Nur digital | Aslı Erdoğan, verhaftete Özgür-Gündem-Mitarbeiterin

Vergesst mich nicht und meine Bücher – sie sind meine Kinder

Susanne Roden

Es war im August 2009, als ich mal wieder vor dem Literaturregal in der öffentlichen Bibliothek die Neuzugänge aus der Türkei in deutscher Sprache sichtete und auf das Buch »Der wundersame Mandarin« von Aslı Erdoğan stieß. Türkisch kann ich nicht; das wollte ich aus politischen Gründen auch nicht lernen. Als Vorstandsmitglied im Înstîtûta kurdî ji bo Lêkolîn û Zanist (Kurdisches Institut für Wissenschaft und Forschung e. V.) und der vollen Überzeugung, dass die kurdische Sprache zumindest außerhalb der Türkei gefördert werden sollte und nicht das gegen die kurdische Muttersprache zur Zwangsassimilierung und Aufgabe der kurdischen Identität eingesetzte Türkisch. Das Buch »Der wundersame Mandarin« (Originaltitel: Mucizevi Mandarin, 1996), eine Bündelung von Geschichten und Prosadichtung, weckte mein Interesse. Die erste Übersetzung erfolgte erst zehn Jahre später bei Actes Sud in Frankreich unter dem Titel »Le mandarin miraculeux«.Istanbul: Mahnwache für die Freilassung inhaftierter SchriftstellerInnen. | Foto: DIHA

Aslı Erdoğan betonte in einem mit Thomas Wedmann für 3sat-Kulturzeit geführten Interview im September 2008, dass niemand einen Rio-de-Janeiro--Roman über den Tod, von einer Türkin geschrieben, habe veröffentlichen wollen. »Kein Bedarf!«, hieß es seinerzeit. Aber es gehe ja gar nicht um Rio.1

»Es ist eine Geschichte über den Tod. Und der Tod ist ein Thema, das ich genauso gut wie ein deutscher Autor behandeln kann. Ich bin schließlich nicht unsterblich, weil ich Türkin bin. Aber dahinter steckt diese arrogante Haltung: So existenzielle Themen wie der Tod sind nichts für dich, darüber schreiben wir und zwar besser als du. Schreib› du lieber über dein kleines Dorf, die Probleme türkischer Frauen und so etwas.«1

Spätestens an dieser Stelle fühle ich mich ertappt; hatte ich mich doch nach dem Klappentext und der Kurzbiographie aus dem Unionsverlag dazu verleiten lassen, nicht über einen Roman einer türkischen Karrierefrau schreiben zu wollen. »Der wundersame Mandarin« hatte mir gut gefallen, aber Rio? – Sie hatte ja offenbar ohne Probleme ein Visum für die Reise erhalten.

Es sind die Bilder und Vorurteile, die wir in uns tragen. Ich musste meine Einschätzung revidieren und genau deshalb wollte ich über Aslı Erdoğan schreiben, die nun wegen ihres engagierten Einsatzes, ihres Nichtschweigens im Gefängnis sitzt, gemeinsam mit Menschen, die wie sie nicht geschwiegen haben zu den Maßnahmen der AKP-Regierung gegen die eigene Bevölkerung.

Man muss eben auch bedenken, dass die beiden Übersetzungen ihrer Bücher ins Deutsche im Rahmen einer Porträt-Reihe im Vorfeld der Frankfurter Buchmesse 2008 mit dem Gastland Türkei unter dem Motto »Türkei, faszinierend farbig« durch das TEDA-Projekt gefördert wurden. TEDA war 2005 vom Ministerium für Kultur und Tourismus der Republik Türkei gegründet worden, mit dem Ziel, Übersetzungen türkischer Werke in andere Sprachen durch Verlagshäuser in aller Welt zu fördern.

Und so ist es zu erklären, dass 2008 sowohl »Der wundersame Mandarin« als auch »Die Stadt mit der roten Pelerine« passgenau zu den Buchmessen Leipzig und Frankfurt in deutscher Sprache vorlagen.

Buchproduktionen, Übersetzungen kosten Geld und wenn der Verlag skeptisch ist, was den späteren Verkauf angeht, dann ist »kein Bedarf«; taucht ein Sponsor auf, ist man bereit. Und vor dem Hintergrund gibt sich der Unionsverlag auch sehr vorsichtig, was die Formulierungen in der Biographie Aslı Erdoğans angeht: Unter »Türkische Bibliothek« findet man nur einen Zweizeiler über die jüngsten Geschehnisse: »Als Kolumnistin und Beiratsmitglied der kurdischen Tageszeitung Özgür Gündem wurde sie im August 2016 in Istanbul verhaftet.«2

Sie hat ihre Zeit als Physikerin am Kernforschungszentrum CERN von 1991 bis 1993 nur überstanden, weil sie meist über 14 Stunden Labor in der Nacht mit Schreiben kompensiert hat. Sie wurde diskriminiert von den männlichen Kollegen und ist dann wieder zurück in Istanbul in ein afrikanisches Ghetto gezogen. Dort war sie schockiert von den rassistischen Übergriffen, sie wurde bespuckt und beleidigt, überlebte eine tödliche Messerattacke auf einen Mitbewohner nur knapp. Selbst ihre linken Freunde wollten es nicht glauben. Die Angst um das eigene Überleben führte zur Flucht nach Brasilien.

Sie beschreibt diese Zeit in der vom »KulturForum TürkeiDeutschland« erstellten Dokumentarfilmserie »Menschenlandschaften. Sechs Autorenportraits der Türkei, Aslı Erdoğan: Grenzgängerin zwischen Himmel und Tod«.3

Es gibt immer zwei Seiten einer Medaille, so auch hier. Mal liest man, sie sei nach einer Assistenzstelle an der Bosporus-Universität 1994 einer Anstellung an der Päpstlichen Universität in Rio de Janeiro gefolgt und dort bis 1995 geblieben, ein anderes Mal, sie habe sich wegen des Drucks auf ihre Person in der Türkei dorthin in Sicherheit gebracht. 1996 kehrte sie schwer krank nach Istanbul zurück. Erst nach ihrer Rückkehr schrieb sie »Die Stadt mit der roten Pelerine«, und zwar aus dem Gedächtnis, mit der Hand auf Papier – ohne sich irgendwelche Notizen zuvor gemacht zu haben, als sie noch in Rio de Janeiro gewesen war.

Von 1998 bis 2000 arbeitete sie als Kolumnistin bei der Tageszeitung Radikal und veröffentlichte unter der Kolumne »Der Andere« Kurzgeschichten, Prosa sowie Texte zu kontroversen Themen wie den Bedingungen in den Gefängnissen, Folter, Gewalt gegen Frauen, Kurdenrechten, unterstützte hungerstreikende Gefangene und hielt Kontakt auch zu jenen, die lebenslänglich hatten. Eine Zusammenfassung dieser Texte veröffentlichte sie 2000 unter dem Titel »Wenn eine Reise endet«, was ihr sowohl Popularität als auch mächtigen Ärger einbrachte. Wie sie in einem Interview erzählte, zog eines Tages Polizei vor ihrem Haus auf und versuchte sie zu schikanieren. Sie wurde 2001 dann von Radikal per Telefon gekündigt.

Sie ging erneut ins Ausland, Sarajevo, Heinrich-Böll-Haus in Lüneburg, Wien, Zürich, und lernte einen Überlebenden von Auschwitz kennen. Sie verarbeitete die Gespräche in dem Gedicht »Licht und Dunkelheit« und will sich in Erinnerung an die Praxis der Nazis, den KZ-Insassen eine Nummer einzutätowieren, nach ihrer Entlassung (sofern sie entlassen wird) am Handgelenk 16816 – das Datum ihrer Festnahme war der 16.08.2016 – in die Haut stechen lassen.

Nach der Ermordung von Hrant Dink 2007 veröffentlichte sie einen Nachruf in Radikal. Aufgrund ihrer journalistischen Tätigkeit sah sie sich jedoch noch stärkerem Druck ausgesetzt. Sie engagierte sich auch nach ihrer Rückkehr nach Istanbul 2008 weiter journalistisch für die Kurden, politisch Inhaftierte und für Frauenrechte. 2008 unterzeichnete sie als eine der ersten Intellektuellen eine Entschuldigung an die Armenier wegen des Völkermords.

2010 wurde sie erneut um Mitarbeit bei Radikal gebeten und fünf Monate später wieder per Telefon gekündigt. Dann begann sie 2011 aus politischem und menschlichem Interesse für die prokurdische Tageszeitung Özgür Gündem zu schreiben, bei der sie auch Mitglied des beratenden Gremiums war.

Durch ein Stipendium fand sie vorübergehend eine Bleibe in Zürich, war dort von Dezember 2011 bis Mai 2012 als »Writer in Residence«.4 In einem mit der NZZ geführten Gespräch aus der damaligen Zeit erklärte sie, dass sie ein wenig zur Ruhe gekommen wäre, nur schlafen könne sie nicht. Diese Furcht, in der Nacht verhaftet zu werden, das habe sie aus der Türkei mitgebracht. Auch deutete sie an, aus einer früheren Verhaftung physische Schäden davongetragen zu haben.5

Im Anschluss an ihren Aufenthalt in Zürich bot sich die Stadt Graz mit einer Stelle als Asylschreiberin an. Obwohl sie keine Auflagen hatte, etwas zu veröffentlichen, schrieb sie ein neues autobiographisch geprägtes Buch, »Nachtzug nach Graz«. Sie blieb von August 2012 bis Sommer 2013. Der Bürgermeister von Graz hat kurz nach ihrer Verhaftung im August an die türkische Botschaft in Österreich geschrieben und seine Besorgnis geäußert, um genaue Informationen gebeten und erklärt, dass Aslı Erdoğan jederzeit wieder das Gastrecht in seiner Stadt beanspruchen dürfe.

Özgür Gündem wurde im Zuge der politischen Säuberungsmaßnahmen am 16.08.2016 staatsanwaltschaftlich verboten und es folgte die Verhaftung von zunächst 24 Journalisten. Dazu gehörte auch ein weiteres Mitglied des Beirats, die 70-jährige Necmiye Alpay. Aslı Erdoğan wurde nach eigenen Angaben in ihrer Wohnung von ca. 30–40 Polizisten mit vorgehaltener Waffe festgenommen, die Durchsuchung dauerte 5 Stunden, da 3.000 Bücher durchsucht wurden. Es wurden alle Übersetzungen ihrer Bücher, Handnotizen mitgenommen und teilweise unwiederbringlich zerstört.6 Sie wurde zunächst auf eine Polizeistation gebracht und saß dann in einer Einzelzelle in Untersuchungshaft im Frauengefängnis Istanbul-Bakırköy. Während dieser fünf Tage wurden ihr ausreichend Wasser und Medikamente für ihre Krankheiten verweigert. Ebenfalls der Gang an die frische Luft. Sie muss eine strenge Diabetes-Diät einhalten und darf nur Joghurt essen. Sie werde durch diese Misshandlung dauerhafte körperliche Schäden davontragen. Ihr Bett war voll altem Urin.6
Am 19.08. wurde sie dem Haftrichter vorgeführt. Zu dem Zeitpunkt sei sie noch zuversichtlich gewesen, glaubte fest, frei gelassen zu werden. Als der Staatsanwalt dann die Inhaftierung beantragte, war es ein Schock für sie und ihren Anwalt. Dann merkte sie, dass sie auf Anordnung von oben verhaftet worden war und das Verfahren mit Recht nichts zu tun hat. Ihr wurde klar, dass sie gegen kein Gesetz verstoßen hatte. Die Anklage lautet auf »Volksverhetzung«, »Propaganda für eine illegale Organisation«, »Mitgliedschaft bei einer illegalen Organisation« und »versuchte Zerstörung des türkischen Staates«..6 Einige Tage nach der Festnahme gelang es Kollegen der Zeitung Cumhuriyet über Mittelsmänner einen Brief von ihr aus dem Gefängnis zu schmuggeln.6

Es gab sofort Mahnwachen von Kollegen, Gewerkschaftlern, Menschenrechtlern, Politikern und Kollegen vor dem Gefängnis. Es sind sich alle einig: Die Botschaft lautet, so kann es Euch auch ergehen, wenn Ihr Euch für den Frieden mit den Kurden einsetzt. Die Kurden sollen offenbar vom Rest der Gesellschaft isoliert werden.

Es hat sich eine Vielzahl von Initiativen und Protestaktionen entwickelt. Die erste Initiative ging von Frankreich aus, wo die französischen Schriftsteller Patrick Deville und Olivier Rolin die sofortige Freilassung Aslı Erdoğans forderten sowie die »totale Meinungsfreiheit für alle Schriftsteller überall in der Welt«. Ihre Petition wurde in Libération publiziert. Laut FAZ vom 31.08.2016 forderte der Deutsche Journalisten-Verband DJV die Bundesregierung unterdessen auf, politisch verfolgten Journalisten aus der Türkei Asyl anzubieten.7

Es gibt eine Kampagne auf der Protest-Plattform change.org.8 Auch PEN International9 sowie viele lateinamerikanische Autoren unterstützen den Aufruf, Günter Wallraff engagierte sich für eine Freilassung zusammen mit dem Kölner KulturForum TürkeiDeutschland.10

Zur Solidarität mit der Tageszeitung Özgür Gündem und ihren verhafteten oder schikanierten Journalisten Ragıp Zarakolu, Aslı Erdoğan, Eren Keskin und Filiz Koçali ruft auch die Refugee Movement in ihrem Newsletter vom August auf. Eren Keskin und Filiz Koçali waren nicht zu Hause, als die Polizei kam. Ragıp Zarakolu war unter der Adresse seines Sohnes registriert, der auch nicht anwesend war. Sie brachen in die Wohnung ein und beschlagnahmten seine Bücher über Armenien, Pontus und den Assyrien-Genozid.11

Und Aslı Erdoğan? Freunde von ihr, unter ihnen die Schriftsteller Murathan Mungan und Burhan Sönmez, haben eine Unterschriftenkampagne für ihre Freilassung gestartet. Im Gespräch mit der FAZ in Frankfurt 2008 sagte Aslı Erdoğan, dass sie viel über die Zustände in den Gefängnissen schreibe, weil sie dort sein wolle, wo die menschlichsten Tragödien am dunkelsten sind: »Denn dort herrscht die größte Stille.«12

Einige Prominente aus dem Kunst- und Kulturbetrieb in der Türkei ließen sich mit einem Satz auf Türkisch abbilden: »Wenn Aslı Erdoğan drinnen ist, ist keiner von uns draußen.«10

Fußnoten:
(1) 18.09.2008, Thomas Wedmann für 3sat-Kulturzeit; http://www.3sat.de/dynamic/sitegen/bin/sitegen.php?tab=2&source=/kulturzeit/lesezeit/126359/index.html (jetzt nicht mehr abrufbar)
(2) http://www.unionsverlag.com/info/person.asp?pers_id=1762
(3) http://www.das-kulturforum.de/archiv/menschenlandschaften/
(4) http://www.writers-in-residence.ch/de/home/asli_erdogan
(5) http://www.nzz.ch/ein-heim-in-der-fremde-1.14864717
(6) Brief aus dem Gefängnis: http://www.srf.ch/content/download/10916183/123087898/version/1/file/Originalbrief+von+Asli+Erdogan.pdf; http://www.srf.ch/content/download/10916188/123087908/version/2/file/Deutsche+%C3%9Cbersetzung+Brief+aus+dem+Gefaengnis.pdf
(7) http://www.faz.net/aktuell/feuilleton/debatten/journalisten-schriftsteller-fordern-asli-erdogans-freiheit-14414468.html
(8) https://www.change.org/p/asl%C4%B1-erdo%C4%9Fan-derhal-serbest-b%C4%B1rak%C4%B1ls%C4%B1n
https://angeschwemmt.wordpress.com/2016/08/20/petition-asli-erdogan/
(9) http://www.pen-international.org/newsitems/turkey-writer-human-rights-activist-asli-erdogan-held-on-terror-charges/
pen.org/defending-writers/asli-erdogan
(10) http://www.tagesspiegel.de/kultur/tuerkische-autorin-asl-erdoan-in-haft-zur-terroristin-gemacht/14488534.html
(11) http://oplatz.net/solidarity-with-daily-ozgur-gundem-and-its-detained-or-harassed-journalists/
(12) http://www.faz.net/aktuell/feuilleton/debatten/zur-verhaftung-der-schriftstellerin-asli-erdogan-in-der-tuerkei-14394973-p2.html