Der Umgang mit den Zerstörungen in den nordkurdischen Städten

Auf den Spuren der nicht verlorenen Zeiten

Kerem Duruk, GABB (Bund der Gemeinden und Städte im Südosten)

Von August 2015 bis heute sind nun zehn Monate vergangen. Momentan haben wir den Juni 2016 und diese zehn Monate waren für die Kurdinnen und Kurden ein sehr langer Zeitraum, der nur langsam vorüberging. Unsere Städte werden zerstört und wenn wir zurückgehen und nach hinten blicken, dann sehen wir heftigen Widerstand, einen unbenannten Bürgerkrieg, ca. eine halbe Million Menschen, die flüchten mussten.

Die Opfer der Auseinandersetzungen zwischen dem türkischen Staat und den regionalen Milizen sind gravierend und es findet eine kollektive Bestrafung der KurdInnen, AssyrerInnen, AraberInnen, TurkmenInnen in der Region statt. Den Menschen werden rechtswidrige Ausgangssperren aufgezwungen und weil sie dann in der Folge nicht einmal mehr ihre Grundbedürfnisse decken können, verlassen sie ihre Häuser und werden zur Flucht getrieben. Die Ausgangssperre dauert in manchen Fällen mehrere Monate an, wie im Beispiel von Sûr 103 Tage oder in Cizîr (Cizre) 80 Tage. Stellen wir uns vor, dass in Europa oder anderswo die Menschen über Tage ihre Wohnungen nicht verlassen könnten, es sogar verboten wäre, den Kopf nach draußen zu strecken, und im Visier von Scharfschützen zu stehen. Dies würde wahrscheinlich zu einem Chaos und zu Protesten führen, die Regierungen stürzen würden. In der Türkei jedoch wird dieser Zustand unter dem Mantel »Kampf gegen den Terror« legitimiert und die Menschen werden in eine Lage versetzt, in der sie nicht mal ihre grundlegendsten Rechte wahrnehmen können.

Bisher waren im Südosten der Türkei fünfzehn Städte Schauplatz von Auseinandersetzungen. Und wenn man sich die zerstörten Städte anschaut, dann sieht man, dass dort eine ganz einfache Kosten-Nutzen-Kalkulation stattgefunden hat: Es wurden durch Granatbeschuss sogar tragende Wände und Kolonnen von Gebäuden komplett zerstört, wo es keine Auseinandersetzungen gegeben hatte. Der Sinn war einfach eine Berechnung darüber, ob man die Zerstörung mit einem Exkavator oder mit Granatbeschuss und den damit verbundenen gesellschaftlichen Reaktionen günstiger erreichen könne. So hat man sich die Gebäude zum Ziel genommen und zerstört. In der Region wurden während dieser Zeit ca. 50 000 Häuser und Wohnungen beschädigt. Wenn man bedenkt, dass jede Wohneinheit von durchschnittlich sechs bis acht Menschen bewohnt wird, ist eine nicht geringe Anzahl von Menschen nun obdachlos.

Zerstörtes GeverWir führen seit Oktober seitens der Vereinigten Gemeinden in Koordination mit TMMOB (Innung der türkischen IngenieurInnen und ArchitektInnen) Arbeiten zur Feststellung der angerichteten Schäden durch. Und andererseits archivieren wir die von unseren Mitgliedsgemeinden nach ihren Möglichkeiten durchgeführten Schadensberichte. Die archivierten Ergebnisse können der Tabelle unten entnommen werden.

Welche Rolle spielen die kommunalen EntscheidungsträgerInnen bei der Auseinandersetzung? Bei einer kurzen Recherche in dieser Hinsicht sieht man, dass die Gemeinden beim Wiederaufbau völlig außen vor gelassen werden. Was hat zum Beispiel die Gemeinde von Guernica im Baskenland getan, als dort im Spanischen Bürgerkrieg die Bomben fielen? Die Beantwortung dieser Frage ist nahezu unmöglich. In schweren Konflikten sind Kommunen immer die unsichtbaren Akteure.

Die Gemeinden stehen der örtlichen Bevölkerung als deren gewählte Vertretungen sehr nahe und übernehmen beim Wiederaufbau große Aufgaben. Es gibt Dienste wie Müllentsorgung, hygienische Reinigung, Trinkwasserversorgung und Kanalisation, die während der Auseinandersetzungen und der Ausgangssperre nicht ausgeführt werden konnten; die Infrastruktur für diese Dienste ist nun teilweise zerstört, ist jedoch für die Versorgung der Bevölkerung mit den elementarsten Bedürfnissen notwendig. Für die Wiederherstellung all dieser und anderer Dinge, wie der Schäden an der Umwelt, spielen die Gemeinden eine große Rolle. Weiterhin übernehmen sie die Versorgung der Bevölkerungsteile, die durch den Konflikt alles verloren haben und sich nicht mehr selbst versorgen können.

Der Konflikt zwischen den Kommunen und der Zentralregierung ist dieser Tage noch deutlicher hervorgetreten. In den zerstörten Städten werden die kommunalen Arbeiten wie Müllentsorgung und Aufrechterhaltung der Infrastruktur verboten und kriminalisiert. Das Personal der Gemeinden wird festgenommen und Arbeitsgeräte werden wahllos beschlagnahmt. Personal der Stadt Cizîr, das unterwegs war, um die Wasserversorgung wieder freizugeben, wurde festgenommen. In der Stadt Hezex (Idil) wurden Transporter, die für die Müllentsorgung angemietet worden waren, durch die Polizei beschlagnahmt. Diese und ähnliche Aktionen dienen dazu, die GemeindevertreterInnen zur Passivität zu zwingen und in den Augen der Bevölkerung als unfähig hinzustellen. Damit wird das große Bild deutlicher. Das eigentliche Ziel ist es, die Institutionen, die der Bevölkerung nahestehen, der Bevölkerung gehören, zu beseitigen und die Städte und Gemeinden nach eigenen Wünschen und Vorstellungen neu zu gestalten. Bisher wurden in der Region 21 gewählte Co-Vorsitzende und 37 gewählte Stadtratsmitglieder festgenommen und rechtswidrig ins Gefängnis gesteckt. Alle gewählten VolksvertreterInnen werden mit dem Vorwurf angeklagt, »TerroristInnen« zu sein. Hochgerechnet auf die 119 Gemeinden und Städte, die unserem Bund angehören, sind es ca. zwanzig Prozent aller gewählten VertreterInnen, die nun in den Gefängnissen sitzen.

Nach den bewaffneten Auseinandersetzungen in den Städten wurden in Silopiya und Sûr Notenteignungsgesetze veröffentlicht und damit wurde in unseren Städten mit dem Raubzug begonnen. So enthält einer der zehn Artikel des im Mai vom Staat veröffentlichten Terrorbekämpfungs-Masterplans für die Stadt Mêrdîn (Mardin) die Überschrift »Wiederbelebung der Lokalität«. Es ist ein historischer Fakt, dass der türkische Staat seit seiner Gründung bei der Durchführung und Beschleunigung der Identitäts- und Nationenbildung immer mit Siedlungspolitik gearbeitet hat. Auch als in den Neunzigern die kurdischen Dörfer entvölkert wurden, hatte man versucht, mit dieser Siedlungspolitik zu arbeiten. Und genau aus diesem Grunde dient die Enteignung nicht der Bevölkerung, sondern lediglich dem Staat und seinem sicherheitspolitischen Denken. In der Stadt Silopiya wurden ca. 3 200 Parzellen Land enteignet und davon 260 komplett zerstört und dem Erdboden gleichgemacht. Im Kreis Sûr wurden 6 300 Parzellen Land enteignet und ca. 300 Gebäude zerstört. Nach der Enteignung findet die Zerstörung unter der Koordination der Polizei ohne Anhörung oder rechtliche Verteidigungsmöglichkeit einfach weiter statt. Neben den allgemeinen Enteignungsentscheidungen wurden in der Region auch viele andere Plätze und Grundstücke mit sicherheitspolitischen Begründungen enteignet und es ist geplant, hier Polizeiwachen einzurichten. In Städten und Kreisen wie Elkê (Beytüşşebap), Cizîr, Silopiya, Sûr und Bağlar wurden Krankenhäuser, Schulen und Internate abgerissen, um Polizeistationen aufzubauen.

Der letzte Punkt, auf den wir noch eingehen können, betrifft das kulturelle Erbe. Der Kreis Sûr und die sich direkt daran anschließenden Hevsel-Gärten wurden im Juli 2015 zum UNESCO-Weltkulturerbe erhoben. Ähnlich wurden die Herrenhäuser in Farqîn (Silvan) und Cizîr zum Kulturerbe erklärt. Doch während der Auseinandersetzungen wurden all diese Plätze und Gebäude stark beschädigt und als Militärquartiere missbraucht.

Der GABB (Bund der Gemeinden und Städte im Südosten) ist bereit, gemeinsam mit den Gemeinden und Städten das Leben in den zerstörten Gebieten wiederaufzubauen. Die beste Antwort, die gegen all diese Zerstörung gegeben werden kann, ist es, die kommunalen Strukturen zu stärken, ihre Rolle in der neuen Phase klarer hervorzuheben, den Menschen in ihrem Kampf für ihre Rechte beizustehen und die Erinnerung an diese Geschehnisse zu bewahren. Unser Ziel als Bund ist es, diese Zeiten als nicht verlorengegangen zu betrachten und sie in der Geschichte zu verzeichnen.

Der Umgang mit den Zerstörungen in den nordkurdischen Städten