SIVAS von Kaan Müjdeci

Einübung in die Männerwelt

Filmbesprechung von Susanne Roden

SIVAS von Kaan MüjdeciEinladung zur Premiere von SIVAS am 03.12.2015, im Kino »fsk« am Oranienplatz in Berlin-Kreuzberg in Anwesenheit des Regisseurs Kaan Müjdeci, im Anschluss dann ein Q & A im Kino und danach eine kleine Feier.

Abgesehen von den geladenen Gästen und der Filmcrew, die ersten beiden Reihen sind reserviert, ist das Kino zur Premiere ausverkauft. Aber es geht irgendwie nicht los.

Weil es mit der Verschlüsselung der Filmkopie Probleme gibt, taucht dann der Regisseur Kaan Müjdeci auf. Also, er habe für den Film dreißig Kinder gehabt, die habe er zunächst für drei bis vier Monate auf eine Schauspielschule geschickt, und auch dreißig Hunde habe er gehabt, dressierte Hunde, keiner von denen kann beißen. Alle Kämpfe im Film waren nicht echt. Er hat auch alles doppelt gedreht. Sein erster Film war über die Beziehung von Hund und Halter gewesen. Daraus hat er eine Dokumentation gemacht (»Babalar ve Oğulları«, »Fathers and Sons«, mit englischen Untertiteln auf YouTube zu finden). Immer, wenn er in der Heimat war, hat er Hundekämpfe besucht und die Kampfgeräusche als Sound aufgenommen.

Ja, er habe sich sehr wohl um eine Förderung bemüht, aber wenn sie gelesen hätten dreißig Kinder und dreißig Hunde, wurde abgelehnt, man fördere keine Geisterfilme.

In anderen Ländern? »Ja, der Film war in Japan sehr erfolgreich und wurde in achtzehn Kinos gezeigt.«

Dann geht es los. Film ab. Die erste Szene zeigt ein paar Jungenbeine, die im Kreis stehen, eine Hand, die eine kleine Rakete, wie zu Silvester, zündet. Sie fliegt in die Luft unter sprühendem Funkenflug, erhebt sich pfeifend in den blauen Himmel und man ist sich einig, der Junge hat die Wette gewonnen. Einer meint aber, er solle es noch mal machen. Einmal sei keinmal. Dann beginnt eine Rangelei. Man sieht langsam das Dorf im Hintergrund ins Bild kommen und die Bergkuppe, auf der die Jungen offenbar gestanden haben, wandert ab. Angesiedelt in der kargen Landschaft Anatoliens, erzählt SIVAS die Geschichte des elfjährigen Aslan (Doğan Izci) und eines verwitterten Kampfhundes, Sivas (Çakır).

Der Junge Aslan ist eigentlich schon ein bisschen ein Außenseiter, der mit seinen Schulkameraden streitet und kämpft. Auch mit seinem Mitschüler Hasan (Hasan Özdemir), mit dem er auf dem gemeinsamen Heimweg ein paar angekettete Kampfhunde sieht. Aslan ist sofort beeindruckt von den kräftigen und aggressiven Tieren. Seine Ernsthaftigkeit hat Aslan vermutlich deshalb, weil er sich zum einen als sogenannter Nachzügler ständig gegen seinen mehr als doppelt so alten Bruder Şahin (Ozan Çelik) behaupten muss, und zum anderen, weil ihm eine Menge Aufgaben und Pflichten übertragen werden. So muss er sich sofort nach der Schule um die Tiere im Stall kümmern. Es ist auch er, der vom Vater aufgefordert wird, das alte Pferd außerhalb des Dorfes auf einer Weide sich selber versorgen zu lassen, und nicht der ältere Bruder. Dieser soll ihn nur begleiten. Bei dieser Gelegenheit werden sie auf dem Rückweg dann Zeugen eines vom Dorfvorsteher organisierten Hundekampfes. Es sind genau die Hunde, die er zuvor im Dorf gesehen hat.

Er bleibt bis zum Ende des Kampfes, gefesselt von dem blutrünstigen Kampf der Tiere.

(Zu den Hirtenhunden aus Anatolien zählen Kangal, Kars-Hund und Akbaş als eigenständige Rassen. Sie begleiten die Schafherden meist allein über mehrere Tage, beschützen und verteidigen sie aktiv und selbstständig auch gegen Angriffe von Wölfen.)

Nachdem er sich des schwer verwundeten und zum Sterben liegen gelassenen riesigen wundervollen Hundes angenommen hat, entwickelt sich eine starke Beziehung zwischen den beiden.

Den Hintergrund bestimmt derweil die Vorbereitung für die Schulaufführung des Theaterstückes »Schneewittchen und die sieben Zwerge« anlässlich des Kinderfestes am 23. April.

Die Idee zu diesem nationalen Feiertag stammte vom türkischen Staatsgründer Mustafa Kemal Atatürk (1881–1938), der das Kinderfest 1920 ganz bewusst initiierte. Der 23. April 1920 war der Tag der Konstituierung des türkischen Parlaments, wodurch der Modernisierungsprozess für das Land eingeläutet wurde. Atatürk erklärte den Tag zum nationalen Unabhängigkeits- und Souveränitätstag sowie eben auch zum Kinderfesttag (»Çocuk Bayramı«). »Unsere Kinder sind unsere Zukunft«, war und ist das Motto, und so wird dieser Tag jährlich mit bunten Festen von Kindern und Eltern an allen Schulen, aber auch auf Straßen und Plätzen gefeiert. Öffentliche Ämter und Institutionen bleiben geschlossen, die Kinder sollen an dem Tag die Rollen vom Bürgermeister bis hin zum Polizisten übernehmen und symbolisch die Macht und Verantwortung übernehmen, die sie später als Erwachsene zu tragen haben.

Seit 1979 führt die UNESCO diesen »ältesten amtlichen Feiertag für Kinder« in ihrer Feiertagsliste und hat ihm den erweiterten Titel »Internationales Kinderfest« gegeben. Dabei soll der ursprüngliche Gedanke der Völkerverständigung betont werden und alle Kinder sollen ungeachtet ethnischer, kultureller oder religiöser Zugehörigkeit miteinander feiern. Das »Internationale Kinderfest« soll zur Freundschaft und Liebe zwischen den Kindern beitragen.

Somit unterscheidet sich dieser Gedanke aber stark vom türkischen Grundgedanken und das erklärt dann auch, warum viele Veranstaltungen nur ganz gezielt an türkische Kinder gerichtet sind, ist es doch ein nationaler Feiertag der Türkei.

Und so dominieren die Vorbereitungen zum Nationalfeiertag in der Schule des Bergdorfes auch zunehmend den Alltag. Es wird immer deutlicher, dass den Jungen Aslan eine starke Rivalität zu Osman (Furkan Uyar), den Sohn des Dorfvorstehers (Muttalip Müjdeci), beherrscht. Bei der Verteilung der Rollen für das Theaterstück bekommt Osman als Sohn des Dorfvorstehers natürlich die Hauptrolle des Prinzen und Schülerin Ayşe (Ezgi Ergin), für die Aslan romantische Gefühle hegt, wird die Prinzessin spielen.

Währenddessen konzentriert sich Aslan nun ganz auf die Pflege des Hundes. Der findet auch wieder zu neuer Lebenskraft und weicht dem Jungen nicht mehr von der Seite. Aslan möchte natürlich die anderen Kinder und besonders Ayşe mit dem Hund beeindrucken, aber es interessiert sich zunächst keiner dafür. Erst nachdem er den anderen Kindern den Kampfhund vorgestellt hat und sie ihn streicheln durften, wollen sie ihn natürlich auch kämpfen sehen. Das kann Aslan nicht ausschlagen. Beim Gegner handelt es sich allerdings um keinen Geringeren als den Hund Bozo des Dorfvorstehers, gegen den Sivas seinen letzten Kampf schwer verletzt verloren hatte.

Es wird also ein Kampftag vereinbart. Osman erscheint mit Bozo und Aslan mit Sivas. Beide Hunde stürmen mit Urgewalt aufeinander los und Sivas behält am Ende die Oberhand, Bozo gibt sich geschlagen. Diese Szene ist sehr entscheidend für den weiteren Verlauf der Geschichte, denn sie ist ein Miniaturkampfgeschehen mit nur den Jungen des Dorfes als Zuschauern. Denn das Austragen der Hundekämpfe ist reine Männersache.

Das Ereignis spricht sich sofort im Dorf herum und weckt Begehrlichkeiten.

Als dann die Familie versucht, hinter dem Rücken von Aslan die ständig leere Kasse durch einen Verkaufshandel innerhalb des Dorfes mit dem Hund aufzufüllen, gerät Aslan so in Rage, dass keiner mehr an ihm vorbeikann. Dieser Tobsuchtsanfall ist einfach unglaublich und eine enorme schauspielerische Leistung.

Danach sitzt der Junge dann zwischen den alten Männern des Dorfes und sie binden ihn mit ein in die gemeinsamen Gesprächsrunden und zukünftigen Planungen.

Und auf einmal ändert sich seine Rolle in der archaischen Dorfgemeinschaft und er befindet sich in einem Crashkurs zum Erwachsensein. Auf einmal rücken Schule, die Proben und die Prinzessin in den Hintergrund und Aslan geht auf Reisen mit Sivas.

Kaan Müjdeci nimmt den Zuschauer mit auf die Fahrt zu einem der illegalen Hundekämpfe im alten blauen Kombi des Dorfvorstehers, auf dessen Ladefläche hinten der Hund Sivas und Aslan gemeinsam sitzen, im Fahrgastraum dagegen ein paar ältere Männer des Dorfes, Şahin, der wenig nützliche doppelt so alte Bruder Aslans, und der Dorfvorsteher selbst am Steuer. Als sie zunächst bei einer Polizeikontrolle als auffällig angehalten werden, nicht zuletzt auch wegen des blutverschmierten Hundes, und die Lage doch entschärfen können, stimmen sie Kampfgeschrei an, am Ende hat jeder vergessen, dass sie einen Jungen an Bord haben, und halten auch ihre derben Männerwitze nicht mehr vor ihm zurück.

Als Sivas dann endgültig Kampfhundmeister geworden ist, erklärt Aslan, dass Sivas nun genug gekämpft habe und sich zur Ruhe setzen solle. Das hören die Männer natürlich gar nicht gern, denn dann geht ja die Einnahmequelle verloren, und so setzt der Dorfvorsteher auch zur dynamischen Überzeugungsrede an. Und schnell erkennt Aslan, dass Besitz und Loyalität in der Erwachsenenwelt keinen Platz haben.

Es gab eine Menge Kritik von Tierliebhabern wegen der Brutalität der Kampfszenen, obwohl kein Tier Schaden genommen hatte. Was allerdings viel gravierender scheint, ist die menschliche Brutalität, die zutage tritt. Es gibt kaum eine ordentliche Unterhaltung in dem Film. Es gibt verbalen Schlagabtausch zwischen den Jungen, gebellte Anordnungen, eingeschnappte oder boshafte Erwiderungen und Kommentare.

Es gibt einen Moment der Zärtlichkeit, aber auch das erst, nachdem man sich gegenseitig angebrüllt und gerangelt hatte.

Ohnehin ist die Mutter (Banu Fotocan) kaum zu sehen, sie huscht durch den Raum, um dem nörgelnden Vater das Essen zu bringen, oder in einer Badeszene mit dem Jungen. Die Mutter Aslans ist auch die einzige weibliche Person im ganzen Film. Ansonsten ist es eine Männerwelt und Müjdeci zeigt uns, dass es eine aggressive, zornige und korrupte Welt ist.

Kaan Müjdeci wurde 1980 in Ankara geboren und verbrachte seine Kindheit in verschiedenen Städten in Anatolien, wie Ankara, Riha (Urfa) und Malatya. 2003 kam er nach Berlin, um Film zu studieren, drehte Kurzfilme, wie »Tag der deutschen Einheit« (2010), der auch von verschiedenen Fernsehsendern gekauft wurde. Dann studierte er an der New York Film Academy, seine Abschlussarbeit »Jerry« wurde 2011 beim Berlinale Talent Campus gezeigt. 2012 entstand die Dokumentation »Babalar ve Oğulları« (Väter und Söhne) über die Hundekämpfe, hauptsächlich gedreht in der Stadt Yerköy im Bezirk Yozgat in Mittelanatolien. Die diente dann als Grundlage für den ersten Spielfilm SIVAS.

Und so erklärt Kaan dann auch, dass SIVAS wie sein eigenes Kind ist, ein Film, der langsam zur Welt kam. Er wollte das wahre launische Leben in der männerdominierten Provinz darstellen. Generell wird das Landleben überall auf der Welt als bewegungslos und unveränderlich wahrgenommen.

Er hat dabei die Regie eher als ein aufregendes Experiment, als eine Handlung »des Einfangens« aufgefasst. Er hat seinen von Laienschauspielern dargestellten Charakteren absichtlich freien Lauf gelassen an realen Schauplätzen, aber gleichzeitig an seiner Handlung festgehalten.

Kaan Müjdeci porträtiert in SIVAS mit viel Gespür die Wildheit der Natur und die Schönheit der Region im ländlichen Anatolien, zeigt aber auch die trostlose Isolierung und in lähmende Nacht gehüllte beklemmende Umgebung.

Doğan Izci beeindruckt in seiner Rolle als Aslan (der »Löwe«) mit einer sehr starken Darstellung eines Jungen an der Schwelle zum Erwachsensein, der sich plötzlich mit den archaischen Strukturen eines anatolischen Dorfes konfrontiert sieht und seine Rolle darin neu begreifen muss.

SIVAS erhielt 2014 neben der Auszeichnung Best Youth Feature Film bei den Asia Pacific Screen Awards den Special Jury Prize bei den Internationalen Filmfestspielen von Venedig und lief auf zahlreichen internationalen Filmfestivals. Seine Deutschlandpremiere feierte der Film auf dem Filmfest Hamburg 2014. SIVAS ist der türkische Oscar-Beitrag für den besten fremdsprachigen Film 2016 und das Spielfilmdebüt von Kaan Müjdeci.

SIVAS startete ab 3. Dezember bundesweit im Kino.