folterpraktiken, Zwangsdeportationen, Dorfverbrennungen und Vergewaltigungen eingereicht. In den allermeisten dieser Fälle wurde die Türkei vom EGMR für schuldig befunden. Eine Zeitlang konnten die Anwält*innen ihre Beschwerden sogar direkt beim EGMR in Strasbourg einreichen, ohne zuvor alle innerstaatlichen rechtlichen Instanzen zu durchlaufen, weil diese nicht reagierten oder funktionierten. Auch wenn das Individualbeschwerderecht sich immer auf einen bestimmten Fall bezog, hatte die Fülle von Fällen dennoch einen kollektiven Charakter. Denn die einzelnen Personen, die die Türkei vor dem EGMR verklagten, waren letztlich Teil eines Volkes, dem kollektiv Unrecht widerfährt. Doch die Rechtswege des EGMR bieten nicht die Möglichkeit, dieses kollektive Unrecht vor Gericht zu verhandeln. Die Türkei ihrerseits belässt es bei der Zahlung der ihr durch den EGMR auferlegten Entschädigungen für die Opfer und zieht keine sonstigen rechtlichen Korrekturen in Betracht.

Damit kommen wir zum eigentlich tragischen Punkt: Aus der Sicht von Organisationen und Institutionen, welche die Menschenrechte zu schützen vorgeben, werden die Menschenrechtsverstöße gegen Kurdinnen und Kurden in der Regel in Form von Einzelfällen oder von numerischen Größen erfasst, die dann in eine Fülle von Einzelfällen zusammengefasst und wiedergegeben werden. In kaum einem Menschenrechtsbericht lässt sich die kurdische Frage mit ihren Hintergründen und historischen Wurzeln geschildert wiederfinden, die doch den Ursprung dieser Menschenrechtsverstöße an Kurdinnen und Kurden darstellt. Und selbst die in dieser Form festgehaltenen Menschenrechtsverstöße hatten in der Vergangenheit und haben in unserer Gegenwart kaum eine Auswirkung auf die politischen Verhältnisse zwischen Staaten, die in erster Linie von wirtschaftlichen und nicht menschenrechtlichen Aspekten bestimmt werden. Diese Realität zeigt sich in besonders grausamer Weise in den Beziehungen zwischen der EU und der Türkei.

Wir erleben in den letzten sechs Monaten in Kurdistan eine Phase, die dem Krieg der 1990er Jahre in der Region in nichts nachsteht. Stadtteile und ganze Städte, Siedlungsgebiete, in denen zehntausende Menschen aus Kurdistan leben, werden mit ihrer gesamten historischen Vergangenheit systematisch durch das Militär belagert, zerstört und ausgelöscht. Anders als in den 1990er Jahren gehen aber die Bilder dieser Gräueltaten um die Welt und geschehen praktisch live vor den Augen der Weltöffentlichkeit. Die Leichname der Opfer dieses Krieges bleiben tagelang auf offener Straße liegen, Verletzte sterben aufgrund von Blutverlust, weil keine Krankenwagen in ihre Nähe gelassen werden. Die Tatorte und Adressen, wo diese Gräueltaten geschehen, sind ebenso bekannt wie die Identität der Opfer. Dennoch können sie nicht gerettet werden. Auch die von Anwält*innen beim EGMR erwirkten einstweiligen Anordnungen reichen nicht aus, um diese Menschen zu retten.

Es ist offensichtlich, dass die Türkei einen Krieg gegen die Kurd*innen führt. Auch der seit vierzig Jahren anhaltende bewaffnete Konflikt zwischen dem türkischen Militär und der PKK ist ein Sachverhalt, der aus der Perspektive des Kriegsrechts zu bewerten ist. Dieser Krieg herrschte bereits, bevor es bei westlichen Politiker*innen Mode war, Organisationen nach eigenem Gutdünken als terroristisch zu kennzeichnen.

Zudem ist es auch offensichtlich, dass der Angriffskrieg des türkischen Staates gegen das kurdische Volk aufgrund seiner Dimension, seiner Tiefe und der mit ihm verbundenen Zerstörung von einem Mechanismus wie dem EGMR nicht aufgefangen und beurteilt werden kann. Gegen das kurdische Volk werden Kriegsverbrechen und Verbrechen gegen die Menschlichkeit begangen. Dies kann auch auf Grundlage des Internationalen Strafrechts so festgehalten werden. Denn die Türkei tritt seit Jahren das zweite Zusatzprotokoll der Genfer Konventionen mit Füßen. Allerdings waren bis heute die Bedingungen nicht gegeben, dass gegen die an den Kurd*innen begangenen Gräueltaten auf Grundlage des Kriegsrechts vorgegangen werden konnte. Denn die Türkei hat das erste und das zweite Zusatzprotokoll zu den Genfer Konventionen nicht unterzeichnet. Sie ist auch keine Vertragspartei des Internationalen Strafgerichts im Rahmen der Statuten von Rom.

Auch kleinere Initiativen wie der Versuch, am 30.10.2011 auf Grundlage des Völkerstrafgesetzbuches Strafanzeige gegen Ministerpräsident Erdoğan und die Generalstabschefs der Türkei bei der Bundesanwaltschaft einzureichen, stoßen schnell an ihre Grenzen.

Dem liegt eine fundamentale Haltung des türkischen Staates zugrunde. Seit rund hundert Jahren wurde jeder Aufstand der Kurd*innen zunächst als »Bandenunwesen« und später als »Terrorismus« betitelt. Bei vermutlich keiner anderen Angelegenheit ist die Türkei in ihrer Haltung über einen so langen Zeitraum so konsequent geblieben. Mit dieser Haltung wird darauf abgezielt, die Massaker an der kurdischen Bevölkerung für legitim zu erklären. Genauso wie heute noch der Völkermord an den Armenier*innen mit einer gewissen Sprachregelung und Argumentation verharmlost und legitimiert werden soll.

Der türkische Staat bezeichnet die Ereignisse bewusst als »Kampf gegen den Terrorismus« und nicht als »Krieg«. Denn die »Terror«-Rhetorik hat die Funktion, die Methoden des schmutzigen Krieges des türkischen Staates zu verbergen. Mit der Verweigerung des Kriegsbegriffs wiederum ist noch nicht einmal beabsichtigt, die Kurd*innen in der Position einer Kriegspartei zu akzeptieren. Das hat solch einen Charakter angenommen, dass diejenigen, die von einem Krieg in den kurdischen Gebieten der Türkei sprechen, bereits als suspekt und Unterstützer*innen der Gegenseite wahrgenommen werden können. Vielleicht ist ein weiterer Grund für die Verweigerung des Kriegsbegriffs die Befürchtung, ansonsten irgendwann einmal für die in diesem Krieg begangenen Verbrechen vor einem internationalen Gericht zur Verantwortung gezogen zu werden. Diese Sorge kommt von Zeit zu Zeit sogar bei Regierungsverantwortlichen in der Türkei zur Sprache.

Die Tatsache, dass der Westen ebenfalls den kurdischen Kampf um Anerkennung als »Terrorismus« definiert und den Massakern des türkischen Staates an den Kurd*innen im Rahmen des »Kampfes gegen den Terror« mit Verständnis begegnet, hat die Kriegsverbrechen der Türkei mit verschleiert, sie sogar dazu ermutigt, weitere Kriegsverbrechen an den Kurd*innen zu begehen. Trotz der aktuellen Bilder aus Nordkurdistan, die den Bildern aus Syrien in nichts nachstehen, hat sich der Westen einem tiefen Schweigen hingegeben. Und wenn der oder die eine oder andere aus dem Westen mal das Wort ergriffen hat, dann im Sinne der Türkei, was die Mitschuld des Westens an der derzeitigen Tragödie, welche die Kurd*innen erleben, nur noch sichtbarer gemacht hat.

Eine andere Option, die Taten des türkischen Staates vom Internationalen Strafgericht ahnden zu lassen, wäre ein Beschluss des UN-Sicherheitsrates. Aber unter den gegebenen internationalen politischen Bedingungen erscheint das nicht besonders realistisch. Eine Strafanzeige über nationale Rechtsprechung, wie dies beispielsweise über das deutsche Grundgesetz möglich ist, scheint auch wenig vielversprechend. Dennoch müssen wir unseren Kampf auf rechtlicher Ebene bis zum bitteren Ende weiterführen.

Wenn wir eine Bilanz des Gesagten ziehen, können wir festhalten, dass das internationale Recht im Hinblick auf die Verbrechen, die das größte Volk ohne offizielle Anerkennung erdulden musste, nicht nur versagt, sondern diese gar verschleiert. Historisch betrachtet verantwortet der Westen die Nichtanerkennung der Kurd*innen, weshalb er für die Unterdrückung und für die Massaker, die dieses Volk erleiden musste, mitverantwortlich ist.

Aus diesem Grund müssen alle gewissenhaften Menschen in Europa zunächst einmal gegen den auf offizieller Ebene geführten Terrordiskurs aufbegehren und gleichzeitig auf rechtlicher Ebene gegen die Kriegsverbrechen und die Verbrechen gegen die Menschlichkeit, welche die Türkei begangen hat und weiterhin begeht, einen Kampf um Gerechtigkeit führen. Aufgrund der Tatsache, dass ohne ein Ende der Unterstützung der USA und der EU diese Verbrechen der Türkei auch kein Ende finden werden, muss dieser Kampf in erster Linie in den Ländern der Europäischen Union geführt werden.


Mahmut Şakar, Rechtsanwalt und stellvertretender Vorsitzender von MAF-DAD e.V. – Verein für Demokratie und internationales Recht.