AKP-Regierung weitet Zensur- und Einschüchterungspolitik nach Europa aus

Hassexport nach Deutschland

Elmar Millich

Eigentlich könnte der deutsche Botschafter in Ankara, Martin Erdmann, ein Gästezimmer im türkischen Außenministerium anmieten, so oft wird er mittlerweile dorthin einbestellt, um Proteste der türkischen Regierung entgegenzunehmen. Während in der Türkei Medien und Kulturbetrieb nicht zuletzt durch über 1 800 Anzeigen des türkischen Präsidenten Erdoğan eingeschüchtert und gleichgeschaltet sind, versucht die Türkei, diese politische Zensur zunehmend auch in Deutschland und ganz Europa durchzusetzen. Zum Teil leider mit Erfolg, da sich die EU und vor allem die deutsche Bundeskanzlerin Angela Merkel durch den Flüchtlings­deal in eine starke Abhängigkeit von der Türkei begeben haben.

Demonstration am 10.4. in Hamburg gegen türkische Nationalisten. Foto: ABMoniert wurde im Februar u. a. eine Handreichung für Lehrer*innen zum Völkermord an den Armenier*innen, in der in einer Karikatur der türkische Präsident über Totenköpfe geht. Ebenfalls einbestellt wurde der Botschafter wegen eines Satireliedes in der NDR-Sendung »extra 3«, in dem Erdoğan vorgeworfen wird, Journalist*innen einzusperren und Kurd*innen zu bombardieren. Zeigte sich die Bundesregierung in diesem Fall noch tapfer auf der Seite der Medien- und Kunstfreiheit, knickte sie im bekannten Fall Böhmermann komplett ein. Anlass bot eine »Schmähkritik« Böhmermanns als Beispiel dafür, was strafrechtlich nicht erlaubt sei. Nach ersten Interventionen nahm das für den Beitrag verantwortliche ZDF diesen umgehend aus seiner Mediathek. Bundeskanzlerin Merkel beeilte sich, dem türkischen Ministerpräsidenten Davutoğlu zu versichern, wie geschmacklos der Beitrag sei. Als Erdoğan über deutsche Anwält*innen Strafantrag wegen Beleidigung eines ausländischen Staatsoberhauptes nach § 103 StGB stellte, gab die Bundesregierung diesem Antrag nach zweiwöchigem Hin und Her statt. Von der Piratenpartei in Berlin geplante Proteste vor der türkischen Botschaft wollte die Polizei teilweise komplett verbieten unter Verweis auf mögliche Verstöße gegen den zitierten Paragraphen.

Dass diese Art von Einschüchterung systematischer Natur ist, zeigt das Vorgehen des türkischen Botschafters in den Niederlanden. Er forderte seine Landsleute im April in einer Rund-Mail an Vertreter*innen verschiedener türkischer Organisationen und Vereine dazu auf, an eine offizielle E-Mail-Adresse all jene Personen zu melden, die sich über Erdoğan oder auch nur die Türkei allgemein abfällig oder beleidigend geäußert hätten. Auch soziale Netzwerke sollten nach Beleidigungen durchforstet und mit Namen und Link weitergeleitet werden.

Auf europäischer Ebene machte die Türkei Druck gegen das Konzertprojekt »Aghet« der Dresdner Sinfoniker*innen zum Genozid an den Armenier*innen vor hundert Jahren. Ihr EU-Botschafter verlangte, dass die Europäische Union die Förderung für die internationale Produktion einstellt. Die zuständige Exekutivagentur für Bildung, Audiovisuelles und Kultur bei der EU-Kommission entfernte daraufhin die Informationen zu »Aghet« von ihrer Internetseite. Die Brüsseler EU-Kommission bestätigte, dass der Text von der Website entfernt wurde. Es habe Bedenken gegeben bezüglich der Wortwahl. Demnächst würde eine neue Projektbeschreibung veröffentlicht werden.

Facebook zensiert prokurdische Beiträge

Doch nicht nur europäische Regierungen, sondern auch internationale Internetkonzerne sollen unter Druck gesetzt werden, türkische Standards bei der Berichterstattung zu kritischen Themen zu akzeptieren. Regelmäßig zensiert werden insbesondere Facebook-Seiten kurdischer Organisationen wie die des Verbandes der Studierenden aus Kurdistan, YXK. Der Nachrichtenseite »Kurdische Nachrichten – Nûce« droht aufgrund massiver Sperrungen nach Angaben ihrer Administratoren sogar das Aus. Mit über 100 000 Abonnent*innen ist die Seite angesichts des eskalierenden Krieges in der Osttürkei ein wichtiges Medium der Gegeninformation. Interne Anweisungen an Facebook-Mitarbeiter*innen, die 2012 über einen Whistleblower bekannt wurden, beinhalten die Zensur aller Beiträge, die sich etwa positiv auf die PKK beziehen oder entsprechende Symbole beinhalten würden.

Aber auch in der Türkei selbst werden europäische Politiker*innen und Journalist*innen unter Druck gesetzt. Der deutsche Botschafter wurde zum dritten Mal für dieses Jahr in das Außenministerium einbestellt, weil er neben anderen europäischen Diplomat*innen am Prozess gegen die Journalisten der Cumhuriyet Can Dündar und Erdem Gül teilgenommen hatte. Hintergrund der Anklage ist ein Bericht der Cumhuriyet aus dem vergangenen Jahr über Waffenlieferungen der Türkei an den Islamischen Staat in Syrien. Erdoğan hatte direkt im Anschluss an den Bericht den Journalisten mit Repressalien gedroht. Inzwischen sind sie erstinstanzlich wegen des Verrats von Staatsgeheimnissen zu fünf Jahren Haft verurteilt. Präsident Erdoğan reagierte auf die Teilnahme der Diplomat*innen an dem Prozess mit einem Wutausbruch: »Diplomatie unterliegt einem gewissen Anstand und Umgangsformen. Das ist nicht euer Land. Das ist die Türkei.«

Zudem wird deutschen Journalist*innen zunehmend ohne Begründung die Einreise in die Türkei verweigert. Am bekanntesten ist das Beispiel des ARD-Korrespondenten Volker Schwenk, der im April über das türkisch-syrische Grenzgebiet berichten wollte. Er wurde ohne Begründung mehrere Stunden am Flughafen festgehalten und musste unverrichteter Dinge wieder umkehren. Schwenk hatte in der Vergangenheit auch aus Nordsyrien berichtet. Dies war der Türkei wohl ein Dorn im Auge. Die Deutsche Journalistinnen- und Journalisten-Union (dju) kritisierte »ein frag- und kritikwürdiges Verständnis von Presse- und Informationsfreiheit« in der Türkei. Der Deutsche Journalisten-Verband (DJV) bezeichnete das Einreiseverbot als »Schikane«. Nun räche sich »das Entgegenkommen von Bundeskanzlerin Angela Merkel im Fall Böhmermann gegenüber dem türkischen Präsidenten Erdoğan«. In den kurdischen Gebieten werden Journalist*innen von den Sicherheitsbehörden eingeschüchtert bis hin zu Todesdrohungen und massiv an ihrer Arbeit gehindert.

Von besonderer Gefährlichkeit ist der Versuch der AKP-Regierung, die in der Türkei vorherrschende Hass- und Pogromstimmung gegen Kurd*innen und Andersdenkende nach Deutschland zu exportieren. Eine bisher unbekannte »Initiative Friedensmarsch für die Türkei – AYTK« (Europäisches Neues Türkisches Komitee – Avrupa Yeni Türkler Komitesi) hatte angekündigt, in mehreren deutschen Großstädten am 10. April 2016 Demonstrationen durchzuführen, die offensichtlich von der AKP-Regierung zentralgesteuert wurden. Auch wenn die Demonstrationen nur in wenigen Städten mit geringer Teilnehmer*innenzahl tatsächlich stattfanden, darf die davon ausgehende Gefahr nicht unterschätzt werden. Hierzu aus einem Aufruf türkischer und kurdischer linker Zusammenschlüsse:

»Das AKP-Regime instrumentalisiert die Versammlungsfreiheit in Deutschland für ihre nationalistische Propaganda und Demagogie. Zu gleicher Zeit werden auch in türkischen Städten mit der gleichen Losung Massendemonstrationen vorbereitet. Wir haben die Befürchtung, dass sowohl in der Türkei als auch hier in Deutschland Stimmung gegen kurdische und linke türkische Vereine gemacht wird und Pogrome stattfinden.

Es ist ein offenes Geheimnis, dass der türkische Staat seit Jahrzehnten in Deutschland und in Europa geheimdienstlich, organisatorisch und propagandistisch tätig ist. Wie in der Vergangenheit ist es nicht auszuschließen, dass während oder nach diesen Demonstrationen Angriffe gegen Demokraten gestartet und Ausschreitungen provoziert werden. Das AKP-Regime scheint entschlossen zu sein, seinen schmutzigen Krieg nach Deutschland zu übertragen und hier die öffentliche Ordnung und Sicherheit für ihre Zwecke zu gefährden.«

Gesteigert wurden die Aktivitäten der AKP in Deutschland noch im Vorfeld der Armenier*innen-Resolution des Deutschen Bundestages. Schon im Vorfeld fanden in Berlin zwei hasserfüllte Demonstrationen mit ca. 3 000 Teilnehmer*innen aus dem nationalistisch-islamistischen Spektrum statt. Vor allem auf türkischstämmige Abgeordnete wurde massiver Druck ausgeübt, gegen die Resolution zu stimmen. Als die Resolution schließlich verabschiedet wurde, verlangte Präsident Erdoğan bekanntlich Bluttests für diese Abgeordneten, um nachzuweisen, dass ihnen irgendwie ein ominöses Türk*innen-Gen fehle. Die Abgeordneten selbst wurden über die sozialen Netzwerke dermaßen beschimpft und bedroht, dass teilweise Polizeischutz angefordert werden musste.

Und die deutsche Bundesregierung? Sie scheut mehrheitlich klare Worte, um den schmutzigen Flüchtlingsdeal nicht zu gefährden. Oft bemüht Regierungssprecher Seibert die diplomatisch weichesten Formulierungen wie »Die deutsche Bundesregierung beobachtet gewisse Entwicklungen mit Sorge«. An der Abstimmung über die Armenier*innen-Resolution nahmen weder die Bundeskanzlerin teil noch SPD-Vorsitzender Sigmar Gabriel oder Außenminister Frank-Walter Steinmeier aus Angst, der Sultan in Ankara könne verärgert sein. Um inländischer Kritik an zu großer Nachgiebigkeit gegenüber Präsident Erdoğan zu entgehen, organisierte Bundeskanzlerin Angela Merkel im Mai am Vorabend einer UNO-Konferenz in Antalya ein Alibitreffen mit türkischen Menschenrechtsvertreter*innen. Dabei waren allerdings keine direkt verfolgten Journalist*innen geschweige denn Abgeordnete der HDP, denen wenige Tage zuvor die Immunität entzogen worden war. Ausdrücklich bestätigte Merkel bei der Konferenz gegenüber Erdoğan, dass auch die BRD die PKK als terroristische Organisation betrachte. Ein Freifahrtschein für weitere Massaker an der Zivilbevölkerung in Kurdistan.