Die Bewegung der Landlosen in Brasilien

Escola Nacional Florestan Fernandes

Özlem Yeniay

Die Bewegung der Landlosen1 (MST) und die Zapatista sind, obwohl selbst in Südamerika aktiv, zwei der wichtigsten Volksbewegungen der Welt, die sicherstellen, dass der Glaube an eine alternative Welt weiterlebt. Die Landlosen verteidigen das gemeinsame Leben, die Produktion und stehen dafür ein, dass der Erdboden Eigentum derer ist, die ihn bearbeiten, also dort arbeiten. 1,5 Mill. Menschen leben auf selbst besetztem Land und zeigen uns, dass von der Produktion bis hin zu gesellschaftlichen Beziehungen durch enorme Transformation und mit antikapitalistischen Praktiken eine andere Welt möglich ist.Ein Wandbild zu Rojava im Eingangsbereich der Escola Nacional Florestan Fernandes

Im März 2015 waren wir mit vier Genossen, Vertreter dreier unterschiedlicher politischer Gruppen aus der Türkei, mit Referenzen der La Via Campesina Türkei zur ersten internationalen politischen Ausbildung der Landlosen eingeladen. Ich kann sagen, dass dies mit der anderthalbmonatigen Ausbildung von Ende März bis Mitte Mai und mit dem Schreiben dieses Textes in der Wohnung in São Paulo, die ich zusammen mit einem Genossen aus der Bewegung bewohnt habe, mein erster Schritt in die Welt der Landlosen ist. Ein Beginn daher, da ich bisher noch nicht offiziell von meiner Organisation zu Camps oder Niederlassungen entsendet worden war. Dieser Text beinhaltet meine Erfahrungen, die ich bei den politischen Seminaren an MST-Instituten und anschließenden Aufenthalten in unterschiedlichen Städten Brasiliens, übernommenen Aufgaben auf Konferenzen der MST und Kurzzeitaufenthalten in Niederlassungen gemacht habe.

Ich möchte ganz aufrichtig erklären, dass dies für mich nicht nur eine Erfahrung und eine Reise ist, sondern eine Begegnung, durch die ich meine eigene politische Geschichte, meinen Standpunkt, unsere geografischen und historischen Realitäten und die Existenz des Sozialismus hinterfragt habe und weiterhin hinterfragen werde. Heute ist der 16. September und ich beabsichtige, meine Erfahrungen über die eigenen Erkenntnisse der Landlosen und ihre Organisationsstrukturen, die ich in den fast sechs Monaten zu verstehen versucht habe, in diskussionsoffene greifbare Begriffe zu packen und darzustellen. Einleiten möchte ich mit den Worten meiner Professorin Neşe Özgen, die sie mir meinen ersten Beschwerden entgegensetzte: »Hey, ich küsse den Parteilosen, der sich mit der Partei anstrengt.«2

Die Landlosen sind dieses Jahr 31 geworden und in diesen 30 Jahren haben sie sich nicht nur im gesamten Land organisiert, sondern sind zudem dabei, auf dem gesamten Kontinent zu einem einflussreichen politischen Akteur zu werden. Um die Volksaufstände in Palästina und Kurdistan unterstützen zu können, arbeiten sie an wichtigen Schritten. Dazu schicken sie in diese Regionen MST-Kader, veröffentlichen aktuelle Solidaritätsaufrufe3 und sorgen dafür, dass diese auf internationalen Versammlungen vertreten sind.

Die Organisation ist, im Gegensatz zum Norden, in ihrer Entstehungsregion Südbrasilien weit einflussreicher. Sie haben riesige staatliche Flächen, an denen sie eigentlich keine Eigentumsrechte haben, besetzt und damit die Nutzungsrechte erlangt. Nicht alle, die sich auf diesen Landflächen ansiedelten, haben das Modell der kollektiven Produktion und des Zusammenlebens aufgegriffen. Das Ziel ist es, alle einzubeziehen, und somit sind alle politischen Aktivitäten darauf ausgerichtet. Die Eigentums- und Produktionsverteilung in den Siedlungsgebieten teilt sich wie folgt auf: 50 % gehören Familien, 30 % werden kollektiv genutzt und 20 % sind eine Mischung von beidem.

Als ich Landbesetzung gehört hatte, stellte ich mir bis zu meiner Ankunft vor, da sei nicht genutztes Land und alle kämen auf einmal dorthin und besetzten es, aber Besetzung ist keine Aktion, die ad hoc entschieden und durchgeführt wird. Eine Besetzung ist eine politische Aktion und es sind detaillierte Arbeiten, die mit der Zeit umgesetzt werden. Beispielsweise leben sie jahrelang in Lagern um die Ländereien herum, die sie besetzen werden, und erproben dort sozusagen ihr Leben nach der Besetzung.

Bei den besetzten Flächen handelt es sich hauptsächlich um zwei Arten: privates oder öffentliches Eigentum. Beide können besetzt werden, aber damit die Besetzung einen rechtlich gesicherten Status erlangen kann, sind zwei Faktoren notwendig. Wenn das Gebiet eine geringe Produktion aufweist, die Produktionsaktivitäten oder die dort lebende Gruppe der Umwelt Schaden zufügen, dann kann dies ein Grund für die Besetzung sein. Ich sage, ein legaler Grund, da Brasiliens Verfassung das Recht anerkennt, brachliegenden, nicht genutzten Boden zu nutzen. Die Landlosen realisieren ihre Besetzungen aufgrund dieses Gesetzes.

Die Lager: Gebiete, in denen sie während der Zeit zwischen Besetzung und Niederlassung vorübergehend leben. Derzeit gibt es 130 000 neue Familien und 760 Lager. In den Lagern kann fünf bis sechs Jahre gelebt werden und sie werden als politische Bildungsstätten für Widerstand, Ausbildung und kollektive Lebenspraxis betrachtet. Beispielsweise habe ich bei einem meiner Lagerbesuche erfahren, dass das Porecatu-Lager4 im Süden des Bundesstaates Paraná die gesamten Einnahmen der Bewegung zufließen lässt. In diesem Lager waren die Häuser zwar nur Baracken, aber es gab dort Landwirtschaft, Viehzucht und sogar Grundschulen.

Um den Übergang von den Lagern zur Niederlassung zu bewerkstelligen, kommt dann das im Rahmen der Landreform errichtete, zur MST positiv eingestellte Institut »INCRA« ins Spiel.5 Es schickt bald nach der Besetzung eine Gruppe zur Begutachtung dorthin, ob das Land geeignet ist, und diese Untersuchung kann bis zu zwei Jahre dauern. Während dieser Untersuchungszeit bauen die Besetzer um das Gebiet herum ihre Zelte auf oder lassen sich in der Nähe nieder und warten den Ablauf dieses Prozesses ab. Gegen die Besetzung spricht der Umstand, dass diese Zeit bis zur Anerkennung abzuwarten und unter sehr schwierigen Voraussetzungen zu verbringen ist.

Die Niederlassungsgebiete: Dem Lager folgt die »assentamento«, also die Ansiedlung. Landbesetzung, gesetzliche Prozeduren, Landbewirtschaftung, Unterbringung, Organisation und der Kampf sind für die dortige Bevölkerung zum großen Teil abgeschlossen und die Gebiete sind in umfassenderem Rahmen dem Kampf der MST angebunden. Ich habe bisher zwei Siedlungsgebiete besucht und eines davon war vollständig kollektiv, das andere halbkollektiv.

Copavi ist ein Siedlungsgebiet, in dem 37 Familien gemeinsam und zu 100 % kollektiv zusammen leben. Gleichzeitig werden alle politischen Entscheidungen, da es Teil der MST ist, von der Kooperative getroffen. Sie entscheiden jedoch selbst, dass sie kooperativ bleiben, da sie anderenfalls nicht auf eigenen Beinen stehen können. Es gibt dort 236 ha Land, das vorher monokulturell bewirtschaftet wurde, aber jetzt ökologisch bewirtschaftet wird. Die Grundpolitik der MST ist das Modell des Anbaus und der Nutzung regionaler Erzeugnisse zur Eigenversorgung.

Das andere Gebiet ist Serapuí, wo mehr als 30 Familien zusammen leben. Es ist kein Kollektiv im Ganzen, aber einige der dortigen Familien führen zusammen eines, das sie gegründet haben. Als ich dort war, wurden gerade am Eingang des Siedlungsgebiets ein Kooperativengebäude und eine Kirche gebaut. Das erste Gebäude ist mittlerweile fertiggestellt und sie verkaufen auf dem Marktplatz ihre eigenen Erzeugnisse.6

Normalerweise finden die Besetzungen in ländlichen Gebieten statt, da es für die Lager und Siedlungsgebiete grundlegende Gesellschaftsprinzipien sind, landwirtschaftlich zu produzieren und sich selbst zu genügen. Doch es gibt beispielsweise auch zwei Siedlungsgebiete in São Paulo, eines davon, »Comuna«, das ich besucht habe, erinnert an eine kleine Wohnanlage. Das Wohneigentum gehört den einzelnen Personen und somit können sie es an- und verkaufen, was viele der Besetzerfamilien getan haben und dann weggezogen sind. In diesen Wohnbezirken leben auch die Stadtkader der MST, die dort ihre eigenen Wohnungen haben. Sie sind also nicht völlig geleert, aber die Menschen, mit denen ich gesprochen habe, sagen, dass sie sich mit den neu zugezogenen Eigentümern, wegen denen eine politische Arbeit nicht mehr möglich sei, zu einer normalen Wohnanlage gewandelt hätten. Diese Situation, also die Apolitisierung derjenigen mit Privateigentum und Landbesitz, wird innerhalb der MST als ernsthaftes Problem betrachtet und draußen oft als Kritikpunkt genannt.

Nach João Pablo Rodriguez7 ist die Bewegung derzeit mit drei großen Problemen konfrontiert:

  1. Ökonomisches Potenzial bedingt neue politische Strategien. Über die grundlegenden Bedürfnisse wie Land, Bildung, Unterkunft und Nahrung hinaus hat jeder Haushalt ein Auto, einen Computer, einen LCD-Fernseher usw. Wie verhindert man in solch einer Lage den Wandel zur Kleinbourgeoisie?
  2. Wie können wir während dieser starken Phase des Kapitalismus eine Landreform durchführen?
  3. Und was wird aus der Position des MST nach den Landreformforderungen, Erfahrungen und dem Erstarken des politischen Widerstands?

Ausgehend hiervon folgen die Arbeitsbereiche, auf die sie sich konzentrieren:

  • Nutzung der Technologien;
  • Umgestaltung (eignet sich insbesondere für die Jugend in den ländlichen Gebieten);
  • Sozialismus für die Basis (Sexismus, Frauenbeteiligung, Ökologie, Agrarökologie);
  • Aufrechterhaltung der Bewegung und ihres Charakters (die Notwendigkeit für die Niedergelassenen, den Kampf auch beim Hinzukommen neuer Familien weiterführen zu müssen, und das Risiko, sich von einer sozialen Bewegung in eine NGO zu verwandeln, werden hierbei recht deutlich).

Auf ihrem letzten Kongress wurde die Dringlichkeit einer Volkslandreform unterstrichen und es wurde entschieden, den politischen Kampf um die Agrarökologie herum weiterzuführen und Leben und Produktion inmitten des Ökosystems neu zu organisieren und aufzubauen.

Die MST unterhält derzeit drei große Institute zur Ausbildung politischer Kader. Außerdem gibt es, da politische Bildung die Hauptader der Bewegung ist, 34 Zentren und jede Region hat ihre eigenen Schulen. Und dies bedeutet mehr als 2 000 Schulen. Meist sind sie in den Lagern und Siedlungen als Grundschulen eröffnet worden, in denen die Kinder im Geschichtsunterricht über die Revolutions- und Arbeitergeschichte unterrichtet werden. Folglich wird auch mit der Ausbildung zu Aktivisten begonnen. Grundlage ist das pädagogische Bildungssystem nach Paulo Freire. Der Bau dieser Schulen und das gesamte benötigte Material werden durch die MST beschafft. Der Staat bestimmt die Einzelheiten, mischt sich inhaltlich jedoch nicht ein. Nach Eröffnung der Schulen arbeiten dort in den ersten vier Jahren vom Staat entsandte Lehrer und im Anschluss bilden die eigenen MST-Kader weiter aus. Deren Gehälter werden vom Staat bezahlt.

Als ich in einem Gespräch über Bildung und Gestaltung einem Kader sagte, dass »wir, sobald wir Platz finden und eine Ausbildung versuchen, innerhalb weniger Monate unter Druck gesetzt und geschlossen werden«, gab er mir zur Antwort: »Wir haben viele Institutionen, Schulen und Aktivitäten nicht offen politisch vom Staat oder den Parteien gefordert, sondern sie, die Schwächen der Bürokratie nutzend, getarnt realisiert. Viele unserer Aktivitäten sind also eigentlich Untergrundaktivitäten [er benutzte das Wort ›clandestino‹].« Die gesamten Zeiten der Besetzungen, die Vorbereitungen von Schulen, Instituten und Kooperativen wurden und werden auf der Grundlage gesetzlicher Prozeduren vorbereitet und legalisiert.8 Mit Hilfe ihrer vorbereiteten Programme, Projekte und insbesondere der Vorteile einer seit zehn Jahren bestehenden linken Regierung konnten all diese Errungenschaften erzielt werden.

»Educação popular«9

Die Landlosen verfolgen mit der politischen Bildung das Ziel, einen Kaderstamm auszubilden, der »Widerstand und Organisierung« weiterführen kann. Das Programm selbst beinhaltet die politische Ökonomie (Agrarökologie), die Philosophie der Geschichte und den marxistischen Materialismus.Frida Kahlo Kunsthaus

Das politische Seminar, an dem wir teilgenommen haben, wurde in einem zwei Stunden von São Paulo entfernten kleinen Ort in der Florestan-Fernandes-Volksschule durchgeführt. Die ENFF (Escola Nacional Florestan Fernandes) wurde auf einem von dem Autor José Saramago, dem Fotografen Sebastião Salgado und dem Musiker Chico Buarque gespendeten Grundstück mit ehrenamtlicher Hilfe aufgebaut. Im Eingangsbereich sind eine Wand und eine Eisentür mit Bildern früherer Kursteilnehmer geschmückt, daneben gibt es einen kleinen Pavillon, was das Gebäude von außen betrachtet wie eine Grund- oder eine Kunstschule wirken lässt. Im Innenbereich sind rechts und links kleine einstöckige Wohnungen, in denen, wie wir später erfahren haben, die Kader wohnen, und ein Kinderbetreuungshaus. Im hinteren Bereich des Grundstücks führt ein Pfad ca. 200 m durch ein kleines Waldstück und man sieht sich einer riesigen Küche mit Kantine gegenüber. Außerdem gibt es auf dem Grundstück gepflasterte Wege und Lampen, die an ein Ferienlager für Beamte oder Banker aus den 1990ern erinnern. Gleich hinter der Kantine befindet sich ein rechteckiger Hofbereich, in dem sich Bücherei, Büros und Seminarräume aneinanderreihen. Jeder Tag wird mit einem Ritual, der Aufführung eines »mística« genannten Musical-Stücks, begonnen. Und beim Durchqueren dieses Hofbereichs sieht man zum ersten Mal überall an den Wänden, auf Tafeln mit Kursbezeichnungen die Namen Rosa, Marx, Palästina, Kuba usw. und ich bin nicht sicher, ob dieses beeindruckende Gefühl zu beschreiben ist. Noch weiter nach unten stehen Wohnheime, das Frida-Kahlo-Kunsthaus und am hintersten Ende eine Wäscherei. Um dieses dreigeteilte Areal aus Wohnheimen, Seminarräumen und Kantine liegen Gärten, die den täglichen Lebensmittelbedarf der Schule decken und in denen die Schüler sowohl agrarökologische Techniken erlernen als auch als wichtiger Teil des kollektiven Lebens, aktivistische Arbeit genannt, gewirtschaftet wird. Die Schulausgaben werden im Allgemeinen über Spenden, das Obst und Gemüse aus den eigenen umliegenden Feldern oder mit anderen Mitteln aus anderen Sektoren der MST finanziert.

Zeitgleich mit unserer Ausbildungsgruppe gab es weitere, unterschiedliche Seminare mit Teilnehmern aus 19 Ländern und 63 Organisationen. Regelmäßig war die Schule Gastgeberin für Kursgruppen aus Lateinamerika oder Brasilien selbst. Jede Gruppe gab sich kurz vor Beendigung einen Namen und eine Parole. Unsere Gruppe entschied sich nach heißen Diskussionen für das hoffnungsspendende und die Revolution repräsentierende »Rojava« und das Motto »Jin Jiyan Azadî«. Und im Eingangsbereich wurde ein Wandbild von Rojava erstellt.

Das Ziel der Ausbildung ist die Heranbildung von Aktivisten für ökologische Agrararbeit, selbstgenügsame Gesellschaften und die Fundierung nachhaltiger alternativer Ökonomie und eines ebensolchen Lebens. Und der Kern ist, die Kämpfe zu kollektivieren, also hin zu internationalen. Dieses politische Ausbildungssystem, durch das die MST mit uns gemeinsam aufs Neue Erfahrungen sammelt, wird in Kuba nicht mehr angewendet und ist übernommen aus der Sowjetunion. Wir haben alle erfahren, dass Ausbildung nicht nur als theoretischer Unterricht stattfindet, sondern die Bereiche des gemeinsamen Lebens, der kollektiven Erfahrungen, der gemeinsamen Lösung auftretender Probleme, der Arbeitsteilung, des gegenseitigen Verständnisses und der Solidarität weit mehr in der Praxis erlernt werden.

Ich habe während meiner Ausbildung zwei Grundkonzepte beobachtet, die auch in den später von mir besuchten anderen MST-Bildungszentren Grundlagen sind und nach und nach im gesamten Land angewendet werden: Organisation und Systematisierung. Sie verwenden dafür liebend gern das portugiesische Wort »organisidade« und obwohl dieser Begriff zunächst wie derselbe mit derselben Bedeutung im Türkischen und Englischen scheint, so kann er nicht nur als Organisation ausgelegt werden, sondern eher als ein organischer Aufbau, wie beispielsweise ein Körper, der nicht durch Intervention von außen zerteilt ist, sondern die Arbeitsweise seiner gesamten Teile aufzeigt.10 Nahezu alle sozialen Bewegungen und Vereinigungen, die MST inbegriffen, wenden ähnliche Organisationsformen an, sowohl in den MST-Lagern, -Siedlungsgebieten und -Instituten als auch in anderen Jugendorganisationen und Kollektiven Brasiliens. Entsprechend werden Gemeinschaften als kleinste Einheiten »nuclear base«, also NB, genannt.

In den MST-Lagern werden beispielsweise zunächst die Kernfamilien organisiert. Es gibt für jede Gruppe von 10 bis 20 Familien zwei Koordinatoren. Ein Mann und eine Frau. Neue Mitglieder oder Gruppen eines Lagers beginnen damit, ihre persönlichen Geschichten zu erzählen. Im späteren Verlauf treffen sie selbst ihre Entscheidung, wie sie das neue Leben aufbauen, welche Methoden sie anwenden. Der MST zufolge führt dies zum »Verständnis dafür, dass ihre Geschichten nicht individuell sind, und schafft eine Kollektivierung. Sie erkennen, dass ihre Geschichten die Geschichten der Klasse sind. Nach jeder Familiengeschichte nehmen sie wahr, dass unterschiedliche Geschichten im selben historischen Kontext zusammentreffen.« Auch bei der von uns besuchten Ausbildung wurde in Zehnergruppen dasselbe Prinzip angewendet. Das Thema unserer ersten NB-Versammlung war: »Was sind eurer Meinung nach die Dinge, die euer Leben geändert haben, die einen Wendepunkt darstellten?« Ich kann sagen, dieses erste Kennenlernen und die tiefgründigen Gespräche haben uns die Bedürfnisse der Gruppenmitglieder, ihre finanziellen und ideellen Mängel und ihnen bedeutende Dinge erkennen lassen.

Wenn die Zahl der Familien in den Lagern 100–500 erreicht, wird eine Einheit (Brigade) gebildet. Die Nukleare, also Kerngruppen, werden Teil der Einheiten, diese Teil der Regionen und diese wiederum Teil der Bundesstaaten. Die jeweiligen Koordinatoren werden von den Lagerbewohnern gewählt. Jeder Bundesstaat schlägt zwei Personen vor und vertritt innerhalb der MST die Region. Alle zwei Jahre wechseln sich die Personen ab. Es gibt keinen Vorsitzenden oder Leitenden und den allgemeinen Regeln entsprechend schickt jeder Bundesstaat jeweils eine Frau und einen Mann. Auf diese Art und Weise des Aufbaus des gesamten Organisationsgerüsts funktioniert der formierte Vorstand.

Innerhalb dieses allgemeinen Aufbaus wird die Arbeitsteilung, Sektoren genannt, durch die Aufgabenverteilung festgelegt. Alle Gruppenmitglieder müssen zur Gewährleistung der Sicherstellung einer Gemeinschaft auf gleichberechtigter und horizontaler Ebene Einsatz zeigen. Jede Gruppe und jedes Individuum, also die Lager, Siedlungen, politischen Kader der MST, Schulen usw., ist den festgelegten Unterschieden innerhalb der Sektoren gemäß zur Fortführung und zum Bestehen der Gemeinschaft verpflichtet.

Dieser kollektiven Form entsprechend, die in jeder Phase der gesellschaftlichen Organisierung angewendet wird, setzt sich eine Gemeinschaft aus neun Kommissionen (Sektoren) und vier Kollektiven zusammen. Die jeweilige nach dieser Form organisierte Arbeitsgruppe wird Sektor genannt. Somit sind alle Gruppenmitglieder auf irgendeine Weise in diesen Gruppen und tragen zur Ausführung bei.

Die Sektoren sind: politische Bildung, Kommunikation, Finanzen, Pädagogik, Widerstand (die Gruppe, die im Falle einer Besetzung oder zur Verteidigung in der vordersten Reihe steht), Menschenrechte, Geschlechtlichkeit, Gesundheit und Produktion (Korporation und Umwelt).
Als Kollektive festgelegt sind Kultur und Kunst, Jugend, internationale Beziehungen und Projekte.

Bis hierhin habe ich versucht, meine während der dort verbrachten Zeit erlangten Erkenntnisse über den allgemeinen Aufbau der Landlosenbewegung, ihre politischen Ziele, die Art der Organisierung der Arbeit und des Lebens zu veranschaulichen, die uns eigentlich im Studium und im Unterricht vermittelt wurden und in kleinen Büchlein stehen. Wenn man mit 31 Jahren daran denkt, dass Millionen Menschen organisiert sind und auf dem eigenen Kontinent ein wirksames Gebilde darstellen, dann könnt Ihr Euch vorstellen, dass es noch viel mehr zu erzählen gäbe. Ich habe auch die Absicht, dies weiterhin vorzustellen, aber Ihr habt sicher schon aus diesen Worten ein Gefühl für die Stärke dieses Gebildes gewonnen. Während der gesamten politischen Ausbildung wurde immer wieder gemahnt, dass einer der wichtigsten Grundsätze der Bewegung ist, nichts und niemandem zu erlauben, sich vor diese kollektive Ordnung zu stellen. Auch wenn die Person oder die Situation noch so sehr im Recht oder richtig sein sollte, so wäre die Gefahr, dem Kollektiv Schaden zuzufügen, weit größer als die Möglichkeit, ihm dienlich zu sein. Das bedeutet also, den Lauf der Zeit, des Wissens, der Aktion (essen, schlafen, aufstehen, arbeiten, ausruhen etc.) und insbesondere des Denkens mit derselben Geschwindigkeit und von den Kollektiven bestimmt zu praktizieren. Soweit ich während und im Anschluss meiner Ausbildungszeit beobachten konnte, entzieht sich einer Kritik diesem Ganzen gegenüber die Grundlage, weil uns eine Einheit gegenübersteht und deren Fortführung ein Grundsatz ist, so dass man in Beziehung mit diesem Teil steht. Das Gebilde und der gerechte Kampf stellen sich so vor das Individuum und die Erfahrungen, dass Emotionen, Gedanken und alle Fakten, die dem Ganzen Schaden zufügen könnten, ohne Weiteres verschluckt werden. Sehr viele Genossen, die wie ich aus neuen sozialen Bewegungen und Diskussionen kamen, hatten nach dem ersten Abschnitt der internationalen Ausbildung das Problem, ausgeschlossen worden zu sein, obwohl sie eingeladen worden waren, diese Erfahrungen zu teilen und zu fördern. Die gemeinsame Botschaft der Genossen, die während der Ausbildung als bourgeois, faul, launisch oder respektlos beschuldigt wurden, war am letzten Tag diese: »Wir sind nicht eure Feinde, wir sind eure Genossen!«

Unsere derzeitige Art und Weise des Bezugs zu den wenigen, aber vorhandenen Organisationen bewegt sich zwischen den unterschiedlichen politischen Ansichten, die von außen heraus angreifen, und den Lobgesängen der Aktivisten. Ich bin davon überzeugt, dass eine andere Art von Erfahrung und Geist möglich ist und dass unsere Distanzen einer Änderung bedürfen. Mein Geist und eine Ecke meines Gewissens sagen mir, dass auf diesem Landstrich, wo Armut und Hunger noch weit andere Dimensionen haben, diesen großen Mühen und unglaublichen Erfahrungen nicht trotzig begegnet, sondern zusammengegangen werden sollte, Distanzen verringert werden sollten, wir uns wandeln und verwandeln müssen.


 Fußnoten:

1 Movimento dos Trabalhadores Rurais Sem Terra – Bewegung der Landarbeiter ohne Boden

2 Seit meiner Parteimitgliedschaft ab 2011 und der Arbeit in einer Kommission dauern meine Versuche, Verbindungen aufzubauen, weiterhin an. Seither habe ich Aufgaben in Kommissionen der Kreisverwaltung und in anderen Bereichen übernommen.

3 http://jiyan.org/2015/08/05/topraksizlar-hareketinin-25-yil-kongresinden-turkiyeye-baris-cagrisi/

4 http://g1.globo.com/pr/norte-noroeste/noticia/2014/03/500-familias-sem-terra-ocupam-fazenda-no-norte-do-pr-diz-mst.html

5 http://www.incra.gov.br/%20,%20http://theredddesk.org/countries/actors/national-institute-colonisation-and-agrarian-reform-brazil

6 https://www.facebook.com/organicoslamarca/info?tab=page_info

7 João Pablo Rodriguez Chaves ist Mitglied der Nationalen Koordination, ein MSTler der zweiten Generation, und seine Familie lebt im Lager.

8 http://www.mstbrazil.org/news/mst-issues-statement-about-current-political-situation-agrarian-reform

9 Volksbildung: Das Wort »popular« wird im Portugiesischen landläufig mit der Bedeutung »Volk« benutzt. Daher wird es Worten wie Bildung, Widerstand und vielen weiteren angehängt zur Verdeutlichung der revolutionären Bedeutung von klassenlos, vertikal oder verbreitet.