Der EU-Türkei-Deal zur Abwehr von Geflüchteten

Offenbarungseid der EU

Andrej Hunko, MdB

Mit dem EU-Türkei-Deal zur Abschottung der Europäischen Union gegen Flüchtlinge hat diese endgültig ihre Maske des Menschenrechtsdiskurses fallen lassen. Sie macht mit dem AKP-Regime des türkischen Präsidenten Recep Tayyip Erdoğan einen Akteur zum »Türsteher« der EU, der konträrer zu den vorgeblich verteidigten Grundrechten kaum sein kann. Und dieser scheint seine neue Rolle als Handlanger der EU vollends auszukosten.

Aachen: Protestdemo gegen die Kriegspolitik der Türkei gegen die Kurden | Foto: Antikriegsbündnis AachenBereits seit Herbst vergangenen Jahres arbeiteten Vertreter/innen der EU-Regierungen und allen voran die deutsche Bundeskanzlerin Angela Merkel an einer vermeintlichen Lösung der »Flüchtlingskrise« mit Hilfe der Türkei. Zuvor hatten sich die Bewertungen der Lage in dem Land insbesondere nach der Aufkündigung des Friedensprozesses durch die Regierung zunehmend kritischer gestaltet. Sowohl die deutsche Bundesregierung als auch die so genannten Fortschrittsberichte im Rahmen der Beitrittsverhandlungen mit der EU äußerten sich zunehmend kritisch zu den Entwicklungen in der Türkei. Dies änderte sich schlagartig, als sich die EU im Sommer 2015 mit stark anwachsenden Zahlen Schutzsuchender vor allem in Folge des Krieges in Syrien konfrontiert sah. Denn nach der anfänglich hochgejubelten Willkommenskultur gegenüber Geflüchteten suchte vor allem Deutschland nach einer Möglichkeit, die Flüchtlingszahlen deutlich zu reduzieren, möglichst ohne die offenen Binnengrenzen der EU dauerhaft zu schließen – ein Szenario, das vor allem Wirtschaftsvertreter mit Klagen über die enormen Kosten für den innereuropäischen Handel auf den Plan rief. Die »Lösung« für dieses Problem bot sich in der Türkei. Denn während die meisten Fluchtrouten in die EU verschlossen waren (und bis heute sind), ist die Route über die Türkei, Griechenland und die Balkan-Länder lange Zeit die einzige Möglichkeit für Schutzsuchende gewesen, in die EU zu gelangen. Legale Einreisewege sind ohnehin für die allermeisten Menschen versperrt.

So kam es, dass die Türkei im Herbst urplötzlich eine enorme diplomatische Aufwertung erfuhr: Zunächst reiste Bundeskanzlerin Merkel im Oktober nach Istanbul, um Präsident Erdoğan zu treffen – und ihm damit im Wahlkampf unter die Arme zu greifen. Am 29. November 2015 rollten dann die Staats- und Regierungschefs der EU-Staaten der türkischen Regierung in Brüssel den roten Teppich aus. Beim ersten EU-Türkei-Gipfel, der von nun an zwei Mal pro Jahr stattfinden soll, konnte Ministerpräsident Ahmet Davutoğlu auf Augenhöhe mit seinen europäischen Partnern verhandeln und musste nicht als Bittsteller daherkommen. Ganz im Gegenteil: Seither ist es die Türkei, die die Forderungen stellt, und die EU, die klein beigibt. So kam es bereits im November vergangenen Jahres zu einer Übereinkunft, die die deutsche Flüchtlingshilfsorganisation Pro Asyl einen »Deal auf Kosten der Menschenrechte«1 nannte. Diese formell »EU-Türkei-Aktionsplan« genannte Übereinkunft sah vor, dass die Türkei zum Türsteher der EU wird, indem sie ihre Grenzen besser kontrolliert und Flüchtende davon abhält, den gefährlichen Weg vor allem über das Mittelmeer in die EU anzutreten. Im Gegenzug sollte sie zunächst drei Milliarden Euro erhalten – formell allein zur Versorgung der syrischen Flüchtlinge gedacht – und die EU-Beitrittsverhandlungen sollten intensiviert werden. Tatsächlich wurde in diesem Zuge dann im Dezember ein Kapitel zur Angleichung der Türkei an die Wirtschafts- und Finanzpolitik der EU eröffnet.2 Parallel dazu militarisierte die EU ihre eigene Flüchtlingsbekämpfung. Im Rahmen der Operation EUNAVFOR-MED patrouillieren seit Sommer 2015 Kriegsschiffe der EU-Staaten im Mittelmeer und seit Beginn dieses Jahres ist auch die NATO in der Ägäis präsent, um in Schiffen und Booten ankommende Menschen zurück in die Türkei zu verfrachten.

Wirklich abschließend wurde der EU-Türkei-Deal dann aber erst beim EU-Gipfel am 18. und 19. März in Brüssel besiegelt. Weitgehend an den anderen EU-Mitgliedsländern vorbei hatte Deutschland mit der Türkei ein abschließendes Abkommen verhandelt, das dann schließlich mit einigen Änderungen, doch dem Charakter nach identisch, verabschiedet wurde. Es ähnelt dem im November vereinbarten »Aktionsplan«, geht aber wesentlich weiter. Und das nicht allein, weil sich die der Türkei für ihre Dienste versprochene Summe auf inzwischen sechs Milliarden Euro verdoppelt hat. Auch sieht die Vereinbarung nun gänzlich konkret vor, wie die Türkei der EU das »Flüchtlingsproblem« vom Hals schaffen soll. Einerseits verpflichtet sich die türkische Regierung, die Grenzen nach Griechenland gänzlich abzuschotten. Darüber hinaus erklärt sie sich aber bereit, alle auf diesem Weg irregulär in die EU eingereisten Menschen zurückzunehmen – oder, wie es die Gipfelerklärung formuliert, »die rasche Rückführung aller Migranten zu akzeptieren, die keinen internationalen Schutz benötigen und von der Türkei aus nach Griechenland einreisen, und alle in türkischen Gewässern aufgegriffenen irregulären Migranten zurückzunehmen«. Im Gegenzug soll dann für jeden auf diesem Weg in die Türkei deportierten Syrer – aber maximal 72 000 – ein anderer syrischer Geflüchteter legal aus der Türkei in die EU einreisen dürfen. Schutzsuchende anderer Staatsangehörigkeiten werden von der Regelung ausgenommen und gezwungen, in der Türkei zu bleiben – zumindest solange diese sie dort duldet. »Sobald die irregulären Grenzüberquerungen zwischen der Türkei und der EU enden oder zumindest ihre Zahl erheblich und nachhaltig zurückgegangen ist«, heißt es dann beschönigend in der Gipfelerklärung weiter, soll eine nicht weiter definierte »Regelung für die freiwillige Aufnahme aus humanitären Gründen aktiviert« werden. Zwar wird keine dieser Maßnahmen die Zahl der Schutzsuchenden verringern. Doch scheint »aus den Augen, aus dem Sinn« die Devise der EU zu sein: Solange diese Menschen es nicht in die EU schaffen, ist das Problem aus EU-Sicht »gelöst«.

Bereits im Vorfeld des Märzgipfels war der EU-Türkei-Deal kritisiert worden, weil er nach Ansicht verschiedener Organisationen und Institutionen massiv gegen die Grundrechte der schutzsuchenden Menschen verstößt. Als erste Details bekannt wurden, warnte beispielsweise der Menschenrechtskommissar des Europarates, Nils Muižnieks, dass pauschale Abweisungen Geflüchteter »schlicht illegal«3 sind, und forderte nach der Verabschiedung des Abkommens »legale Sicherheitsklauseln« wie die Bindung an internationales und europäisches Recht, um das verbotene Refoulement (Zurückweisen) und Kollektiv­ausweisungen auszuschließen.4 Diese Klauseln müssten nicht nur für Syrerinnen und Syrer gelten, sondern für alle Menschen, die in Griechenland ankommen, forderte Muižnieks. Ähnlich äußerte sich der Hohe Flüchtlingskommissar der Vereinten Nationen, Filippo Grandi.5 Pro Asyl nannte den Deal trotz einiger Nachbesserungen einen »Frontalangriff auf das Asylrecht«.6 Dass sich die Türkei, die die Genfer Flüchtlingskonvention nur mit Ausnahmen unterzeichnet hat, an das Refoulement-Verbot halte, sei »reines Wunschdenken«, wie auch ein Rechtsgutachten bestätige, das der Asylrechtsexperte Reinhard Marx für Pro Asyl erstellt hat. Amnesty International nannte das Abkommen einen »historischen Schlag« (historic blow) gegen Grundrechte.7

Dass auch diese Organisationen, die nicht unbedingt für allzu scharfe Wortwahl bekannt sind, derartige Töne anschlagen, hat seine berechtigten Gründe. Denn in der Tat ist das Abkommen, das über die Achse Berlin-Ankara zustande gekommen ist, nicht nur ein offener Bruch mit jenen viel beschworenen »europäischen Werten«, mit denen sich die EU in der Regel zu brüsten sucht. Es bricht auch mit internationalem Recht sowie den Menschenrechten. Denn durch den Deal wird die Türkei als sicheres Herkunftsland und als sicherer Drittstaat behandelt, was dazu führt, dass einerseits türkische Staatsbürger/innen – und damit auch verfolgte Kurd/innen – kaum Chancen haben, in der EU Asyl zu bekommen. Andererseits erlaubt es aber eben auch der EU, über die Türkei in die EU eingereiste Schutzsuchende wieder dorthin zurück zu bringen. Doch hat die Türkei nicht nur die Genfer Flüchtlingskonvention lediglich für europäische Staatsbürger ratifiziert; auch ist hinlänglich bekannt, dass Geflüchteten ihre Rechte verwehrt werden, sie misshandelt und teilweise in ihre Herkunftsländer abgeschoben werden, aus denen sie geflohen waren. Zuletzt hat Amnesty International derartige Fälle im Dezember 2015 anhand von syrischen Flüchtlingen dokumentiert.8

Darüber hinaus gibt das Abkommen aber auch der türkischen Regierung einen Blankoscheck für ihre Politik gegen die kurdische Bevölkerung und politische Gegner. Denn während Erdoğan und Davutoğlu gemeinsam mit ihren europäischen Partnern in die Kameras lächeln, erlebt die Türkei eine der heftigsten Repressionswellen gegen Oppositionelle seit Langem. Seit Monaten gehen Militär und Polizei mit äußerster Brutalität unter dem Vorwand des Kampfes gegen die PKK gegen die kurdische Bevölkerung im Südosten des Landes vor. Hunderte Zivilistinnen und Zivilisten wurden bereits getötet, tausende verletzt oder verhaftet. Ganze Wohngebiete wurden zerstört und zehntausende Menschen zur Flucht gezwungen. Auch regierungskritische Medien sind weiter ins Visier der Regierung geraten; zahlreiche Journalisten wurden verhaftet und mit Prozessen überzogen, ganze Medien durch staatliche Stellen übernommen. Bekanntestes Beispiel dieser Verfolgung sind die Übernahme der Zeitung Zaman und der Prozess gegen Can Dündar und Erdem Gül von der Zeitung Cumhuriyet. Ihnen drohen hohe Haftstrafen, weil sie über die Unterstützung des »Islamischen Staates« (IS) durch die türkische Regierung berichtet hatten. Und inzwischen scheint der lange Arm Erdoğans sogar bis nach Deutschland zu reichen: Nach einem satirischen Beitrag der Fernsehsendung extra3 über den türkischen Präsidenten wurde kurzum der deutsche Botschafter einbestellt und die deutsche Bundesregierung hüllte sich in vielsagendes »lautes Schweigen«. Im Fall des »Schmähgedichts« von Jan Böhmermann drängt das türkische Staatsoberhaupt gar auf Strafverfolgung [was ihm inzwischen auch gewährt wird; Anm. d. Red.].

Trotz dieser Entwicklungen hält die deutsche Bundesregierung daran fest, die Türkei angesichts ihrer »Schlüsselrolle« zu einem Partner zu machen und in der Konsequenz bei deren Menschenrechtsverletzungen wegzuschauen. Völlig unverblümt verteidigt in diesem Zusammenhang Innenminister Thomas de Maizière das Vorgehen der Bundesregierung. An jene gerichtet, die eine kritischere Haltung der Regierung gegenüber der türkischen Regierung einfordern, sagte er ohne Umschweife: »Alle(n), die uns jetzt sagen, man muss die Türkei jetzt von morgens bis abends kritisieren, (denen) rate ich jetzt mal, dies nicht fortzusetzen. Wir haben einen Interessenausgleich mit der Türkei vor uns. Wir haben Interesse, die Türkei hat Interesse, das ist ein wichtiger Punkt.«9 Und weiter: »Natürlich sind in der Türkei Dinge entstanden, die wir zu kritisieren haben. Aber die Türkei, wenn wir von ihr etwas wollen, wie dass sie die illegale Migration unterbindet, da muss man auch Verständnis dafür haben, dass es dann im Wege des Interessenausgleichs auch Gegenleistungen gibt.« Dafür müsse man nun »einige Wochen ein paar harte Bilder aushalten«, der Ansatz sei aber richtig.10

Präsident Erdoğan scheint das unterdessen voll auszukosten, weiß er doch um die neu gewonnene starke Position gegenüber der EU. Laut dem Protokoll eines Gesprächs mit EU-Kommissionschef Jean-Claude Juncker und Ratspräsident Donald Tusk im November sagte er den EU-Vertretern unverhohlen: »Wir können die Türen nach Griechenland und Bulgarien jederzeit öffnen, und wir können die Flüchtlinge in Busse stecken.«11 Aus dieser Position heraus erschließt es sich leicht, warum Erdoğan sich derzeit so ziemlich alles leisten kann, ohne mit ernsthafter Kritik oder gar Konsequenzen rechnen zu müssen – Krieg gegen die eigene Bevölkerung inklusive. Für die EU und Angela Merkel, die »Architektin« des Deals, ist diese Situation ein Offenbarungseid.

Fußnoten:

1 - »Zwei Wochen danach: Die ersten fatalen Folgen des EU-Türkei-Deals«; https://www.proasyl.de/news/zwei-wochen-danach-die-ersten-fatalen-folgen-des-eu-tuerkei-deals/; 11.12.2015.

2 - »Ein neues Kapitel«; http://www.sueddeutsche.de/politik/eu-ein-neues-kapitel-1.2781961; 14.12.2015.

3 - »Diese Pläne sind schlicht illegal«; https://www.tagesschau.de/ausland/eu-tuerkei-fluechtlingskrise-101.html; 16.03.2016.

4 - »The implementation of the EU-Turkey deal must uphold human rights«; http://www.coe.int/de/web/commissioner/-/the-implementation-of-the-eu-turkey-deal-must-uphold-human-rights; 21.03.2016.

5 - »Asylum safeguards must prevail in implementation«; http://www.unhcr.org/56ec533e9.html; 18.03.2016.

6 - »Trotz Nachbesserungen: Der EU-Türkei-Deal verstößt gegen fundamentale Menschenrechte!«; https://www.proasyl.de/news/trotz-nachbesserungen-eu-tuerkei-deal-verstoesst-gegen-fundamentale-menschenrechte/; 17.03.2016.

7 - »EU-Turkey refugee deal a historic blow to rights«; https://www.amnesty.org/en/latest/news/2016/03/eu-turkey-refugee-deal-a-historic-blow-to-rights/; 18.03.2016.

8 - »Turkey: EU risks complicity in violations as refugees and asylum-seekers locked up and deported«; https://www.amnesty.org/en/latest/news/2015/12/turkey-eu-refugees-detention-deportation/; 16.12.2015.

9 - »Flüchtlingsfrage gegen Kurdenfrage«; http://www.heise.de/tp/news/Fluechtlingsfrage-gegen-Kurdenfrage-3096282.html; 06.02.2016.

10 - »Müssen jetzt ein paar harte Bilder aushalten«; http://www.welt.de/politik/deutschland/article154124619/Muessen-jetzt-ein-paar-harte-Bilder-aushalten.html; 07.04.2016.

11 - »Erdogan drohte der EU mit Grenzöffnung«; http://www.welt.de/politik/ausland/article152140709/Erdogan-drohte-der-EU-mit-Grenzoeffnung.html; 11.02.2016.


Andrej Hunko ist Mitglied des Deutschen Bundestags und der Parlamentarischen Versammlung des Europarates für die Partei Die Linke.