Die Isolation Abdullah Öcalans muss ein Ende haben

Der Ausweg ist auf Imralı zu finden

Selahattin Erdem, Yeni Özgür Politika, 4. April 2016

Freiheit für Abdullah ÖcalanDie schweren Isolationshaftbedingungen und der psychologische Druck auf Abdullah Öcalan halten weiter an. Seit ziemlich genau einem Jahr können ihn weder seine Familienangehörigen noch eine politische Delegation besuchen. Mit keinem der Gefangenen auf Imralı kann seit nunmehr einem Jahr Kontakt von außen aufgenommen werden. Der letzte Besuch bei Öcalan auf Imralı fand am 5. April 2015 statt, damals von einer Delegation der HDP. Trotz der schwerwiegenden politischen und militärischen Ereignisse, zu denen es in der Zwischenzeit kam, hat die Regierung der Partei für Gerechtigkeit und Aufschwung (AKP) seitdem keinen Besuch bei ihm gestattet. So wurde verhindert, dass die Ansichten Öcalans an die Öffentlichkeit gelangen. Zu seinen Anwälten hat er ohnehin seit mittlerweile fünf Jahren keinen Kontakt mehr.

Die Situation auf Imralı ist seit einem Jahr unklar. Es gibt keinerlei Informationen über den Gesundheitszustand oder die Sicherheitslage der Gefangenen. Vor drei Monaten tauchte in den Medien die Nachricht auf, dass zwei Gefangene aus Imralı in das Gefängnis von Silivri (Istanbul) verlegt worden seien. Allerdings wurde ihnen anschließend auch nicht gestattet, die Öffentlichkeit über die Lage auf Imralı zu informieren.

Diese Situation ist nicht akzeptabel. Abdullah Öcalan, der Repräsentant der kurdischen Bevölkerung, kann nicht wie ein üblicher Gefangener betrachtet werden. Öcalan, der seit nunmehr siebzehn Jahren auf der Gefängnisinsel Imralı festgehalten wird, wurde in einer Petition von mehr als zehn Millionen Menschen zu ihrem politischen Repräsentanten erklärt. Jeden Tag finden überall auf der Welt Proteste mit tausenden Menschen statt, die seine Freilassung fordern. Diese Menschen machen sich Sorgen um den Gesundheitszustand ihres politischen Repräsentanten. Sie wollen seine Stimme, seine Ansichten hören.

Abdullah Öcalan ist nicht aufgrund irgendeines persönlichen schuldhaften Vergehens auf der Gefängnisinsel Imralı gelandet. Er hat die Rolle der Führungspersönlichkeit im Existenz- und Freiheitskampf eines Volkes eingenommen und wurde deshalb schließlich in Kenia entführt und nach Imralı gebracht. Er ist also eine politische Persönlichkeit und es ist notwendig, dass die Öffentlichkeit Zugang zu seinen politischen Ansichten erhält. Aus diesem Grund wird die seit einem Jahr anhaltende Isolation sowohl Öcalans als auch der Millionen von Menschen praktiziert, die seine Ansichten hören wollen.

Ist denn diese Isolation in irgendeiner Weise moralisch, rechtlich oder auf Grundlage der Demokratie zu rechtfertigen? Zweifellos nicht. Aus rechtlicher Perspektive handelt es sich beim Gefängnis von Imralı um ein Hochsicherheitsgefängnis des Typs F. Das Recht auf Kommunikation mit externen Personen ist für Gefangene des F-Typ­-Gefängnisses in der türkischen Gesetzgebung festgelegt.

Außer Imralı gibt es kein weiteres F-Typ-Gefängnis in der Türkei, in dem den Gefangenen der Besuch von Familienangehörigen, Anwälten und Abgeordneten verweigert wird. Das bedeutet, dass auf Imralı das geltende türkische Recht außer Kraft gesetzt ist und die AKP-Regierung willkürlich verfährt. Das Imralı-Gefängnissystem unterliegt nicht allein der Obhut der Republik Türkei. Auch die USA und die EU tragen dafür Verantwortung. Und auch auf Basis des US-amerikanischen und des EU-Rechts gibt es keine Grundlage, die diese Isolationshaftbedingungen rechtfertigen könnte. Zumal laut genanntem Recht nach 15-jähriger Haftzeit die Haftsituation Abdullah Öcalans von Neuem hätte geprüft werden müssen. Auch das ist nicht geschehen.

Dass es aus moralischer Sicht keine Rechtfertigung gibt, bedarf keiner langen Ausführung. Gemäß demokratischen Standards ist die Sache auch klar. In der repräsentativen Demokratie Europas ist das Recht auf Meinungsfreiheit und Informationszugang grundlegendes Menschenrecht. Durch die Isolationshaftbedingungen Öcalans wird einerseits sein Recht auf Meinungsfreiheit verletzt, andererseits das Recht von Millionen Menschen auf Informationszugang, die hören wollen, was er zu sagen hat. Der faschistische Charakter des türkischen Staates wird im System von Imralı offenkundig. Es ist zugleich ein Barometer für die Demokratie in der Türkei und im Westen.

Kommen wir nun zu den politischen Folgen der Totalisolation Öcalans. Tatsächlich ist die türkische Politik seit dem 5. April 2015, also dem letzten Besuch bei Abdullah Öcalan, nicht funktionsfähig. In diesem Zeitraum haben in der Türkei zwei Parlamentswahlen stattgefunden, und auch wenn die politischen Institutionen der Türkei den Anschein zu erwecken versuchen, sie würden arbeiten, tun sie dies im Endeffekt nicht. Denn im vergangenen Jahr wurde kein einziges Problem des Landes durch die türkische Politik gelöst. Die Kompetenzen der politischen Institutionen im Land wurden beschnitten, die Politik insgesamt außer Kraft gesetzt. Was übrig geblieben ist, das sind der Befehlshaber Tayyip Erdoğan und der Kriegszustand seit dem 24. Juli 2015.

Das Ergebnis der Ein-Mann-Diktatur Erdoğans und seines Krieges gegen die kurdische Bevölkerung ist offenkundig. Jeden Tag werden neue Bilanzen dieses grausamen Krieges veröffentlicht. Vielleicht erlebt die Türkei eines der dunkelsten Kriegsjahre ihrer Geschichte. Die Zahl der Toten und Verletzten ist enorm. Ganze Städte wie Cizîr (Cizre) oder Stadtteile wie Amed-(Diyarbakır-)Sûr wurden zerstört. Tausende Menschen wurden festgenommen und inhaftiert. Ethische und moralische Werte haben in diesem Krieg ihre Bedeutung verloren. Verwundete wurden mit Benzin übergossen und verbrannt, Leichname von Opfern hinter gepanzerten Fahrzeugen hergeschleift, Frauenleichname ausgezogen und zur Schau gestellt und Friedhöfe aus der Luft bombardiert und zerstört.

Diese Situation ist Dynamit für den Grundstein eines gemeinsamen Lebens von Türken und Kurden. Es sind die revolutionären und demokratischen Kräfte in der Türkei, die die Aussicht auf ein Zusammenleben der Völker am Leben erhalten, während die AKP-Regierung eben diese Aussicht zu zerstören droht.

Die Kurdenfeindlichkeit der AKP hat das Ausmaß eines Genozids angenommen und stellt somit die größte Gefahr in der Geschichte der Türkei dar. Für den Erhalt der eigenen Macht setzt die Regierung unter Tayyip Erdoğan und Ahmet Davutoğlu diese Genozid-Politik nicht nur fort, sie sucht auch überall in ihrem Umfeld verzweifelt Unterstützung. Von den USA bis zu Russland, von Europa bis zum Iran gibt es keine Tür, an der diese Regierung hierfür nicht angeklopft hat. Unterstützung erhofft sie sich zugleich auch von Kräften wie der Demokratischen Partei [Süd-]Kurdistans (PDK), Al-Qaida und dem Islamischen Staat (IS).

Das Ergebnis dessen führt das Land jeden Tag näher an den Abgrund. Der AKP geht es ohnehin nicht um die Rettung des Landes. Es geht ihnen um die eigene Macht, die sie mit diesem Kurs aber auch kaum erhalten können werden. Der einzige Ausweg aus der derzeitigen Situation, in der sich die Türkei befindet, ist auf Imralı zu finden. Außer dem Repräsentanten der kurdischen Bevölkerung Abdullah Öcalan ist keine Kraft imstande, die Türkei aus dieser Lage zu retten.

Doch kann es passieren, dass die AKP zur Rettung ihrer eigenen Macht den Weg nach Imralı geht? Ich denke, diese Chance hat sie verspielt. Im Rahmen des Lösungsprozesses wurden ihr genügend Chancen gegeben. Sie hat keine genutzt. Jede Gelegenheit hat sie für ihr eigenes Interesse und zur Stärkung ihrer Macht missbraucht. Zuletzt hat sie am 5. April die Imralı-Gespräche beendet und auf die Kriegskarte gesetzt. Damit hat sie auch ihre letzte Chance verspielt.

Die politischen Kräfte in der Türkei außerhalb der AKP und der Partei der Nationalistischen Bewegung (MHP) müssen diese Realität anerkennen. Sie müssen einzeln oder gemeinsam versuchen, den Pfad nach Imralı zu öffnen. Die Öffnung dieses Weges führt über die Beendigung der Isolationshaftbedingungen Abdullah Öcalans. Folglich sollten diese politischen Kräfte die Kampagne für seine Freiheit unterstützen und stärken. Denn die Isolation auf Imralı bedeutet nicht nur eine Isolation der kurdischen Bevölkerung. Sie ist die Isolation aller Völker der Türkei.