Der Sultan hat befohlen:

»Entweder ihr beugt euer Haupt oder müsst es hergeben!«

Songül Karabulut

Der Krieg des AKP-Staates entpuppt sich nach mehr als acht Monaten als ein umfassender Vernichtungs- und Besatzungskrieg in Kurdistan. Dieser Krieg wird nach einem Plan durchgeführt, dessen Name »Çökertme Planı« so viel heißt wie »Plan zur Niederwerfung«.

Entgegen jeglicher Behauptung, die Türkei habe mit dem Beginn ihrer Militäroperationen auf die Tötung zweier Polizisten durch die PKK Mitte 2015 reagiert, lüftete im Februar diesen Jahres der türkische »Ministerpräsident« Ahmet Davutoğlu ein offenes Geheimnis: Er habe bereits unmittelbar nach den Unruhen vom 6. und 7. Oktober 20141 Militär und Polizei angewiesen, Vorkehrungen zu treffen, weil er angeblich gemerkt habe, dass die Friedensverhandlungen ihre Bedeutung verloren hatten.2 Damit bestätigte er die Beteuerungen der kurdischen Seite, die immer wieder darauf verwiesen hat, dass der Beschluss zu diesem Krieg nicht wie behauptet eine Reaktion auf die Tötung der beiden Polizisten war, sondern schon im Oktober 2014 auf die Entwicklungen in Rojava (Westkurdistan/Nordsyrien). Kurz zur Erinnerung: Die Kurden hatten nach dem Aufstand in Syrien 2011 die kurdischen Gebiete Syriens gegen Angriffe verteidigt und dann die demokratische Selbstverwaltung in Form dreier Kantone ausgerufen, trotz massiver Bestrebungen des türkischen Staates, diese Entwicklung im Keim zu ersticken. Als einer der Kantone, Kobanê, von der Terrormiliz Islamischer Staat (IS) angegriffen und belagert wurde, leisteten Kurdinnen und Kurden weltweit hartnäckigen Widerstand und entschieden die völlig ausweglos erscheinende Lage zu ihren Gunsten. Kobanê konnte nach 135 Tagen vom IS befreit werden. Also haben die Entwicklungen um Kobanê/Rojava den Ministerpräsidenten zu Maßnahmen veranlasst bzw. zum Beschluss für einen Krieg. Aber warum wurde er nicht im Oktober 2014, sondern erst im Juli 2015 umgesetzt?

Cizîr/CizreIm Inland zeigten sich ebenfalls positive Entwicklungen für die Kurden. Das Projekt der Demokratischen Partei der Völker (HDP) eines breiten Demokratie- und Friedensbündnisses in der Türkei kostete die AKP bei der Parlamentswahl am 7. Juni 2015 die absolute Mehrheit und brachte der HDP 13,1 % der Stimmen. Eine verfassungsrechtliche Lösung der kurdischen Frage über die Demokratisierung der Türkei gewann auch im Zuge des Friedensprozesses in Bakur (Nordkurdistan/Südosttürkei) an Kontur und genoss die Zustimmung unterschiedlicher Kreise. Diese parallelen Entwicklungen in Rojava wie auch in der Türkei alarmierten den türkischen Staat und führten ihn dazu, dem mit Gewalt entgegenzutreten.

Dieser Krieg verfolgt das Ziel der Zementierung der diktatorischen Macht Erdoğans durch die Vernichtung der Existenz des kurdischen Volkes sowie all seiner Errungenschaften. Die Art und Weise der Kriegsführung des türkischen Staates seit acht Monaten verdeutlicht diese Absichten.

Die Anatomie eines menschenverachtenden Krieges

Seit Beginn der breit angelegten Militäroperationen am 24. Juli 2015 ist bis heute (15. April 2016) in insgesamt 22 Distrikten von 7 Provinzen über 60 Mal der Ausnahmezustand mit Ausgangssperren verhängt worden. Betroffen waren und sind die Provinzen Diyarbakır, Şırnak, Mardin, Hakkâri, Elazığ, Muş und Batman.3

Was genau bedeuten die Ausgangssperren? Ich möchte es an einigen konkreten Beispielen versuchen darzulegen:

Cizîr (Cizre) liegt bei Şirnex (Şırnak). Es wurden bislang vier Ausgangssperren verhängt, die letzte dauerte 78 Tage. Danach wurde sie nicht aufgehoben, sondern lediglich gelockert, d. h. für den Zeitraum von 5 Uhr morgens bis 19.30 Uhr abends ausgesetzt. Die Ausgangssperren halten normalerweise 24 Stunden an und werden nach tagelangen Sperren nur für einige Stunden gelockert. Dies liegt im Ermessen des Kommandierenden der Operation, d. h. unterliegt totaler Willkür.

Oft werden Wasser und Strom abgestellt. Menschen dürfen nicht auf die Straße, sie können keine Lebensmittel besorgen, weil sie zum einen ihr Haus nicht verlassen dürfen und zweitens die Läden aus demselben Grund nicht öffnen und nachbestellen dürfen. Kranke Menschen, z. B. Dialyse-, Krebskranke, können nicht zum Arzt oder ins Krankenhaus zur Behandlung. Infolgedessen sterben Menschen. Kinder können nicht zur Schule (nach Informationen der Lehrendeninitiative für Frieden wurden 362 000 Kinder an ihrer Bildung gehindert) oder zum Spielen auf die Straße.

Die Menschen müssen z. T. ohne Wasser und Strom in ihren Wohnungen ausharren. Sie hören zu Hause Tag und Nacht die Geräusche des Krieges, Schusswechsel, Explosionen bei Kanonen- und Raketenbeschuss. In den Anfangszeiten wurden Menschen auf der Straße, vor ihrer Haustür von Militär und Spezialeinheiten getötet. Von Babys bis zu alten Menschen, sowohl Männer als auch Frauen sind betroffen. Der Staat macht keinen Unterschied, alle werden »gleichwertig« zum Angriffsziel erklärt. So wurde in Nisêbîn (Nusaybin) die schwangere fünffache Mutter Selamet Yeşilmen vor ihrer Haustür mit Schüssen aus einem Militärfahrzeug getötet. Oder das drei Monate alte Baby Miray Ince in Cizîr auf dem Schoß seines Großvaters.

Später waren die Menschen auch in ihren Wohnungen nicht mehr sicher. Immer mehr haben ihr Leben verloren, weil eine Granate in ihr Haus einschlug. Bilder von zerstörten Häusern und Stadtteilen gingen um die Welt mit dem Vermerk »Das sind keine Bilder aus Syrien!«.

Kriegsverbrechen ohne Konsequenzen

Nachrichten über Kriegsverbrechen ließen Menschen weltweit erstarren, z. B. die Meldung über Familien, die die Leichname ihrer Kinder tagelang zu Hause in der Kühltruhe aufbewahrten, weil sie nicht rausgehen und ihre Kinder beerdigen durften. Oder dass die Leichname getöteter junger Menschen wochenlang auf der Straße liegen blieben, weil es den Familien nicht gestattet wurde, den leblosen Körper ihrer Liebsten zu bergen. So wurden z. B. die Leichname des 19-jährigen Turgay Girçek und des 28-jährigen Gündüz Akmeşe erst nach 28 Tagen freigegeben, konnten somit erst dann von der Straße geholt werden.

Oder die Bilder von Ekin Wan, die total entblößt und geschändet neben Soldaten und Mitgliedern von Spezialeinheiten fotografiert wurde, und ein weiteres Bild von einem getöteten Kurden, dessen Leichnam hinter einem Panzer hergezogen wurde.

In Cizîr warteten Hunderte von Menschen, darunter viele Verletzte, in Kellerräumen darauf, gerettet zu werden. Ihre Situation und Hilferufe hatten die Weltöffentlichkeit erreicht. Die Verhandlungen mit staatlichen Stellen, um die Verletzten herausholen und im Krankenhaus behandeln zu können, endeten nach 78 Tagen damit, dass der türkische Staat statt Krankenwagen und Ärzten Panzer anrollen ließ und die Häuser mit Granaten zerschoss. Am 7. Februar wurde Cizîr von drei heftigen Explosionen erschüttert. Anfangs hieß es, 60 Menschen seien »neutralisiert« worden, aber nach Tagen stellte sich heraus, dass aus den drei bekannten Kellerräumen insgesamt 167 Leichen geborgen worden waren. Sie waren bis zur Unkenntlichkeit verbrannt. 114 Leichname waren nicht mehr vollständig, Körperteile fehlten, die noch immer bei Bergungsarbeiten gefunden werden. Um sie zu identifizieren, waren DNA-Tests notwendig; bis heute sind nicht alle identifiziert worden. Der siebenfache Vater und Kovorsitzende des Volksrates in Cizîr, Mehmet Tunç, war einer von ihnen. Er hatte am 27. Januar die Teilnehmer der 12. internationalen EUTCC-Konferenz »Die EU, die Türkei und die Kurden« im Brüsseler EU-Parlament per Telefon live über die brenzlige Lage der Menschen in den Kellerräumen informiert und an die EU-Verantwortlichen sowie die Öffentlichkeit appelliert, etwas zu ihrer Rettung zu unternehmen – erfolglos [vgl. KR 184 »Alte Krise – neue Lösungen«].

Die Kommandantur der Bodentruppen hat die Militärangehörigen in einem Rundschreiben unterrichtet, wegen möglicher Anklagen unbesorgt zu sein. Dieses Dokument wurde als Aufforderung zu Kriegsverbrechen sowie Zusicherung von »Schuldfreiheit« gewertet.4

Ähnlichkeiten mit IS-Kriegsmethoden

Der jüngste Krieg der AKP-Regierung hat im Vergleich zu dem der 1990er Jahre eine neue »Qualität« erreicht. Früher hat der türkische Staat ebenfalls Kriegsverbrechen begangen, aber stets darauf geachtet, nicht als Täter identifiziert zu werden. Heute lässt er Kriegsverbrechen begehen, dokumentiert seine Taten und macht sie selbst publik. Dieses Vorgehen erinnert sehr stark an die Praxis des Islamischen Staates, der ebenfalls seine Gräueltaten zum Zwecke der Propaganda verbreitet. Die Menschen sollen durch geschürte Ängste eingeschüchtert und zur Kapitulation bewegt werden.
Auch die Parolen, die von den operierenden Soldaten, Polizisten und Spezialeinheiten an den Wänden hinterlassen werden, sind ausreichendes Indiz für die Motivation des Staates zu diesem Krieg: »Wenn du Türke bist, sei stolz, wenn nicht, diene!«, »Die Kraft Allahs ist allmächtig! Ihr werdet die Kraft der Türken schon sehen!« (unterzeichnet mit »Esadullah-Tim«, arab. für »Löwen Allahs«), oder ein Bild mit einem bewaffneten Angehörigen einer Spezialeinheit, der in einer Schulklasse vor einer Schreibtafel posiert, auf der zu lesen ist: »Wir sind an der Reihe, euch zu lehren!« (unterschrieben mit J.Ö.H., Spezialeinheit der Gendarmerie).

Wir sprechen von einem Krieg, der außer auf die physische Vernichtung auch auf einen gezielten kulturellen Genozid gerichtet ist. Kurdische historische Siedlungsgebiete wie Sûr (die Altstadt von Amed/Diyarbakır) werden dem Erdboden gleichgemacht. Nach Informationen von dessen Ko-Oberbürgermeisterin Gültan Kışanak hat Sûr eine Fläche von 160 000 Hektar und 50 000 Einwohner. Sûr gehört ebenfalls zu den von der Ausgangssperre betroffenen Gebieten. In fünf der insgesamt elf Stadtviertel herrsche seit vier Monaten der Ausnahmezustand, ca. 25 000 Menschen seien von Operationen direkt betroffen, d. h. haben ihre Häuser verloren und halten sich in den umliegenden Gebieten von Sûr auf in der Hoffnung, zurückkehren zu können. Die AKP-Regierung versucht jetzt solche Stadtteile durch Zwangsverstaatlichung zu vereinnahmen. Sie beruft sich auf ein Gesetz, das eine Verstaatlichung aus Sicherheitsgründen und in außerordentlichen Situationen zulässt. 82 % von Sûr seien davon betroffen, ca. 10 000 Gebäude, die restlichen 18 % seien bereits verstaatlicht. Die Eigentümer werden erst gar nicht gefragt, ob sie dem Verkauf zustimmen. Der Staat beauftragt ein Gericht, einen Preis für das zu verstaatlichende Objekt zu bemessen, dann überweist er das Geld auf ein vom Gericht angegebenes Bankkonto. Sobald das Geld transferiert ist, geht das Eigentumsrecht auf den Staat über, der vorherige Eigentümer hat lediglich das Recht, gegen die Höhe der Summe zu klagen.

Hier wird zum einen Eigentumsrecht außer Kraft gesetzt, aber auch lokales Verwaltungsrecht. Kommunales Eigentum ist genauso von dieser Verstaatlichung betroffen.

Nicht nur Wohngebiete werden zerstört, sondern auch Kulturerbe, neben sehr alten Moscheen und Kirchen die Festung und die Kulturlandschaft Hevsel Bahçeleri (Hevsel-Gärten). Die Hevsel-Gärten waren 2015 auf der 39. Sitzung des Welterbekomitees der UNESCO neben der Festung zum Kulturwelterbe erklärt worden. In einem offenen Brief an die UNESCO heißt es: »Heute sind diese einzigartigen zum Kulturwelterbe gehörenden Kulturgüter und ihre Bewohner in ihrer Existenz bedroht. Am 13. September 2015 verhängte der türkische Staat in Amed bzw. im Stadtteil Sûr eine Ausgangssperre. Seither befinden sich tausende türkische Sicherheitskräfte in der Stadt. Täglich erreichen uns Fotos und Videos, die an den Krieg im Nachbarland Syrien erinnern. Im Stadtteil Sûr finden sich weitere historisch bedeutende Bauwerke wie zum Beispiel die ›St.-Giragos-Kathedrale‹, das ›Vier-Säulen-Minarett‹, die ›Hasan-Pascha-Herberge‹ und die ›Bleierne Moschee‹, von denen manche bereits erheblich beschädigt worden sind. Diese wertvollen Kulturstätten, die von den vielfältigen, über Jahrtausende dort lebenden Völkern hinterlassen wurden, sind für die nachfolgenden Generationen von großer Bedeutung, um ihre Traditionen, Kultur und Identität zu bewahren.«

Erdoğan erklärte in einer Rede vor den Stadtverordneten (Muhtarlar), nachdem er die Anweisung zur Ausbürgerung von »Terroristen« erteilt hatte, Operationsgebiete vollständig zu entvölkern, um sie aus der Ferne zu zerstören. Menschen werden bewusst vertrieben, die Entvölkerung Kurdistans wird als Teil des »Niederwerfungs«-Konzeptes vollzogen. Insgesamt sind 500 000 Menschen in Kurdistan von den Operationen direkt betroffen, ungefähr 150 000 haben kein Dach mehr über dem Kopf, sie wurden erneut zu Binnenflüchtlingen. Die Frage stellt sich natürlich, wer in die neu erbauten Stadtteile umgesiedelt werden soll. Wer soll nach Kurdistan, wenn Kurden vertrieben werden? Besorgniserregende Meldungen, die eventuell Antwort auf diese Frage geben, betreffen die Pläne der Türkei mit den Flüchtlingen. Die vielen aus Syrien Geflüchteten, für die die europäischen Länder (EU) der Türkei neben sechs Milliarden Euro noch weitere Zugeständnisse machen, damit sie sie von den Grenzen der EU fernhält, sollen in Kurdistan untergebracht werden. Nicht nur die Geografie wird verändert, auch die Demografie ist Angriffsziel. Gegen eine gleichmäßige, ausgewogene Aufteilung der Flüchtlinge wäre nichts einzuwenden. Aber zur Praxis der Kolonialmächte in Kurdistan gehörte immer wieder die Kriegsmethode der demografischen Manipulationen.

Aktuell gelangte diese Diskussion an die Öffentlichkeit, als der Staat versuchte, in Bazarcix (Pazarcık) bei Gurgum (Maraş), wo nur 3 000 alevitische Kurden leben, ein Flüchtlingscamp für 27 000 Menschen zu errichten. Diese sind vor allem Moslems. Die Bewohner wehren sich dagegen, sie organisieren Protestaktionen, weil sie in dem Vorhaben die Politik sehen, Aleviten mit konfessioneller Bedrohung einzuschüchtern. In den letzten Jahren haben sich auch die Aleviten in der Türkei für mehr Rechte organisiert und gegen die Islamisierung der Türkei durch die AKP gewandt.

Die Praxis in Sulukule, einem Stadtteil Istanbuls, ist ebenfalls ein abschreckendes Beispiel. Dort hatten überwiegend Roma und Sinti gelebt. Die AKP ließ es im Rahmen der Stadtplanung abreißen und neu aufbauen, heute leben reiche Saudis in diesem Stadtteil.

Erdoğan kann noch immer verblüffen, weil er sich mit seinen Vorschlägen und Drohungen selbst übertrifft. In einer Rede am 7. April anlässlich des Gründungsjahrestages der Polizei hat er noch einmal, für alle mitzuschreiben, ausgesprochen, worum es ihm geht: Sie hätten nur diesen einzigen Staat und würden nicht zulassen, dass er angegriffen wird. An die Adresse der Kurden gerichtet: »Entweder ihr beugt euer Haupt oder müsst es hergeben!«5 Die Methode der Enthauptung hat Tradition bei den Osmanen. Wer die absolute Macht des Sultans in Frage gestellt oder sich ihm gar widersetzt hatte, wurde enthauptet. Und alle, ob aus der eigenen Machtsphäre oder von außerhalb, mussten als Zeichen der Unterwürfigkeit ihr Haupt beugen, wenn sie vor ihm standen. Erdoğan will, wie die Wandparolen auch verdeutlichen, Kurden, die sich unterwerfen. Es geht nicht um die PKK, nicht um die getöteten Polizisten, sondern ausschließlich um eine Gesellschaft, die sich duckt, alles hinnimmt, was der Sultan für sie vorsieht.

Nicht nur kurden-, sondern menschenverachtend

Dass diese Machtvision Erdoğans nicht nur auf Kurden beschränkt ist, zeigen folgende Beispiele.

Kritische Journalisten und Medienorgane sind unter dem Schwert des Sultans weiterhin ein Hauptfeind. In der Türkei gibt es kaum noch Medien, die Erdoğan widersprechen könnten.

Aber auch das reicht ihm nicht, er träumt von einem Imperium, einer Welt, die es nicht gibt und nicht geben wird, dass alle kritischen Stimmen verstummt sind. Als sich ausländische diplomatische Vertreter zur Beobachtung des Prozesses der Cumhuriyet-Vertreter Can Dündar und Erdem Gül begaben, wurden sie von ihm verbal attackiert: »Was glaubt ihr, wer ihr seid?« Auch der deutsche TV-Moderator Jan Böhmermann geriet wegen eines Schmähgedichts auf den türkischen Präsidenten ins Visier Erdoğans und der Justiz. Niemand hatte es zuvor wahrgenommen, dank Erdoğan ist Böhmermann bekannter als je zuvor. Aber auch bedrohter, denn er genießt seitdem Polizeischutz. Dass die »Leibwächter« Erdoğans zu »Leibschädigern« von Kritikern werden, wie jüngst in den USA, ist ein weiteres Markenzeichen des Sultans. Die Liste könnte ohne große Anstrengungen fortgesetzt werden, aber ich denke, es reicht, um das Ausmaß vor Augen zu führen.

Was machen die anderen politischen Parteien?

Es erinnert an einen parlamentarischen Zirkus. Offiziell gibt es ein Parlament mit insgesamt vier politischen Parteien.

Die Republikanische Volkspartei (CHP) mit Kılıçdaroğlu an der Spitze ist politisch völlig unfähig. In einer Zeit der Polarisierung agiert sie äußerst opportunistisch. Sie hat keine Vision, ihr geht es darum, ihre Existenz zu wahren. Daher macht sie eine Politik, die ihrem rechten Flügel entspricht, dann eine entgegengesetzte, um die Demokratiebefürworter nicht zu verlieren. Es ist eine Partei, die sich weder vom Kemalismus getrennt noch eine Antwort auf die Anforderungen der Zeit hat. Folglich spielt sie mit ihrer jetzigen Position der AKP in die Hände.

Die Partei der Nationalistischen Bewegung (MHP) ist diejenige, die den Wahlausgang für die AKP am 1. November mitbestimmt hat. Sie steht hinter Erdoğan und gibt Anweisungen, wie gegen die Kurden vorzugehen ist. Zwar nicht direkt, aber mit Erdoğan sind ihre Ideen und Politik an der Macht. Das will Parteichef Bahçeli ausnutzen, ohne sich selbst die Hände schmutzig machen zu müssen. Es gibt in der MHP eine ernsthafte Opposition gegen den Kurs Bahçelis und schon jetzt vier Gegenkandidaten. Das Problem jedoch liegt darin, dass Bahçeli den längst überfälligen Parteitag nicht einberuft. Jetzt haben die Kritiker vor dem Verfassungsgericht geklagt. Die Opposition kann ihre eigentliche Funktion, die der Kontrolle, nicht ausüben. Aber von Opposition kann bei der MHP keine Rede sein, sie ist inoffiziell Regierungspartei mit der AKP zusammen.

In der AKP, der Partei für Gerechtigkeit und Aufschwung, gibt es auch immer wieder Stimmen, die sich sehr besorgt über die aktuelle Politik Erdoğans äußern. Aber es fehlt ihnen an Mut und Entschlossenheit, sich gegen ihn zu stellen. Entweder aus Angst vor der Übermacht des Sultans, der ihnen ebenfalls das Haupt nehmen könnte, oder sie sind verstrickt in rechtswidrige Machenschaften wie Korruption, womit Erdoğan sie immer wieder zurückpfeift.

Die HDP ist zwar die einzige Partei, die gegen diese Politik steht, aber weil der Parlamentarismus nicht funktioniert, ist sie mehr außerparlamentarisch aktiv und sichtbar. Die HDP als eine prokurdische Partei ist selbstverständlich auch Angriffsziel in diesem Krieg. Sie wird ständig bedroht, beschimpft und zum Hauptfeind erklärt. Die Drohung mit der Aufhebung der Immunität ihrer Abgeordneten wird ebenfalls als Druckmittel eingesetzt. Sie ist aber bemüht, die militarisierte Lage zu entschärfen.

Der König ist nackt!

Für die einen ist die Türkei mit Erdoğan an der Spitze ein demokratisch-legitimer Staat. Für viele wie mich jedoch ist Erdoğan – auch wenn er bei den Wahlen die Mehrheit mit Gewalt erzwungen hat – eine Bedrohung für alle universellen Werte der Menschheit, für die ein hoher Preis gezahlt wurde in der Geschichte – Demokratie, Freiheit, Pluralismus, Emanzipation, Rechte wie Presse-, Demonstrations- und Versammlungsfreiheit etc. Er ist ein Diktator, der das Land zunehmend in den Faschismus treibt. Vor diesem Hintergrund hat er keinerlei Legitimität. Kein Wahlergebnis kann seine Verbrechen in Kurdistan legitimieren.

Gibt es ernsthaft noch jemand, der glaubt, die Türkei könne mit Erdoğan und mit dieser AKP-Regierung Frieden, Stabilität, Demokratie und Freiheit bringen?

Erdoğan muss weg! Nicht nur, damit der Krieg in Kurdistan ein Ende findet, sondern damit die Menschen wieder in Sicherheit leben können, damit sie mit Hoffnung auf den kommenden Tag schauen können, damit die Freundschaft statt Feindschaft zwischen den Völkern und Kulturen gedeihen kann, damit den Konflikten in der Region der Zündstoff genommen werden kann ...

Kurzum: Um nicht mit der Frage konfrontiert werden zu müssen: »Warum habt ihr das nicht verhindert?«

Fußnoten:
1 - Aus Protest gegen die Haltung der türkischen Regierung, den Widerstand in Kobanê gegen den IS zu behindern, kam es zu Demonstrationen, die von türkischen Nationalisten und HÜDA-PAR (türkischer Hizbollah) angegriffen wurden und in Straßenkämpfe mündeten, bei denen 35 Menschen, meist kurdische Aktivisten, ums Leben kamen.

 2 - http://www.bugun.com.tr/gundem/davutoglu-cozum-sureci-kafamda-6-2056366.html; http://www.internethaber.com/cozum-sureci-nasil-bitti-davutoglu-ilk-kez-acikladi-1565098h.htm

3- Amed (Diyarbakır): Licê, Farqîn (Silvan), Amed-Sûr, Bismil, Hênê (Hani), Pîran (Dicle), Amed-Nehri (-Bağlar), Amed-Peyas (-Kayapınar), Amed-Bajarê Nû (-Yenişehir), Karaz (Kocaköy) und Hezro (Hazro);
Şirnex (Şırnak): Cizîr (Cizre), Silopiya (Silopi) und Hezex (Idil);
Mêrdîn (Mardin): Nisêbîn (Nusaybin), Dêrik und Kerboran (Dargeçit);
Colemêrg (Hakkâri): Gever (Yüksekova) und Celê (Çukurca);
Eleziz (Elazığ): Qerebaxan (Arıcak);
Mûş: Gimgim (Varto);
Êlih (Batman): Qabilcewz (Sason) und Hezo (Kozluk)

4 - http://www.bestanuce1.com/234970/katliam-ve-itiraf-belgesi-savcidan-korkmayin-devletimiz-zor-durumda&dil=tr

5 - http://www.cumhuriyet.com.tr/haber/siyaset/512785/HDP_den_Erdogan_in__Ya_bas_egecekler_ya_da_bas_verecekler__sozlerine_yanit.htm


Songül Karabulut ist Exekutivratsmitglied des Kurdistan Nationalkongresses (KNK). In diesem Rahmen fungiert sie als dessen Sprecherin für auswärtige Angelegenheiten.