Aus dem Gefängnis in die freien Berge – eine Geschichte von Ausbrüchen

Die Freiheit organisieren

Doğan Çetin, Yeni Özgür Politika

Viele träumen ein Leben lang von der Freiheit. Doch sie bleibt ein Traum. Andere hingegen träumen von der Freiheit, organisieren sich und kämpfen gemeinsam um sie. Sie können scheitern, aber wenn sie nach einer erlittenen Niederlage nicht aufgeben, sondern erneut aufstehen, dann werden sie eines Tages auch erfolgreich sein. Am 24. September 2013 flüchteten 18 PKK-Gefangene aus dem Gefängnis von Çewlîg (Bingöl). Auf dem Weg in die Berge wurden 17 von ihnen erneut verhaftet. Anschließend wurden sie in verschiedene Gefängnisse strafverlegt, drei von ihnen, Devrim Kavak, Diyar Kaydu und Osman Kılıç, ins Gefängnis von Wan (Van), nach einer Weile dann nach Amed (Diyarbakır), in ein Hochsicherheitsgefängnis. Dort machten sie sich erneut ans Werk. Am Abend des 5. März 2016 gelang ihnen mit drei weiteren Genossen, Ramazan Aslan, Ulaş Arslan und Beşir Arıgök, die Flucht. Die Jahre im Gefängnis vergingen für sie mit harter Arbeit, aber es zahlte sich aus. Heute sind sie in den Bergen, in Freiheit. In einem Interview mit Yeni Özgür Politika berichteten drei von ihnen, Osman Kılıç, Devrim Kavak und Diyar Kaydu, von ihrem Widerstand in den Gefängnissen von Çewlîg und Amed. Der folgende Text basiert auf dem Interview und erzählt die Geschichte ihrer einmaligen Flucht.

Devrim Kavak, Diyar Kaydu und Osman KılıçDevrim Kavak, Diyar Kaydu und Osman Kılıç waren zum Zeitpunkt ihrer Flucht erst wenige Jahre im Gefängnis. Sie gehörten der PKK an und verfügten über unterschiedliche Erfahrungen in der Guerilla. Der Traum eines jeden Gefangenen ist es auszubrechen. Umso mehr, wenn die Haftstrafe lang ist, gar lebenslänglich – und das war sie. Lebenslänglich bedeutet in der Türkei tatsächlich ein Leben lang. Jetzt waren sie im Gefängnis, aber auch dort setzten sie ihren Kampf um die Freiheit fort. Ihr Kampf hatte sich nicht geändert, nur die Bedingungen, unter denen er stattfand.

Der Tunnel in die Freiheit – ein lanwieriges Unterfangen

Bevor die drei nach Çewlîg verlegt wurden, hatte es in dem Gefängnis schon einmal Diskussionen gegeben, einen Tunnel zu graben. Allein, es blieb bei der Diskussion, praktische Schritte folgten nicht. Als die drei 2012 ins Gefängnis von Çewlîg kamen, war selbst die Diskussion darüber Geschichte. Einige Monate später flammte sie jedoch erneut auf. Draußen hatte sich ein starker Widerstand erhoben, nach schwerer Repression des türkischen Staates hatten die Volksverteidigungskräfte (HPG) im Norden Kurdistans ihre 1.-Juli-Offensive gestartet, und die Genossen in den Gefängnissen fragten sich, wie sie den Widerstand auch unter ihren jetzigen Bedingungen unterstützen könnten. So war also nicht nur die Frage, wer flüchtet – das will jeder –, sondern wer draußen auch etwas bewirken kann. Die Auswahl der Beteiligten richtete sich also danach. Zu dem Zeitpunkt ahnte noch keiner, wie langwierig das Unterfangen werden würde. In der Zwischenzeit kam es auch zu Zwangsverlegungen, so dass die ursprünglich für die Flucht Vorgesehenen ausfielen und statt ihrer andere mit einbezogen wurden.
Der Plan war, einen Tunnel in die Freiheit zu graben. Über die Mauern oder das Dach zu türmen schien unmöglich, so blieb ihnen nur der Tunnel. Die ersten Arbeiten begannen in Zelle 6. Zum Zeitpunkt des Beginns der Arbeiten war Osman Kılıç in besagter Zelle, die anderen stießen erst später dazu. Begonnen wurde in der Küche beim Kühlschrank. Der war fest montiert. Aber unter dem Boden, unter dem Beton, war eine andere Schicht. Werkzeug besaßen sie keins. Es gab nur ein Kartoffelschälmesser, und auch das erhalten Gefangene nur mit abgebrochener Spitze. Mit Hilfe dieses zerbrochenen Messers wurde der Beton aufgekratzt. Wechselschichtig wurde nun täglich am Beton geritzt. Ein mühseliges Unterfangen, löste sich doch immer nur etwas Staub. Und es war nicht einmal klar, ob es überhaupt machbar sein würde, den Beton mittels eines abgebrochenen Messers durchstoßen zu können. Sie waren zu acht in der Zelle, je zwei arbeiteten in vier Schichten. Zuletzt waren auf zwei Seiten Schnitte von zwei bzw. drei Fingerbreit entstanden.

Zwei Monate harter Arbeit lagen hinter ihnen und das entstandene Loch war eng. So eng, dass nicht jeder hindurchpassen würde. Nur die ganz Schlanken. Da die Zellen über ihnen nichts von ihrem Tun wussten, mussten sie bei der Arbeit sehr bedachtsam und leise vorgehen, auch durfte ja das Wachpersonal nicht aufmerksam werden. Damit die nicht eingeweihten Zellengenossen und das Wachpersonal nichts mitbekommen konnten, wurde nur abends ab 20 Uhr bis morgens um 4 Uhr gearbeitet. Wer am Tunnel arbeitet, sieht danach auch so aus. Es galt, die Spuren zu tilgen. Das heißt, zuerst musste man ins Bad, um die Spuren der Arbeit abzuwaschen. Auch Spuren in der Umgebung galt es sorgfältigst zu verbergen, die Küche musste immer blitzsauber gehalten werden. Damit es nicht auffiel, wurde die verschmutzte Kleidung auch nicht draußen im Hof getrocknet. Wer am Tunnel arbeitete, konnte sich auch nicht nach getanem Werk tagsüber ausruhen. Sie mussten am Tagesgeschehen so weit als möglich teilnehmen, um nicht aufzufallen. Um den Geruch zu überdecken, der aus dem Tunnel trat und der im Sommer noch schwerer in der Luft lag, versprühten sie Raumspray, Parfüm u. Ä.

Doch das größte Problem, wenn man einen Tunnel gräbt, ist: Wo bleibt man mit so viel Erde? Wie versteckt man sie, so dass sie nicht bemerkt wird? Der Tunnelbau begann wie gesagt in Zelle 6. Aber schon nach kurzer Zeit war klar, um die Arbeit zu bewältigen, mussten sie mehr werden. So musste ein Zugang zu einer weiteren Zelle hergestellt werden. Nach dem sechsten Monat nach Beginn der Arbeiten wurde ein Durchgang zu Zelle 5 geschaffen, womit diese in die Arbeiten mit einbezogen werden konnte. Ebenso wurde ein Zugang zum Dach geschaffen. Denn der Plan war, die Erde auf dem Dach zu deponieren. Es gab Luken zum Dach, doch die waren verschlossen, mit Vorhängeschlössern gesichert, zudem zugeschweißt und zusätzlich mit einem Sandkiesgemisch beschwert. Allein bei Zelle 6 wog die Luke ungefähr um die 200 Kilo. All das will erst einmal bewältigt werden. Als sich die ersten Lötstellen lösten, drang das Mondlicht ein. Da meinte einer der Genossen: »Es ist geschafft.« Der Deckel war noch nicht einmal ab, aber der Freund war felsenfest davon überzeugt, es sei vollbracht, und meinte: »Das Licht scheint herein, die Arbeit wird erfolgreich werden.« Dieser Freund war bereits seit 16, 17 Jahren im Gefängnis, aber jetzt war er wie elektrisiert.
Nachdem die Luke geöffnet werden konnte, wurde die Erde von Zelle 6 in Zelle 5 und von dort auf das Dach geschafft. Zum Dach hin war es sehr eng. An einigen Stellen musste man gebückt gehen, an anderen Stellen konnte man nur kriechend vorwärtskommen. So wurde die Erde auf den Dächern verteilt. Auch auf den Trakten, wo die Verurteilten der Hizbullah einsaßen, und auch bei den sozialen Gefangenen. Das Untere des Gefängnisses wurde, wie sie später einmal sagen würden, nach oben gewendet, das Obere nach unten. Der Tunnel musste gestützt werden, sollte er nicht einbrechen. Das Material dafür wurde am Dach demontiert. Sie schnitten es mit Hilfe einer Schraube ab und verarbeiteten es im Tunnel.

Auf die Richtung kommt es an

Natürlich gab es auch Momente, in denen alles gescheitert schien. Einmal kam einer vom Wachpersonal. Er ging durch die Zelle in den Hof. Ein alter Tisch sollte aus der Zelle entfernt werden. Während der Unterhaltung sah er zur Decke. Den Gefangenen stockte der Atem. Die Befürchtung, dass er etwas bemerkt haben könnte, war groß. Aber es war alles gut gegangen. Ab und an stieg das Wachpersonal auch auf das Dach. Zumal wenn es Probleme mit der Elektrik oder den Scheinwerfern gab. Darüber hinaus gab es immer wieder Schwierigkeiten, den Tunnel in die richtige Richtung vorwärtszutreiben. Auch die Versorgung mit Atemluft musste gesichert werden. Immer wenn ein Problem auftrat, wurde diskutiert. Es wurde gemeinsam nach Lösungen gesucht, alles wurde geprüft und dann gemeinsam beschlossen, wie weiter vorzugehen sei.

Das größte Problem beim Bau eines Tunnels war die Versorgung mit Atemluft. Während der Arbeiten ist man 5 bis 6 Meter tief unter der Erde. Dort stockt die Luft. Sie schlugen also einen Schacht nach oben. Nach einiger Zeit stießen sie auf eine Schicht, in der Ameisen waren, und sagten sich, wo es lebendige Tiere gibt, da gibt es auch genügend Luft zum Leben, und verzichteten daraufhin darauf, dem Schacht eine Öffnung zu geben. Denn eine einmal entstandene Öffnung lässt sich kaum wieder schließen und birgt das zusätzliche Risiko, frühzeitig entdeckt zu werden. Mehrmals verpassten sie die Richtung, in der der Tunnel vorwärtsgetrieben werden musste. Sie haben deshalb sicherlich an die 100 Meter mehr gegraben als notwendig. Dort, wo der Weg verfehlt wurde, wurden die zuvor mühsam gegrabenen Strecken dann anschließend wieder geschlossen. Die Zeitungen schrieben später, der Tunnel habe 61 Meter gemessen. Es war der längste je von Gefangenen gebaute Tunnel in der Geschichte der türkischen Republik, aus dem, und sei es nur für einen Tag, auch der Weg in die Freiheit führte.

Im Gefängnis von Çewlîg saßen etwa 100 bis 150 Gefangene der PKK ein, etwa ein Drittel schon länger. Ohnehin handelte es sich fast ausnahmslos um Verurteilte. Darunter waren auch zehn Gefangene, die zuvor selbst schon an Tunneln mitgewirkt hatten. In den letzten drei bis vier Monaten wurde Tag und Nacht gearbeitet. Am 21. September, einem Sonntag, wurde der letzte Schlag getan.

Das Licht am Ende des Tunnels

Einen Tunnel zu bauen ist harte Arbeit. Zuletzt waren die meisten krank und übermüdet. Auch wuchs mit jedem Tag, der verging, die Sorge, der Tunnel könnte einstürzen, es könnte unvorhergesehene Verlegungen geben, ihre Arbeiten könnten bemerkt werden ... Die letzten zehn Meter des Tunnels war das Erdreich feucht und matschig. Sie lösten die nasse Erde mit den Händen, so weich war sie. Dann war es vollbracht. Sie öffneten nur ein kleines Loch und sahen hindurch. Doch der Lärm, der nun von außen zu den Zellen drang, war groß, im Tunnel selbst war er ohrenbetäubend. Daraufhin befürchteten sie, der Tunnel wäre erkannt worden und die Gefängnisleitung würde nun nach ihm forschen. Da ein Angriff des Wachpersonals aber ausblieb, war er offenbar unentdeckt geblieben. In der letzten Schicht arbeitete einer, der jetzt in den Bergen ist, Diyar Kaydu. Er berichtet: »Zuletzt arbeitete ich etwa drei Stunden lang ganz vorn. Es lagen nur noch zwei Steine vor mir. Mit einer Flasche bohrte ich ein Loch in die Erde, da schien Licht herein. Panik stieg in mir hoch. Das Erste, was ich sah, war ein Baum. Es war ein Garten. Das Gezwitscher der Vögel, die im Baum saßen, drang zu mir in den Tunnel. In dem Moment sagte ich mir, ok, es ist vollbracht.«

Sie waren zusammen 18 Personen, die sich in den beiden Zellen 5 und 6 befanden. Es gab noch weitere, die eingeweiht waren, aber sich in anderen Zellen befanden. Und sollte die Flucht gelingen, galt es natürlich, die Kontakte nach draußen zu regeln. Für alle Eventualitäten bildeten sie unter sich drei Gruppen mit je einem Verantwortlichen. Zwei Gruppen sollten sich nach Erzîrom (Erzurum), eine in die Ebene von Amed durchschlagen. Auch klärten sie, in welcher Reihenfolge sie durch den Tunnel schlüpfen wollten. Doch die Zeit drängte. Dort, wo sie die Erde durchstoßen hatten, lief das tägliche Leben weiter, es wurde gearbeitet, es gingen welche vorbei. Zu groß war damit das Risiko, dass der Tunnel im letzten Moment doch noch entdeckt werden könnte. Sie wollten, wenn sie den Tunnel verlassen, in den angrenzenden Garten huschen, dort wären sie außerhalb der direkten Sicht der Wachposten. Deshalb machten sie sich aus der Bettwäsche Tarndecken. Die weiße Bettwäsche wurde in die nasse Erde getunkt, danach war sie erdfarben. Es war Herbst geworden, deshalb wurden in die Ecken der Decken Taschen genäht, um sie zu beschweren. Kurz vor der Flucht wurden dann fünf Freunde, von denen auch einige Verantwortliche des Tunnelprojekts waren, zur Gefängnisleitung gerufen. Ihnen wurde mitgeteilt, dass sie zwangsverlegt würden. Ihre Freunde waren geschockt, empfanden es als schmerzlich für die Betroffenen, so kurz vor Vollendung der Arbeit aus allem herausgerissen zu werden. Auch wuchs die Sorge, dass die Gefängnisleitung doch irgendwie Verdacht geschöpft haben könnte. Sie baten, dass die Betroffenen ihre letzte Nacht in Çewlîg bei ihnen in der Zelle verbringen könnten. Doch es half nichts. Die fünf wurden noch am selben Tag in ein anderes Gefängnis verlegt. Entsprechend groß war die Betroffenheit bei den Zurückgebliebenen.

Die Umzingelung wurde enger und ernger

So flüchteten sie ohne sie. Sie hatten sich in drei Gruppen aufgeteilt. Mit Autos fuhren sie zu einem Treffpunkt und riefen dort angekommen nach den Freunden. Doch es war niemand dort. Am darauffolgenden Tag schwärmten sie zu zweit oder zu viert auf der Suche nach den Freunden aus. Sie fanden sie nicht. Doch auch die Suche nach ihnen, den Geflüchteten, war schon im Gange. Aufklärungsflugzeuge kreisten über ihnen. Die Umzingelung wurde enger und enger, und sie hatten nichts, um sich zu verteidigen. So wurden sie erneut verhaftet und zur Kaserne in Çewlîg transportiert, danach in verschiedene Gefängnisse strafverlegt. Devrim, Diyar und Osman kamen ins Gefängnis von Wan, später dann alle drei nach Amed. Dort waren sie früher schon einmal gewesen. Jetzt galten sie dort als Fachleute für alle Fragen zum Thema Tunnelbau. So war es nur natürlich, sich erneut mit den Möglichkeiten einer Flucht zu befassen.

Diesmal sollte es über die Mauer gehen. Es wurden die Zellen gewechselt. Sie kamen in eine Zelle, wo zwei Freunde, Mervan und Rojhat, schon mit den Vorbereitungen begonnen hatten. Sie hatten ein Loch in die Mauer zum Hof gebohrt und beobachteten von dort aus die Wachwechsel. Es war also beschlossene Sache. Nun galt es, alles nur noch organisierter zu verfolgen. Fakt ist, mit nur drei Personen lässt sich ein Tunnel nicht graben. Sie wollten in eine geeignete Zelle verlegt werden, doch das gelang nicht. So rückte der Plan, es über die Mauer zu versuchen, mehr und mehr in den Fokus. Alle drei waren gemeinsam in einer Zelle untergebracht. Auch hatten sie Kontakt zu den Zellen der anderen. So begannen sie mit der theoretischen Planung. Ab der zweiten Novemberwoche begann dann die praktische Umsetzung des Plans.

Ursprünglich war geplant, zuerst die Mauer zu überwinden. Die Zellen, in denen sie waren, lagen nicht nebeneinander. So war also zunächst zu klären, wie die daraus entstehenden Probleme zu lösen seien. Es musste also erst einmal in Erfahrung gebracht werden, wie die Trakte aufgebaut waren, wie es gelingt, an den Kameras vorbeizukommen, wie am NATO-Draht (der auf Türkisch »deutscher Stacheldraht« heißt). Danach müssten die Mauern nacheinander überwunden und es müsste an die Türme herangerobbt werden, in denen die Soldaten Wache hielten. Und zuletzt müsste noch ein in mehreren Spiralen ineinander verwobener NATO-Draht überwunden werden. Dafür mussten die Freunde aus beiden Zellen genau beobachten, was um sie herum vorging. Voraussetzung für alles war auch eine gute körperliche Kondition. Sobald der Plan konkretere Formen annahm, begannen sie Sport zu treiben. Nun ist das Gefängnis bekanntlich kein geeigneter Ort, um sich viel zu bewegen. Es ist eng. Viel Platz für Bewegung gibt es kaum. Entsprechend schlecht ist zumeist die körperliche Kondition. Jetzt hieß es aber, an einem Seil hochklettern zu müssen.

Ein neuer Weg

Es gab aber nicht nur das Problem. Es gab viele Hürden, vor allem aber drei entscheidende. Da an der Flucht zwei Zellen beteiligt werden sollten, mussten die Freunde aus beiden Zellen zuerst einmal zusammenkommen können. Danach musste eine zweite Mauer überwunden werden, um in den Bereich zu gelangen, wo das Fußballfeld lag. Von dort sollte es kriechend zu dem Bereich gehen, wo der elektrische Alarmzaun stand. Dort sollte der Strom ausfallen und der Generator einspringen. In der Zeit dazwischen, also während des Stromausfalls, mussten die Drähte des Zauns durchgeschnitten werden und alle die Stelle passiert haben. Dann läge nur noch eine letzte Mauer vor ihnen. Hier waren zusätzlich Kameras installiert und dort waren auch die Wachtürme der Soldaten. Sie bemerkten durch ihre Beobachtungen, dass einmal pro Woche der Turm, an dem sie vorbei mussten, leer stand. Sie mussten also an einem Tag fliehen, an dem der Turm leer blieb, den Turm hoch und über die Mauer setzen. Lange Zeit war das ihr Plan. Sie starteten zwei Probeläufe ihrer Flucht. Die Drähte des elektrischen Alarmdrahtzauns wurden durchtrennt. Doch der Stromausfall ließ sich nicht so vorausplanen, wie sie erhofft hatten. Der Strom fiel auch nicht so lange aus, wie es notwendig gewesen wäre. Außerdem musste ja auch noch alles damit im Einklang stehen, dass das Wetter schlecht zu sein und der Wachturm leer zu stehen hatte. Das bedeutete, die konkreten Bedingungen würden den Zeitpunkt der Flucht bestimmen; es musste schon alles zusammentreffen. Dementsprechend schwierig würde sich jedoch das Vorankommen gestalten, wenn sie erst einmal draußen sein sollten.

Sie verfolgten die politische Entwicklung. Zu Beginn ihrer Arbeiten wollten sie nach Rojava. Denn in jenen Tagen vollzog sich dort die Revolution. Alle drei kamen aus der Guerilla, verfügten also über entsprechende Erfahrungen, die dort von Nutzen sein konnten. Mit der Zeit taten sich neue Entwicklungen auf. Der Widerstand der Bevölkerung in den Städten und Landkreisen Bakurs/Nordkurdistans erhob sich. Sie kämpfte um die Selbstverwaltung ihrer Kommunen als Reaktion auf den Abbruch der laufenden Friedensgespräche zwischen PKK und türkischem Staat durch Präsident Erdoğan sowie gegen die maßlose Repression, der sie durch den Staat ausgesetzt war. Auch gleich nebenan, hier in Sûr (Amed), hatte sich der Widerstand formiert. Seit Dezember (2015) war ihnen klar, sie würden in Bakur bleiben wollen. Währenddessen liefen auch die Vorbereitungen zur Flucht weiter. Es wurde weiter beobachtet, Sport getrieben. Das Ganze blieb nicht ohne Folgen. Es gab auch Unfälle. Ein Freund fiel von der Mauer, erlitt einen dreifachen Fersenbruch. Damit die Vorbereitungen nicht auffielen, musste der Unfall sowohl vor den Freunden als auch vor der Gefängnisleitung geheim gehalten werden, es durfte kein Verdacht aufkommen. So an die zwanzig Mal sind sie über die Mauern bis zu den Wachtürmen gelangt, in denen Soldaten Wache hielten, und kehrten wieder zurück in ihre Zellen. Als es dem Ersten gelang, die Mauer zu überwinden und heil auf der anderen Seite herunterzukommen, war das für alle schon ein enormer Erfolg; doch es lag noch ein langer Weg vor ihnen. Auch die elektrischen Alarmdrähte wurden bereits zwölf Tage vor der eigentlichen Flucht durchschnitten und so war alles für den Tag des Scheidens vorbereitet ...

Bevor man Mauern überwinden kann, muss man erst einmal die Mauern im Kopf überwinden!

Devrim Kavak erklärt für die Flucht Wichtiges: »Das war eine Arbeit mit hohem Risiko. Das hatte vor uns noch keiner gewagt. Das ist alles eine Frage der Psychologie. Bevor man Mauern überwinden kann, muss man erst einmal die Mauern im Kopf überwinden. Als es dann regnete, blieben wir und warteten auf Nebel. Danach sagten wir uns, der Wachturm müsse leer sein. Er war leer, wir blieben. Der Strom fiel aus, fast eine halbe Stunde lang. Der Generator sprang nicht an. Wieder blieben wir. Alles ist letztlich eine Frage des Überwindens der Mauern in unseren Köpfen.«

Die Wachtürme hatten sie genauestens beobachtet, stellten fest, dass alle drei, vier Tage der Turm in der Nacht für einige Stunden unbesetzt blieb. Vor ihnen lagen drei Türme, zwischen ihnen jeweils ein Abstand von etwa 50 Metern. Der Mittlere, an dem sie vorbei mussten, wurde zwischen 18 und 20 Uhr für jeweils zwei Stunden unbesetzt gelassen. Jetzt benötigten sie nur noch schlechtes Wetter. Also wurde auch das Wetter genauestens beobachtet. Am 5. März war es soweit. Das Wetter war schlecht und der Turm zwischen 18 und 20 Uhr nicht besetzt. Alles war vorbereitet. Auch die Tarnung. Im mittleren Durchgang musste eine Strecke Asphalt kriechend überwunden werden. Sie hatten auch Vorbereitungen getroffen wegen der Hunde. Jeder hatte einige Kiesel in seiner Hosentasche, um damit Zeichen zu geben.

Am 5. März änderte sich das Wetter. Es wurde schlecht. Um 18 Uhr wurden die Türen geschlossen. Das Wachpersonal kam, nahm die Zählung vor. Sie kletterten auf die Mauer, sahen von dort aus dem Wachwechsel zu. »Es begann herrlich zu regnen. Es regnete in Sturzbächen. Der Regen war so heftig, dass der Feind zum Wachwechsel mit dem Minibus kam. Wir beobachteten sie und stellten fest, dass der mittlere Turm nicht angefahren wurde. Er war also unbesetzt«, erzählt Diyar Kaydu. Sofort begannen sie sich vorzubereiten. Einer ging los, sagte in der zweiten Zelle Bescheid. Dort waren sie auch schon so weit. Seit zwei Monaten waren sie ohnehin jede Nacht auf dem Sprung und warteten auf den richtigen Moment. Mit den Seilen, die sie vorbereitet hatten, überwanden sie die erste Mauer. Dann kam der Alarmdraht, zu dem sie 60 Meter kriechen mussten.

Jede Nacht zuvor hatten sie leere Tüten an den Stacheldraht gehängt, um das Sichtfeld der Kameras einzuschränken. In Amed ist es oft windig. Der Wind weht dann Sand und Müll – auch Plastiktüten – auf das Dach des Gefängnisses, wo sie sich dann in den Drähten verfangen, es war also nicht sonderlich auffällig. So hatten sie die Route, die sie zur Flucht nutzten wollten, zuvor mit Tüten gegen die Kameras verhängt. Wieder hatten sie, wie zuvor in Çewlîg auch, eine Reihenfolge abgemacht, in der jeder flüchten sollte. Etwa eine halbe Stunde lang mussten sie sich kriechend vorwärtsschieben. Es ging nur sehr langsam voran – Schritt für Schritt. Weder die Kameras noch die Wachposten sollten etwas mitbekommen. Bis sie alle an den Fuß des Wachturms herangerobbt waren, verging eine halbe Stunde. Und das, obwohl die zurückgelegte Strecke gerade einmal etwa 100 Meter maß. Die Drähte waren ja zuvor schon durchschnitten worden. Sie fanden die Stelle jedoch nicht auf Anhieb und mussten zehn Minuten nach ihr suchen. Als sie dort ankamen, war Wachwechsel. Die Spannung wuchs. Andererseits war die Wahrscheinlichkeit geringer, gesehen zu werden, denn sie hatten sich Tarnanzüge angefertigt, dort würden sie mit der Umgebung verschmelzen. Dann näherten sich die Hunde. Die Gruppe der sechs lag ganz still, sie hielten den Atem an. Und die Hunde liefen weiter. Gegen 19.10 Uhr überwanden sie die Drähte. Sie mussten über den Alarmdraht, der NATO-Draht wurde gekappt, dann folgte ein zweiter Draht. Auch der wurde überwunden. Sie krochen bis zum Fuß des Wachturms vor.

»Wir wollten einander auf die Schultern steigen, glaubten so den Turm erreichen zu können«, erklärt Diyar Kaydu. »Aber das war ein Irrtum«, fügt er hinzu. Dort, wo man in den Wachturm hineinklettern konnte, war erneut NATO-Draht gespannt. Das gestaltete sich problematisch. Schließlich zog Mervan sich hoch, er blutete aus verschiedenen Wunden, aber er öffnete ihnen die Tür. So schlüpften sie alle nacheinander hinein. Sie hatten ihre selbstgebauten »Seile« dabei. Um die an den Wachturm anschließende Mauer zu überwinden, banden sie das »Seil« fest und ließen sich an ihm hinab. Devrim Kavak: »Was uns hinter der Mauer erwarten würde, das wussten wir nicht so genau. Es gab in etwa doppelt so viele Scheinwerfer wie im inneren Bereich. Auch wussten wir, dass es dort einen weiteren Alarmdraht geben sollte. Für den Fall hatten wir eine Zange dabei, damit wollten wir den Draht durchtrennen. Wir passierten die erleuchtete Fläche. Dann folgte ein gepflügtes Gelände. Beides durchquerten wir in einem Atemzug. Danach begannen wir zu rennen, dorthin, wo am Ende Häuser zu erkennen waren. Wir rannten nur noch ... Wir rannten wie Şener Şen [türkischer Schauspieler]. Einige hatten sich bei den Händen gefasst. Wir waren überwältigt. Die Luft hatten wir noch niemals zuvor so in uns aufgesogen. Es war unglaublich. Wir sahen und lauschten hinter uns, ob Lärm von dort käme. So liefen wir zu sechst, einer nach dem anderen, einen Abstand zwischen uns haltend.«

Der Grundbaustein auf dem Weg, der zur Freiheit führt

Draußen versuchten sie dann einige Freunde zu erreichen. Es gab Probleme. Die Gruppe wurde in zwei Gruppen getrennt. Später trafen wir wieder aufeinander und waren im selben Auto auf dem Weg in die Berge. Sie wurden an einen Ort gebracht, an dem die Guerilla häufig verkehrte. Sie verpassten den Freund von der Guerilla um nur fünf Minuten. Sie fanden drei Waffen, die der Guerilla gehörten. Die Bauern des Ortes bedrängten sie zu bleiben. Aber sie erklärten ihnen, dass sie nicht in ihrem Haus bleiben könnten, es sei zu ihrer eigenen Sicherheit besser so, und zogen ins Gelände. Am nächsten Morgen gegen neun oder zehn Uhr kam jemand von den Milizen und brachte sie zu ihren Genossen von der Guerilla. Jetzt erst waren sie in Sicherheit. Man umarmte sich. Aber zur Sicherheit wurde nur der Verantwortliche der Gruppe darüber eingeweiht, wer sie waren und was hinter ihnen lag.

Devrim Kavak zieht ein Fazit: »In meiner siebenjährigen Praxis im Gefängnis vergingen zwei bis drei Jahre mit den Vorbereitungen für die Flucht, die übrige Zeit damit, sich selbst zu analysieren, sich zu verstehen und an sich zu arbeiten, und das ist ja der Grundbaustein auf dem Weg, der zur Freiheit führt. Physisch war es sehr anstrengend. Dann waren wir noch sehr bedrückt, da man ja nicht Teil der (politischen) Ereignisse war. Ohnehin war allein die Verhaftung als solches schon übel genug. Wir beobachteten die Ereignisse, den Kampf, die Massaker, waren jedoch selbst zur Untätigkeit verurteilt. Das zehrte an uns. Vor allem, als sich 2012 der revolutionäre Volkskampf [gemeint ist die 1.-Juli-Offensive der HPG] erhob. Wir wollten Teil davon sein und einen Beitrag dazu leisten. Als das sind unser Widerstand im Gefängnis und die Flucht zu bewerten, mögen sie auch nur sehr gering gewesen sein im Verhältnis zu allem.«

Wir wissen um unsere Verantwortung

Und so gilt ihr Schlusswort dann auch den in den Gefängnissen zurückgelassenen Genossen. Diyar Kaydu: »Da sind zum einen die Freunde, mit denen wir in Çewlîg gemeinsam geflohen waren. Freunde, mit denen wir viel geteilt und von denen wir viel Unterstützung erhalten haben. Sie sind im Gefängnis. Sie sollen wissen, dass wir sie nicht vergessen haben. Und dann gibt es da natürlich auch die Freunde im Gefängnis von Amed. Ihnen gegenüber stehen wir in der Schuld. Das ist uns bewusst und dementsprechend verhalten wir uns.« Und auch Osman Kılıç sagt: »Wie die beiden Freunde zuvor schon erwähnt haben, wir haben Freunde zurücklassen müssen. Sie sind im Gefängnis. Wir wissen um unsere Verantwortung ihnen gegenüber. Wir danken allen, die uns sowohl in Çewlîg als auch bei der letzten Flucht unterstützt haben.«