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Erfahrungsbericht aus Nordkurdistan

Werden wir in einer faschistischen Zeit leben oder wird der Befreiungsgeist siegen?

Sascha Euler, Newroz-Delegation 2016

Im März waren 23 Menschen als politische Delegation in Bakur/Nordkurdistan. Ich, der Autor, war eine dieser Personen und möchte euch hier über unsere Erfahrungen berichten. Ich möchte darauf hinweisen, dass dies natürlich nur ein sehr subjektiver Erfahrungsbericht ist.

Die Delegation bestand aus Menschen, die aus unterschiedlichen Orten Deutschlands und der Schweiz kamen. Organisiert wurde die Reise vom YXK, dem Verband der Studierenden aus Kurdistan in Deutschland. Ziel der Delegation war es, die Strukturen, die mit dem Paradigma der demokratischen Autonomie aufgebaut wurden, direkt in Nordkurdistan kennenzulernen. Bedingt durch den derzeitigen Vernichtungskrieg des türkischen Staates war auch ein Ziel, mehr über die kritische Lage der Menschen zu erfahren. Auf der Reise wurde von den Teilnehmenden viel aufgeschrieben, fotografiert und einige Interviews wurden gefilmt. Aus diesen Materialien wollen wir mehrere kleine Filme zusammenschneiden und in Deutschland in Vorträgen oder Texten Aufklärungsarbeit über die kurdische Bewegung und die Ideologie der autonomen Demokratie betreiben. Außerdem konnten wir viel Motivation und Inspiration für unseren eigenen Aktivismus mitnehmen.

Newroz 2016 in AmedIn Amed

Am 17. März kamen wir alle in Amed (türk. Diyarbakır) an. Alle? Leider nicht. Wie wir gleich zu Beginn erfuhren, wurden vier Delegationsteilnehmerinnen in Antalya festgenommen, lange verhört und zur Ausreise gezwungen. Wir, die nicht von der Willkür des türkischen Staates erwischt wurden, haben uns nach der Ankunft im Jugendhaus in Amed getroffen. Hier hielten wir die nächsten Tage morgens und abends unsere Plena ab. Uns fiel gleich auf, dass die Jugend fehlt. Wo sie ist? Gerade die Jugend ist es, die in Sûr (Stadtteil von Amed), Cizîr (türk. Cizre) und ganz Kurdistan für Frauenbefreiung und autonome Demokratie kämpft, gegen die Okkupation und den derzeitigen Faschismus des türkischen Staates.

Am ersten Tag verschafften wir uns einen Überblick über die Lage in der Stadt. Amed samt Umgebung ist ein schöner und lebhafter Ort. Schon vom Flugzeug aus konnten wir einen Blick auf das Umfeld erhaschen. Schwarzbraune Berge, auf deren Spitzen noch Schnee lag, die Ebene um Amed sattes Grün im Wechsel mit tiefbraunen Flächen, Steine und Felsbrocken, die in einer Vulkanfärbung ruhen.

Nach unserer Landung sammelten sich gerade türkische Soldaten für einen Einsatz und Kampfjets starteten mit lautem Donner vom selben Flughafen, um genau die Freund*innen zu töten, die verbunden mit dieser Natur ein menschliches Leben führen wollen.

In Amed selbst stehen viele Mietshochhäuser mit vielen großen Balkons, die meistens um die Ecken gehen. Breite offene Straßen, die auch mal einen Blick auf sattgrüne Wiesen freigeben, wechseln sich ab mit verwinkelten, geschützten Nebenstraßen. Einkaufsmeilen in der einen, Wohngebiete in der anderen Ecke. Wir fahren häufig an Parks und ein- oder zweistöckigen Gebäuden vorbei, die in ihrer Quaderform Platz schaffen für Läden oder Familien.

Die Menschen hier sind sehr freundlich und nah. Die Bevölkerung ist solidarisch und verbunden. Es herrscht ein Miteinander. Sie wollen leben. Sie wollen Menschlichkeit leben. Sie wollen eine solidarische partizipative Demokratie aufbauen, in der die Frau befreit ist. Die Türkei unterdrückt diese Bestrebung mit allen Mitteln der Repression und Gewalt.
Auf den Straßen fahren viele gepanzerte Polizeifahrzeuge, was gleich eine bedrohliche Präsenz erzeugt. Zu jeder Zeit könnten diese prolligen Fahrzeuge einen anhalten, was sie auch sehr oft tun. Bei uns bedeutet das lediglich unangenehme Situationen. Die Freund*innen vor Ort werden allerdings oft verhaftet.

Auf unserem Weg durch Amed kamen wir an Bağlar, dem vom türkischen Militär besetzten Wohnviertel, vorbei. Die Strategie der Türkei in diesem Krieg ist es, in jedem Stadtteil, der starke Strukturen besitzt, Ausgangssperren zu verhängen, um so diese Gebiete zerstören und Menschen töten zu können, ohne dass die Öffentlichkeit erfährt, was genau geschieht. Hier, an einem dieser abgesperrten Gebiete, sahen wir einen schönen grünen Park, der die Grenze darstellte zur Ausgangssperre. Durch die gesamte Länge des Parks waren Polizeiabsperrungen gespannt. Direkt dahinter sahen wir die erste Straße Bağlars, dort standen im regelmäßigen Abstand einiger Meter einsatzbereite Panzer.

Während wir vorbeiliefen, sammelte sich eine kleine Menschenmenge. Sofort fuhren gepanzerte Fahrzeuge heran und versuchten die Menschen zu vertreiben. Im Hintergrund liefen schwer bewaffnete Soldaten durch den Park. Der Anblick war sehr bedrückend. Viele Menschen wohnen in diesem Gebiet und müssen nun um ihr Leben fürchten, weil sie erfolgreich eine wirkliche Demokratie und eine Frauenbefreiung aufbauen.

Wir versuchten daraufhin nach Sûr hineinzukommen, dieser Stadtteil ist ebenfalls besetzt. Der türkische Staat zerstört diesen Stadtteil mit dem Ziel, eigene Mietshäuser errichten zu können, die sie für eine intensivere Besetzung nutzen können. Erdoğan selbst ist eng verbunden mit der Baufirma (Toki). Alle Eingänge nach Sûr waren mit Absperrungen eingefasst, gepanzerte Fahrzeuge und Wasserwerfer standen bereit. Unsere Gruppe versuchte zweimal hineinzukommen. An beiden Stellen wurden wir von aggressiven Polizisten abgehalten, die in Zivil gekleidet waren, mit Schutzweste, Sturmhaube und AK-47 im Anschlag.

Am Abend gingen wir in Kleingruppen zu unseren Schlafplätzen. Auch bei den Übernachtungen war die starke Solidarität zu spüren, denn wir kamen in WGs und bei Familien unter. Auf dem Weg zur WG sind wir an einem Viertel schicker Häuser vorbeigekommen. Dieser Bereich war mit meterhohen Metallplatten ummantelt, die mit großen türkischen Fahnen behangen waren. Die Freunde sagten mir, hier wohnten die Angehörigen der Polizei und des Militärs. Diese führen hier ein sicheres, geschütztes Leben, getrennt von der Bevölkerung. Dies zeigt so deutlich, dass der türkische Staat Kurdistan besetzt hält und mit dem jetzigen Krieg zerstören will.

Während der nächsten Tage hörten wir immer wieder Schüsse durch die Stadt hallen. Auch wenn wir unsere Treffen hatten, immer wieder Schüsse und Kampfjets, die über die Stadt donnerten und auf dem Weg waren, andere Stellen zu bombardieren. Besonders abends bei unseren Schlafplätzen hörten wir den türkischen Vernichtungskrieg. So schaltete das Militär an einem Abend den Strom ab, kurz darauf hörten wir viele Schüsse in der nahen Nachbarschaft.

Kurdische Schulen und Volksräte

Die nächsten Tage waren sehr intensiv. Wir besuchten einige Strukturen und erfuhren viel über die Praxis und Ideologie der Bewegung. Der erste Termin war in einer kurdischen Schule. Diese wurde vor einem Jahr von den Familien aus der Nachbarschaft besetzt. Die Polizei räumte das Gebäude immer wieder mit Gewalt, doch durch die große Solidarität in der Nachbarschaft konnte die Schule immer wieder aufs Neue besetzt werden. Auch heute wird diese Schule durch die Unterstützung der Familien betrieben. Die Lehrer*innen erfahren jedoch bis heute tägliche Repressionen durch den Staat.

Die Kinder lernen hier von der ersten bis zur achten Klasse. Im ersten Jahr lernen sie Kurmancî, in den darauffolgenden Jahren andere kurdische Dialekte. Erst im vierten Jahr wird auch Türkisch gelehrt. Die Kinder sollen wissen, dass sie nein sagen können. Sie sollen sich ihre Identität nicht vom Staat vorschreiben lassen. Auch die Ideologie der Geschlechterbefreiung wird den Kindern nähergebracht, nicht nur theoretisch, sondern vor allem praktisch beim Kochen, Putzen oder in gemeinsamen Theaterstücken.
Die Schule und die Abschlüsse der Kinder werden von staatlichen Stellen nicht anerkannt, doch darum soll es auch gar nicht gehen. Die Bewegung möchte in Zukunft komplett eigene Strukturen aufbauen, bis hin zur Universität. Die Lehrer*innen sagen, wer etwas Neues errichten wolle, müsse das Alte aufgeben.

Nach dem Besuch in der Schule gingen wir zu einem Volksrat. Diese sind der Kern der Bewegung, der Kern der kommunalen Selbstverwaltung. Es gibt in Amed einen Volksrat für die gesamte Stadt und dieser wird weiter nach unten gestaffelt, für jeden Stadtteil, bis hin zu einem Rat für jede Straße. Jede*r kann sich so dort einbringen. Die Räte auf der lokalen Ebene schicken jeweils Delegierte zu den Räten auf der nächsthöheren Ebene.

An jeden Rat können noch weitere Strukturen zu anderen Themen angeschlossen sein. Dadurch entsteht eine Vielfalt an Interessen und Selbstorganisierung. So gibt es auch immer einen Frauenrat, in dem sich nur die Frauen treffen, über ihre Probleme diskutieren und Entscheidungen fällen, die alle anderen Strukturen einhalten müssen. Jede Interessensgruppe kann und soll sich selbst organisieren, möglichst lokal, so dass eine praktische Solidarität und Vielfalt direkt vor Ort in den Nachbarschaften wirken kann. Vom Rat aus werden darüber hinaus Kommissionen gebildet, die an bestimmten Problemen arbeiten, wie z. B. Ernährung, Ökonomie, Gesundheit, Frauen. Die Stärke der Bewegung kommt vor allem durch diese lokale Selbstorganisierung.

Frauenbefreiung

Am dritten Tag haben wir uns intensiv mit der Frauenbefreiungsideologie der kurdischen Bewegung beschäftigt. Dies ist der absolute Grundpfeiler der gesamten Ideologie. Wo bei europäischen Linken zumeist die Ökonomie und der Arbeitskampf im Vordergrund stehen, so ist es in der kurdischen Bewegung vor allem die Befreiung der Frau, die den Rahmen eines solidarischen Lebens ermöglicht. Gerade hiervon kann die europäische Linke viel lernen.

Wir besuchten den KJA (Kongress der Freien Frauen) und eine Lehrer*innengewerkschaft. Die Frauenbefreiungsbewegung in Kurdistan begann vor etwa 40 Jahren, als die ersten Frauen als Guerillakämpferinnen in die Berge gingen und sich so komplett lösen konnten vom Patriarchat und der kapitalistischen Moderne.

Die Frauen werden seitdem massiv angegriffen und mussten viel leiden. Staatliche Strukturen greifen sogar fokussiert Frauen an, da sie sich besonders vor einer Selbstorganisierung von Frauen fürchten. So gibt es Einheiten, die explizit Frauen angreifen und sie öffentlich erdniedrigen, um andere abzuschrecken.

Der Kongress besteht aus 101 Frauen und sieben weiteren im Vorsitz. Hier werden Probleme und Forderungen der Frauen besprochen und Beschlüsse gefasst, die für die anderen Strukturen bindend sind. Der KJA hat des Weiteren ein Protokoll beschlossen, welches in anderen Strukturen eingehalten werden muss, wird dieses gebrochen, so kann sich jede Frau beim KJA melden und dieser kümmert sich um das Problem.

Für den KJA ist es wichtig, dass Frauenorganisationen auf möglichst lokaler Ebene existieren, denn nur so ist eine solidarische Problemlösung möglich, nicht über Distanzen. Damit konnte für die Frauen aus der Nachbarschaft ein Vertrauen in die Strukturen etabliert und die Selbstorganisation konnte stärker werden. Ebenso geht die Bewegung auch direkt in die Nachbarschaften und spricht mit den Frauen über ihre Probleme und motiviert sie immer wieder aufs Neue, gemeinsam etwas dagegen zu tun. So wird die Frauenbefreiung mit viel Beharren und Solidarität immer weiter getrieben.

Eine weitere wichtige Möglichkeit, wie Frauen sich mehr Selbstbewusstsein und Eigenständigkeit erkämpfen, sind die Frauenkollektive. Hier können Frauen gemeinsam arbeiten und sich ihr eigenes Geld verdienen und merken sehr praktisch, was sie können. Außerdem werden viele lokale Gesprächsrunden und Seminare veranstaltet, in denen die Wichtigkeit der Frauenbefreiung diskutiert wird.

Hier wird auch die Jineolojî erarbeitet und vorangetrieben. Hierbei geht es darum, die bestehende männliche Wissenschaft zu durchbrechen. Den Frauen wurde ihre widerständige Geschichte gestohlen und in den etablierten Wissenschaften verdrängt. Durch die Jineolojî sollen diese Geschichte und die Möglichkeiten von Frauen neu erarbeitet werden. Dadurch wird das Selbstvertrauen der Frauen in den Nachbarschaften enorm gestärkt.

Gerade im Bereich der Frauenbefreiung lässt sich für deutsche Strukturen sehr viel lernen. Die Bestärkung durch Frauenselbstorganisation ist eine enorm wichtige Kraft, die die Gesellschaft fundamental befreien kann.

Rojava-Verein

Am nächsten Tag besuchten wir den Rojava-Verein und ein Camp von geflüchteten Êzîd*innen. Der Verein gründete sich 2014 nach dem Angriff des IS auf das Şengalgebirge und ist aktiv in der Geflüchtetenhilfe. Inzwischen müssen sie sich auf lokale Menschen fokussieren, die aus den angegriffenen Orten in Nordkurdistan flüchten.

Die Hilfe geschieht solidarisch und selbstverwaltet. So kümmert sich die Nachbarschaft einer ganzen Straße um geflüchtete Familien, die in der Straße Unterkunft bekommen. Ebenso wird versucht, wenigstens einem Familienmitglied eine Arbeit zu verschaffen, so dass die Familien möglichst schnell wieder eigenständig leben können. Der Rojava-Verein packt außerdem jeden Tag Essenspakete, die vor allem in die Gebiete Sûr und Cizîr geliefert werden.

Das Camp für geflüchtete Êzîd*innen wird explizit als Lebensraum gestaltet. Hier wurden sofort Strukturen für eine demokratische Autonomie geschaffen. So ist der neue Lebensraum der Êzîd*innen in vier Teilbereiche aufgeteilt, die jeweils Delegierte schicken für ein regelmäßiges Plenum. Die Bildungsarbeit ist enorm wichtig, daher werden Seminare organisiert, um über die demokratische Autonomie zu diskutieren, und so neue selbstverwaltete Perspektiven eröffnet und gestärkt. In einem Haus eigens für Frauen können in einem nichtpatriarchalen Umfeld Probleme besprochen und von dort heraus gestärkt und mit großem Selbstvertrauen gelöst werden. Konflikte können intern und selbstverwaltet mit einem starken Miteinander gelöst werden.

Newroz

Am Abend wurden wir von der Jugend in ein großes Gebäude eingeladen und verbrachten die Nacht mit den Freundinnen und Freunden, um von dort am nächsten Tag als Demo zum großen Newrozfest zu laufen. Auf dem Weg dorthin standen den Menschen die Befreiung und der Widerstand in den Gesichtern geschrieben. Familien jubelten der Demo entgegen, die digitalen Aufschriften der Busse wünschten ein schönes befreites Newroz. Auf dem Festgelände waren mehrere hunderttausend Menschen. Weniger als in den Jahren zuvor, da viele Menschen im Widerstand aktiv sind oder vom Militär aufgehalten wurden.

Die Stimmung auf dem Fest war sehr solidarisch und wir haben uns alle wohl gefühlt. Wir sahen keinen einzigen Menschen, der Alkohol zu sich nahm, was sicherlich zur entspannten Atmosphäre beigetragen hat. Patriarchales Verhalten hatte hier, anders als auf europäischen Festen, keinen Platz. Gegen Ende, als nicht mehr viele Menschen anwesend waren, nutzte die Polizei die Chance und griff die verbliebenen Menschen mit Tränengas an. Jede Chance wird vom türkischen Staat genutzt, um die Befreiungsstimmung zu unterdrücken.

Am Abend spitzte sich auch die Lage der Delegation zu. Vier Menschen aus der Delegation wurden in Bağlar vom Militär aufgehalten und daraufhin von Polizisten mitgenommen, verhört und hart angegangen. Durch die enorme Solidarität der lokalen Gruppen konnten sie schnell wieder herausgeholt werden. Doch auch bei der lokalen Jugend, die sich bisher um uns kümmerte, spitzte sich die Lage weiter zu. Dadurch war es ab diesem Zeitpunkt zu gefährlich für die Jugend, uns weitere Strukturen zu zeigen. Wir wurden ab jetzt von der Demokratischen Partei der Völker HDP unterstützt und in den nächsten Tagen angeleitet. So besuchten wir einige andere Orte in Nordkurdistan.
Farqîn (Silvan)

Als Erstes fuhren wir nach Farqin (türk. Silvan). Diese Stadt ist die Erste gewesen, in der die demokratische Autonomie konsequent gelebt wurde. Hier hat die HDP 92 Prozent bei der letzten Wahl erreicht. Die Stadt wurde vom 3. bis zum 14. Januar 2016 massiv vom türkischen Staat angegriffen und belagert. Das Gebiet wurde bombardiert und von Bodentruppen verwüstet. Als wir durch die engen Straßen liefen, sahen wir viele ausgebrannte Häuser mit teilweise eingestürzten Fassaden. Jedes Wohnhaus war mit Einschusslöchern durchsiebt, einige davon so groß, dass sie nur von schweren Geschützen kommen können.

In der Straße, die wir uns ansahen, baute die Bevölkerung mit der Stadt zusammen ein kleines Café auf, um wenigstens einen öffentlichen Treffpunkt zu haben und so das Herz der Stadt wieder zum Schlagen zu bringen.

Auf die Hauswände der Stadt schrieb das Militär faschistische Parolen wie »Wer kein Türke ist, soll sich umbringen«. Im gleichen Zuge wurden von den Soldaten Parolen des Widerstands überstrichen und unkenntlich gemacht. Wer hier vermeintlich die Hoheit hat, soll damit klar zum Ausdruck gebracht werden.

Während der Angriffe waren es vor allem die Jugendlichen zwischen 12 und 25 Jahren, die auf den Straßen kämpften und Widerstand leisteten. Sie verteidigten ihr Viertel und das demokratisch-autonome Leben mit allen Mitteln.

Nach ungefähr 20 Minuten wurde das türkische Militär auf uns aufmerksam, sie umstellten uns mit ihren gepanzerten Fahrzeugen und richteten ihre Waffen auf uns. Sie fragten, was wir hier wollten, und zwangen uns dazu, die Stadt wieder zu verlassen. Sie haben Panik, dass ihre Kriegsverbrechen an die Öffentlichkeit geraten.

In den nächsten Tagen besuchten wir noch Heskîf (türk. Hasankeyf). Eine sehr alte Stadt, die zu einem großen Teil aus Höhlen besteht, in denen seit Jahrhunderten Menschen auf einer solidarischen und naturverbundenen Basis wohnen. Diese Stadt ist durch ein Staudammprojekt des türkischen Staates von der kompletten Überflutung gefährdet. Wir besuchten auch noch die südliche Stadt Mêrdîn (türk. Mardin), im Umkreis dieser Stadt sind die Angriffe des türkischen Staates sehr brutal, allerdings ist auch der Widerstand hier sehr intensiv.

Pîrsûs (Suruç)

Der letzte Ort, den wir besuchten, war die Grenzstadt Pîrsûs (türk. Suruç). Schon beim Ankommen merkten wir: Hier ist die Präsenz von Polizei und Militär besonders hoch. Wir sahen, als wir die Hauptstraße entlangfuhren, einige große Kasernen, in deren Vorhöfen sich Soldaten sammelten.

Wir trafen uns erst einmal im Haus der lokalen Stadtverwaltung mit den HDP-Co-Vorsitzenden zu einem kurzen Gespräch. Sie erzählten uns, dass der Krieg in Kobanê sehr starke Auswirkungen auf die Stadt Pîrsûs hatte. Die Solidarität mit Rojava war hier besonders stark. Die Türen standen zu dieser Zeit offen für geflüchtete und helfende Menschen.

Es wurden sieben Camps für Geflüchtete aus Kobanê als wirkliche Lebensräume geschaffen, außerdem die Verteilung in weitere 107 kurdische Kommunen organisiert. Die Geflüchteten haben dadurch ein positives und bestärkendes Gefühl bekommen.

Pîrsûs war zur Zeit des Krieges in Kobanê das Zentrum für praktische Solidarität und der wichtigste Anlaufpunkt für Menschen, die im Kampf für Befreiung in Kobanê mithelfen wollten. Noch bis vor den Parlamentswahlen in der Türkei gab es hier eine beruhigte Zeit, in der die Freiheit und Autonomie spürbar wurde.

Erdoğan hatte Angst vor dieser Befreiung. Der türkische Staat will jegliches Erstarken von Solidarität mit allen Mitteln bekämpfen. Die Ausrufung der Autonomie in Rojava hat sich auch in Pîrsûs positiv ausgewirkt, was die starke türkische Militärpräsenz erklärt, die wir sahen. Als Erdoğan merkte, dass der IS die Kurd*innen nicht besiegen kann, bekam er noch mehr Angst. Nach der – für die HDP – erfolgreichen Wahl und dem IS-Anschlag in Pîrsûs auf eine Jugendgruppe begann Erdoğan mit dem Vernichtungskrieg gegen die kurdischen Strukturen, gleichzeitig wurde seine Unterstützung für den IS noch deutlicher.

Nahe Pîrsûs liegt ein staatliches Camp für Geflüchtete. Der Zugang dazu ist Außenstehenden komplett verwehrt. Erdoğan will verhindern, dass die Zustände dort an die Öffentlichkeit gelangen. Doch selbst Mitarbeiter*innen berichten, dass dieses Camp ein Anlaufpunkt für IS-Sympathisanten sei, die hier rekrutiert werden, ihre letzten Informationen bekommen, um dann nach Syrien gebracht zu werden.

Die Grenze ist für Kurd*innen, die zurück in ihre Heimat wollen oder die Stadt wiederaufbauen möchten, komplett gesperrt. Jeder Meter ist vom türkischen Militär überwacht. Doch in Pîrsûs unterstützt die Bewegung weiterhin Familien, die zurück nach Kobanê möchten.

All diese Solidarität und Selbstverwaltung wird von Erdoğan mit enormer Repression belegt. Freiwillige Helfer werden derzeit immer wieder festgenommen. Zum Abschluss unseres Gesprächs wünscht sich der Co-Vorsitzende deshalb mehr internationale Solidarität. Es müssten wieder mehr Delegationen herkommen.

Wir fuhren nach unserem Gespräch direkt an die Grenze zu Rojava heran. Dort sahen wir einen beeindruckenden Ort: Kobanê. Wir sahen die Hügel, die uns allen von der monatelangen und internationalen Berichterstattung bekannt sind, am Hang dieser Hügel sahen wir viele zerstörte Gebäude. Die Nachwirkungen eines intensiven Krieges waren direkt ersichtlich.

Die Grenze, die der türkische Staat bewacht, war kaum wahrnehmbar. Ein Fahrzeug mit einigen Soldaten stand an einem flachen Erdwall. Von unserem Standpunkt aus waren es nur wenige hundert Meter rüber nach Kobanê. Mensch müsste nur einige Minuten laufen und wäre in dem von Revolution und demokratischer Autonomie aufgeladenen Rojava, doch hat das türkische Militär hier einen Schießbefehl, der schon häufig angewendet wurde. Hinter uns sind weite grüne Wiesen, auf denen erst letztes Jahr auf beiden Seiten der Grenze Newroz gefeiert wurde. Vereinzelt stehen einige Häuser in der ansonsten leeren Grenzregion.

In eines dieser kleinen Dörfer fuhren wir als Nächstes. Von dort aus hatten wir nochmals einen guten Blick auf Kobanê. Die Situation war sehr beeindruckend. Hier haben auf engstem Raum Menschen für Freiheit, Frauenbefreiung und ein kommunales Leben gekämpft. Hier standen Beobachter*innen und sahen den Straßenkämpfen zu und sandten die Bilder in alle Welt, als die Anteilnahme noch groß war. Es war eine skurrile Atmosphäre, als würde die Revolution auf der Kinoleinwand beobachtet. Diese unsichtbare Grenze baut eine Distanz auf, die nicht sichtbar ist, sich aber wie ein Schleier über den Blick legt. Hier haben sich Menschen für uns alle aufgeopfert und gelitten und das noch dazu sehr bewusst.

Das Dorf, in dem wir nun standen, besteht aus einigen Lehmhäusern, eine Kuh war an einem Stein angebunden, in einer Umzäunung standen eng an eng einige Ziegen. Hier besuchten wir ein kleines Museum in einer Lehmhütte mit drei kleinen Räumen.

Der Mensch, der dieses Museum errichtete, ist ein motivierendes Beispiel dafür, mit wie viel Leidenschaft Menschen für wirkliche Freiheit kämpfen können. Während des Krieges in Kobanê saß er an der Grenze fest. Er baute das Museum zu dieser Zeit völlig allein auf. In den Räumen hängen rundherum eng beieinander die Bilder der Gefallenen. Darunter einige internationale Plakate der kurdischen Bewegung, dazu gibt es viele Bücher. Der Mensch, der dies erbaute, ist schlussendlich nach Kobanê in den Kampf gezogen und bei einem Anschlag des IS gefallen. Es ist erbauend, aber unvorstellbar, wie sehr sich Menschen für die Freiheit aufopfern können.

Diese Grenze hier zwischen Rojava und Nordkurdistan durchzieht den wichtigsten Ort der Revolution unserer Zeit. Auf der einen Seite die erfolgreiche Revolution Rojavas, auf der anderen Seite der beeindruckende Widerstand der Menschen Nordkurdistans. Von hier kommen die stärksten Impulse für einen Befreiungskampf gegen einen individualisierenden Neoliberalismus, gegen das Patriarchat und gegen Faschismus. Hier entscheidet sich unser aller Zukunft. Werden wir in einer faschistischen Zeit leben oder wird der Befreiungsgeist siegen? Die beiden Gebiete sind durch Gewalt voneinander getrennt, aber im Widerstand vereint. Hier werden befreite Strukturen erkämpft. Hier ist der Ort der Orte unserer Generation. Jede*r sollte das im eigenen Kampf im Bewusstsein haben. Hiervon hängt vieles ab.

Nach dem intensiven Moment direkt an der Grenze und im Museum fuhren wir zu einem weiteren Ort der Aufopferung. Wir betraten in Pîrsûs den Hof des Jugendhauses, in dem Menschen, wie wir, mit Block und Stift in ihren Händen, bei einem Anschlag starben. Ein Baum, der noch leichte Spuren der Explosion in der Rinde eingegraben hat, steht neben der Fahne der Delegation, die nun nicht mehr für die Befreiung kämpfen kann.

Folgende abschließende Worte sind sehr subjektiv.

Trotz der kritischen Situation in Nordkurdistan, haben die Menschen einen unglaublichen Widerstandsgeist, der Glaube an die Befreiung der Gesellschaft ist weiterhin stark. Der Sinn in der eigenen Tätigkeit ist vorhanden. Wir Menschen der Delegation kommen daher sehr motiviert aus Kurdistan. Wir konnten sehr viel lernen und glauben, dass viele praktische Ansätze auch für Europa wichtig sind. Eine gewisse Arroganz, die gegenüber der kurdischen Bewegung in Teilen der Linken spürbar ist, sollte unbedingt abgelegt werden. Gerade von den Volksräten, die auf sehr lokaler und nachbarschaftlicher Ebene aufgebaut wurden, können wir sehr viel lernen. Die Bewegung ist immer wieder zu den Menschen gegangen und hat mit ihnen über die Probleme gesprochen und daraufhin gemeinsam nach Lösungen gesucht, so konnte ein Vertrauen aufgebaut werden. Wir müssen auch hier raus aus der Szene. Die wichtigste Lektion, die ich aus dieser Reise gezogen habe, ist die Wichtigkeit der Befreiung der Frau. Es ist so viel Neues möglich, wenn Frauen selbstorganisiert und mit viel Selbstvertrauen sich politisch entfalten können und gleichzeitig Männer ihr patriarchales Verhalten immer wieder aufs Neue hinterfragen und dagegen ankämpfen.

Lasst uns Strukturen aufbauen und selbstbewusst auf Menschen zugehen. Hören wir uns die Probleme in unseren Straßen an und lasst uns versuchen, gemeinsam und solidarisch Probleme zu lösen. Lasst uns Vertrauen aufbauen. Reist nach Kurdistan, nehmt diese wichtigen Impulse auf und lasst uns kämpfen gegen die europäische Unterstützung des türkischen Faschismus.

Die Solidarität hilft uns gegen Unterdrückung!

Detailliertere Infos auf unserem Blog: www.newroz.blogsport.eu