12. Internationale Konferenz zum Thema »Die Europäische Union, die Türkei, der Mittlere Osten und die Kurden«, 26.–27.01.2016, Europaparlament Brüssel

»Alte Krise – neue Lösungen«

Mako Qoçgirî

Zum mittlerweile 12. Mal hatten die EU Turkey Civic Commission (EUTCC) und die Konföderale Fraktion der Vereinten Europäischen Linken/Nordischen Grünen (GUE/NGL) zur Konferenz »Die EU, die Türkei und die Kurden« im Europäischen Parlament geladen. Die zweitägige Konferenz mit dem diesjährigen Untertitel »Alte Krise – Neue Lösungen« fand am 26. und 27. Januar in Brüssel statt. Das öffentliche Interesse an der Tagung war groß. Der Konferenzsaal war noch voller als sonst und die OrganisatorInnen verrieten mir im Gespräch, dass das Kontingent für externe Gäste bereits kurze Zeit nach Verschickung der Einladungen erschöpft gewesen war. Das war auch keine große Überraschung, denn immerhin kamen verschieden Akteur*innen und Fachleute zusammen, um aus ihrer jeweiligen Perspektive über die kurdische Frage und die neue Rolle der Kurdinnen und Kurden im Mittleren Osten zu sprechen.

12. Internationale Konferenz zum Thema »Die Europäische Union, die Türkei, der Mittlere Osten und die Kurden«, 26.–27.01.2016, Europaparlament BrüsselIn diesem Jahr wurden die Diskussionen in besonderer Weise davon geprägt, was sich zeitgleich außerhalb der Räumlichkeiten tat, insbesondere in Cizîr (Cizre) und in Genf. Hauptthema war ohne Zweifel der Krieg der in der Türkei regierenden Partei für Gerechtigkeit und Entwicklung (AKP) gegen die kurdische Bevölkerung. Und ohne Zweifel waren sich alle Teilnehmer*innen der Konferenz darüber einig, dass vor dem Hintergrund der Eskalation des Krieges ein Ende der Auseinandersetzungen und eine Wiederaufnahme von Friedensgesprächen dringender denn je seien. Allerdings fand sich niemand mit auch nur dem Ansatz einer Idee, wie sich der Weg dorthin gestalten lassen könnte. Es wurden keine Gedanken dazu geäußert, wie die AKP-Regierung dazu gebracht werden könnte, ihren Krieg gegen die kurdische Zivilbevölkerung endlich zu beenden. Stattdessen entwickelte sich bei den Zuhörer*innen nach den zwei Tagen das Gefühl, das der Journalist Cengiz Çandar bereits am ersten Tag auf den Punkt gebracht hatte, dass derzeit wirklich gar kein Licht am Ende des Tunnels erblickt werden könne. Auch allen anderen Redner*innen gelang es nicht, dieses Licht irgendwo ausfindig zu machen.

Und dass die Lage wirklich dramatisch ist, wurde den Zuhörer*innen bei einer Telefonschaltung nach Cizîr am zweiten Tag der Konferenz vergegenwärtigt: »Wir haben hier kein Wasser und kein Essen. Die Leute sind schwer verletzt.« Diese Worte waren Ausdruck eines verzweifelten Aufrufs, der aus einem der belagerten Keller in Cizîr direkt an die Verantwortlichen in der Europäischen Union gerichtet wurde. Die EP-Abgeordnete Kati Piri aus der sozialdemokratischen Fraktion saß mit auf dem Podium, als die Worte im Europaparlament ertönten. Und so versuchte sie im Anschluss, den Zuhörer*innen zu erklären, dass ein Deal mit der Türkei in der Flüchtlingsfrage nicht dazu führe, dass die EU dort die Menschenrechtslage aus den Augen verliere. Die EU beobachte die Entwicklungen in der Region mit äußerster Sorge und auch sie selbst sei vor Kurzem nach Amed (Diyarbakır) gereist, um sich ein Bild von der Lage zu machen. Einen Plan, wie die EU deeskalierend auf die Kriegssituation einwirken könnte, hatte sie aber auch nicht. Gleichzeitig versäumte sie nicht klarzustellen, dass nicht beabsichtigt sei, die ArbeiterInnenpartei Kurdistan (PKK) aus der EU-Terrorliste zu streichen. Das würde lediglich dazu führen, dass die AKP noch weniger Bereitschaft an den Tag lege, mit der PKK über eine Lösung zu verhandeln, so ihre Argumentation. Wie scheinheilig diese Begründung ist, brachte der Politologe David Romano in der anschließenden Fragerunde zum Ausdruck, als er darauf verwies, dass die türkische Regierung Aufforderungen aus der EU zur Wiederaufnahme der Friedensverhandlungen derzeit damit verweigere, dass die PKK eine Terrororganisation sei und auch in der EU als solche gelistet werde. Da hatte Piri jedoch schon den Saal verlassen. Auf alle Fälle ließ sich aus den Beiträgen von EP-Abgeordneten relativ klar die derzeitige Haltung der EU im Hinblick auf den Krieg in Kurdistan ableiten. Und somit war eine Erkenntnis aus der zweitägigen Konferenz in Brüssel, dass aus der EU wohl kaum auf ein positives Signal für eine Beendigung des Angriffskrieges des türkischen Staates in dessen kurdischen Siedlungsgebieten zu hoffen ist.

Ein anderes Thema, das die Konferenz praktisch durchgängig begleitete, waren die Syrien-Friedensgespräche in Genf, kurz Genf III, und die Frage, ob die KurdInnen dazu eingeladen werden würden. Auf dem Programm der EUTCC-Konferenz war für den zweiten Tag Salih Muslim, der Kovorsitzende der Partei der Demokratischen Einheit (PYD), angekündigt. Im Falle der Einladung einer kurdischen Delegation zu den Genfer Gesprächen hätte er allerdings dort sein müssen. Am Ende stellte sich heraus, dass sich der UN-Sonderbeauftragte für Syrien, Staffan de Mistura, gegen die Einladung Salih Muslims und weiterer kurdischer VertreterInnen entschieden hatte, was gewissermaßen auch in Brüssel für Ernüchterung sorgte, hatte doch keine/r der RednerInnen die Meinung geäußert, dass die kurdische Seite aus den Gesprächen über einen Frieden in Syrien herausgehalten werden solle. Ganz im Gegenteil, es wurde nicht nur die Rolle der Kurdinnen und Kurden im Kampf gegen den Islamischen Staat (IS) gewürdigt, einzelne Redner*innen machten auch auf die positiven gesellschaftlichen Entwicklungen in der Region aufmerksam. Der Beitrag von Sinam Mohammad, Europavertreterin der Selbstverwaltung von Rojava, die als Vertretung Salih Muslims dessen Redebeitrag verlas, bekam besonders viel Applaus. Die einzige kritische Stimme beim Thema Rojava war von Michael Werz vom Center for American Progress zu vernehmen. Er machte relativ deutlich klar, dass er eine gemeinsame Moskau-Delegation der Demokratischen Partei der Völker (HDP) aus der Türkei und der PYD aus Syrien nicht für besonders klug gehalten habe. Die Botschaft hinter dem Statement von Werz, der auf dem Podium die Haltung der US-Administration wiederzugeben schien, klang so, als ob sich die KurdInnen entscheiden müssten, mit wem sie in Syrien zusammenarbeiten wollen.

Insgesamt wurden auf der Konferenz verschiedenste Aspekte der kurdischen Frage und des türkisch-kurdischen Konflikts aus unterschiedlichen Blickwinkeln betrachtet und diskutiert. Die meisten Diskussionsbeiträge gingen jedoch nicht über eine Analyse des Ist-Zustands hinaus. Wer in Brüssel Ansätze zu einer Antwort auf die Frage erwartet hatte, wie es denn weitergehen könnte, wurde enttäuscht.


Abschlussresolution der 12. EUTCC-Konferenz „Alte Krise – neue Lösungen“

Während des letzten Jahres gab es in vielen Regionen der Welt bewaffnete Konflikte und Besetzungen, die zu signifikanten Menschenrechtsverletzungen geführt haben. Radikale ­extremistische islamische Organisationen wie ISIS und Al-Qaida haben mit ihren Angriffen im Mittleren Osten, in Afrika und Europa den Anschlägen auf das Recht auf Leben eine neue Dimension hinzugefügt.

Die in Diyarbakır, Suruç und Ankara durchgeführten Angriffe haben mit ihrer zunehmenden Brutalität die Menschheit empört. Nach den Parlamentswahlen im Juni 2015, in denen eine friedliche und demokratische Lösung der kurdischen Frage auf Eis gelegt wurde, war es wiederum das Recht auf Leben, das am meisten verletzt wurde, als die Feindseligkeiten zwischen dem türkischen Staat und der Arbeiterpartei Kurdistans (PKK) wieder aufflammten. Besonders während der Belagerung von Städten und Wohnbezirken durch illegale Ausgangssperren wurde den Jungen, den Älteren, Frauen und Kindern ihr Recht auf Leben genommen.

Nach den Parlamentswahlen vom 7. Juni wurde eine friedliche Lösung für die wesentlichste Komponente der türkischen Menschenrechts- und Demokratiedefizite von der türkischen Regierung einseitig für beendet erklärt und die Fortschritte der letzten Jahre wurden zerstört. Dies betraf nicht nur die kurdische Frage, sondern auch politische und wirtschaftliche Errungenschaften. Stattdessen fand eine neue Repressionswelle statt und die düsteren Zeiten der Menschenrechtsverletzungen in den 1990er Jahren feierten ihre Wiederauferstehung. Es ist im Besonderen besorgniserregend, dass die offensichtlich illegalen Ausgangssperren in den kurdischen Städten dazu geführt haben, dass deren Anwohnern elementare Versorgungsgüter wie Wasser, Nahrung, Elektrizität und Medikamente vorenthalten werden. Gleichzeitig wurden viele Zivilisten absichtlich unter Beschuss genommen und getötet. Die wirtschaftlichen Aktivitäten und das soziale Leben in den unter Ausnahmezustand stehenden Städten kamen praktisch zum Stillstand. Die Bürgermeister und offiziellen Mandatsträger dieser Städte werden inhaftiert oder zwangsweise abgesetzt. Diese Maßnahmen zeigen eine völlige Missachtung des demokratischen Willens der Bevölkerung.

Wir fordern soziale Bewegungen, Gewerkschaften, Berufsorganisationen, NGOs sowie Verbündete in Regierungs- und Nichtregierungseinrichtungen dazu auf, gemeinsam dafür zu mobilisieren, dass folgende Maßnahmen umgesetzt werden:

1. Während der Konflikte in der Türkei und in Kurdistan werden seit dem 24. Juli 2015 Städte zerstört, Zivilisten jeglichen Alters unter Beschuss genommen und es finden jeden Tag menschliche Tragödien statt. Daher:


– Die Belagerung der Städte und die Ausnahmezustände müssen sofort beendet werden.
– Die türkischen Streitkräfte und die PKK müssen im Rahmen des internationalen Rechts agieren und Zivilisten und Einwohner in den Auseinandersetzungen verschonen.
– Menschen, die gezwungen waren zu fliehen, muss die Rückkehr ermöglicht werden und sie müssen für ihre Verluste entschädigt werden.
– Es muss eine unabhängige Kommission zusammengestellt werden, die die Menschenrechtsverletzungen in besagtem Zeitraum untersucht. Die Verantwortlichen müssen zur Rechenschaft gezogen werden.

2. Der andauernde Konflikt ist ein direktes Resultat der ungelösten kurdischen Frage. Eine friedliche und demokratische Lösung wird der Türkei und dem Mittleren Osten Stabilität bringen und auch förderlich sein beim Kampf in der Region gegen dschihadistische Gruppen wie ISIS.

Beide Seiten müssen ihre Angriffe einstellen und einem Waffenstillstand zustimmen. Wer sich nicht daran hält, ist zu verurteilen.

Alle Seiten müssen auf der Grundlage des vorläufigen Umsetzungsplans vom 28. Februar 2015 (der sogenannten Dolmabahçe-Übereinkunft) an den Verhandlungstisch zurück. Während dieser Verhandlungen sollte eine dritte unabhängige Partei beobachtend teilnehmen.

Die Isolationshaft gegen Herrn Abdullah Öcalan, die seit dem 5. April 2015 anhält, muss beendet werden. Seine Gesundheit und Sicherheit sind zu gewährleisten, damit er am Verhandlungsprozess effektiv teilhaben kann.

3. Die Türkei muss ihre Unterstützung für dschihadistische Gruppen in Syrien einstellen und sich verpflichten, ein effektives Mitglied in der internationalen Koalition gegen ISIS zu sein. Sie muss ihre antikurdische Politik in Syrien einstellen und zusammen mit den Kurden und demokratischen Oppositionskräften auf eine friedliche Lösung hinarbeiten.

4. Die Türkei und die EU müssen die Flüchtlingsfrage in der Region als humanitäre Frage angehen und die Flüchtlinge nicht als Verhandlungsmasse im Feilschen um kurzfristige Interessen missbrauchen. Im Umgang mit den Flüchtlingen muss sich die Türkei an die Genfer Konvention halten.

5. Gedanken- und Meinungsfreiheit müssen garantiert, die Unterdrückung der Medien eingestellt und alle inhaftierten Oppositionellen freigelassen werden, darunter Journalisten, Rechtsanwälte, Angestellte der Kommunalverwaltung, Bürgermeister, politische Aktivisten und Studenten.

6. Die undemokratische Unterdrückung der Opposition muss aufhören. Ebenso ist die Lynchkampagne gegen die Akademiker sofort zu beenden.

7. Die Verfassung des Militärputsches vom 12. Dezember 1980 muss abgeschafft und durch eine neue ersetzt werden. Die Verfassung muss in Übereinstimmung mit allen internationalen Abkommen stehen, die die Türkei unterzeichnet hat. Sie muss zudem zu einem demokratischen, ökologischen und an der Gleichberechtigung von Männern und Frauen orientierten Miteinander der Gesellschaft beitragen und das Recht auf Selbstverwaltung und demokratische Autonomie respektieren.

8. Der anhaltende Konflikt in der Türkei und deren antikurdische Politik schwächen nicht nur den Kampf gegen ISIS, sondern behindern auch den Fortschritt der internationalen Koalition. Die EU darf nicht schweigen, sondern muss aktiv zu einer Lösung der kurdischen Frage beitragen.

Die EU darf sich nicht darauf beschränken, einen Waffenstillstand einzufordern, sondern muss sich proaktiv für die Erstellung eines Fahrplans hin zu einer friedlichen Lösung engagieren. Um eine friedliche Lösung einfacher zu machen, muss die PKK, als ein Teil der Lösung, von der Liste terroristischer Organisationen gestrichen werden. Gewalt gegen Zivilisten ist zu verurteilen.

Die EU darf nicht bloß danebenstehen und der Türkei bei ihren repressiven, illegalen und undemokratischen Praktiken zusehen.

Die EU-Beitrittsverhandlungen sollten nur weitergeführt werden, wenn die Türkei an den Verhandlungstisch [Anm.: bezüglich der kurdischen Frage] zurückkehrt.

Die kurdische Frage sollte als eine politische Frage und nicht als Terrorproblem angegangen werden.

9. Die Mitglieder der internationalen Koalition gegen ISIS, allen voran die USA, müssen sich gegen die antikurdische Politik der Türkei wenden und sich aktiv für eine Lösung der kurdischen Frage einsetzen.

10. Die internationale Gemeinschaft, die EU, die USA und die westlichen Länder sollten die wichtige Rolle der Kurden für das Wohlbefinden und die Stabilität der Region zur Kenntnis nehmen.

11. Die PYD sollte an den Genfer Friedensgesprächen teilnehmen.

12. Wir fordern Gewerkschaften, soziale und akademische Verbände und Nichtregierungsorganisationen auf, weiterhin ihre Unterstützung für eine friedliche und demokratische Lösung der kurdischen Frage zum Ausdruck zu bringen.

13. Es sollte ein humanitärer Korridor an der türkisch-syrischen Grenze eingerichtet werden.

Die Konferenzbeiträge zum Nachhören:

http://web.guengl.streamovations.be/index.php/event/stream/12th-international-conference-on-the-european-union-turkey-and-the-kurds

http://web.guengl.streamovations.be/index.php/event/stream/12th-international-conference-on-the-european-union-turkey-and-the-kurds-day-2

http://web.guengl.streamovations.be/index.php/event/stream/12th-international-conference-on-the-european-union-turkey-and-the-kurds-day-2-afternoon-session


Mako Qocgirî ist Politikwissenschaftler (M.A.) und seit 2011 Mitarbeiter von Civaka Azad – Kurdisches Zentrum für Öffentlichkeitsarbeit e.V.