Trotz Angriffen und Embargos

Neuaufbau von Kobanê schreitet voran!

Meike Nack, Weqfa Jina Azad a Rojava | Stiftung der Freien Frau in Rojava

Am 15. September 2014 begann der sogenannte Islamische Staat (IS) die kurdische Stadt Kobanê (Ain al-Arab) im Norden Syriens anzugreifen. Die meisten Bewohner mussten fliehen. In Pîrsûs (Suruc), das gegenüber von Kobanê auf der türkischen Seite der Grenze liegt, entstand ein riesiges Flüchtlingslager. Kobanê wurde nach 134 Tagen aufopferungsvollen Widerstands durch die Volks- und Frauenverteidigungseinheiten (YPG/YPJ) befreit. Damit wurde das erste Mal der Wille des IS gebrochen und der IS konnte in der Folge zurückgeschlagen werden.

Anlässlich des Welt-Kobanê-Tages möchten wir als Komitee der Solidaritätsprojekte für Rojava hier einen Überblick über die Entwicklungen in Kobanê geben und nochmals dazu aufrufen, sich für die Stadt des Widerstandes und den Aufbau der demokratischen Selbstverwaltung in Nordsyrien/Rojava zu engagieren.Plakat von Cenî zum Weltkobanêtag

Die weitestgehend zerstörte Stadt ist von Minen und Schutt befreit. Mit dem Aufruf zu internationaler Solidarität begann ihr Neuaufbau als ein revolutionäres Projekt. Dies sah nicht nur den Wiederaufbau der Häuser vor. Durch die Neuorganisierung der Gesellschaft versuchen die Bewohner Rojavas wie in Kobanê das höchste Maß an Selbstbestimmung und -verwaltung unter Einbeziehung der Vielfalt der Gesellschaft zu erreichen. Dieses von Abdullah Öcalan entwickelte Modell des Demokratischen Konföderalismus zur Lösung gesellschaftlicher Probleme begeistert heute international die Linke.

In den Kanton Kobanê sind ca. 250 000 Menschen, die Hälfte der Einwohner, in ihre Stadt sowie auch die meisten Dorfbewohner zurückgekehrt. Stadt und Dörfer organisieren sich zunehmend. Und die ersten Erträge dieser Neuorganisierung und Selbstverwaltung tragen Früchte.

Hingegen setzen das internationale Kapital und seine Nationalstaaten ihre politischen wie militärischen Angriffe fort. Mit dem Embargo der Türkei und ihrer Verbündeten wie der kurdischen Autonomieregion im Irak (Demokratische Partei Kurdistans, PDK) gegen Nordsyrien wird versucht, die Menschen in Rojava zu isolieren und sie von jeglicher Hilfe abzuschneiden. Mit dieser Methode wollen sie das revolutionäre Projekt Rojava scheitern lassen.

Als die Regierung von Rojava ein konföderales Modell als Lösungsmodell auch für Gesamtsyrien vorgeschlagen hatte, begann die Türkei damit einhergehend direkt die kurdischen Städte bzw. Stadtteile in Bakur (Nordkurdistan) mit einer noch immer kaum fassbaren Brutalität anzugreifen. Der Genozid an der kurdischen Bevölkerung in der Türkei und die Angriffe auf die Demokratische Partei der Völker (HDP) und die Stadtverwaltungen unter ihrer Regie wirkt sich erheblich auf den Aufbau des Projekts Rojava aus. Der allergrößte Teil des Baumaterials, des Werkzeugs, der Zelte sowie Verpflegung für die Versorgung der Menschen aus Kobanê und der Fuhrpark für die Aufräumarbeiten waren kurzfristig von den Stadtverwaltungen der kurdischen Städte in der Türkei organisiert worden.

Einhergehend mit der Zerstörung der kurdischen Städte in der Türkei begannen auch die grenzüberschreitenden Operationen und militärischen Angriffe auf die kurdischen Städte im Norden Syriens. Mahnwachen und Demonstrationen wurden von der Türkei grenzüberschreitend angegriffen, ein Einmarsch türkischen Militärs zum Bau der Grenzanlage auf syrischem Boden wurde von den YPG/YPJ zurückgeschlagen. Und zuletzt wurden Ende September mehrere Dörfer im Kanton Rojava von türkischen Einheiten angegriffen. Die Auswirkungen des Mangels an medizinischem Gerät sowie Medikamenten, aber auch an Personal sind für die Gesundheitsversorgung dramatisch.

Genauso muss die Versorgung der Bevölkerung mit Lebensmitteln aus eigener Produktion gewährleistet werden. Die zusätzliche Versorgung der knapp 400 000 Flüchtlinge ist unter diesen Bedingungen äußerst schwierig – ebenso ist es durch die enorme Hitze problematisch, durch Hygiene in den Camps der Binnenflüchtlinge Krankheiten vorzubeugen. Dies in Kombination mit fehlenden Medikamenten führt dazu, dass sich Erkrankungen wie Entzündungen, Pilzkrankheiten oder auch Leishmaniose verbreiten.

Zudem ist Kobanê die nächstgelegene Stadt zu den anhaltenden Gefechten in den Kämpfen gegen den IS. Sie ist die erste Station für die Versorgung von Verletzten aus der Bevölkerung wie auch der Kämpfer der Streitkräfte für ein demokratisches Syrien.

Dabei ist das Projekt der demokratischen Selbstverwaltung angesichts dieser äußerst problematischen Umstände noch erstarkt. Tev-Dem (Tevgera Demokratik, in der Demokratischen Bewegung organisiert sich die Bevölkerung von Rojava) und Kongreya Star (die Frauenbewegung in Rojava) haben in kürzester Zeit zahlreiche Projekte entwickelt, um die gesundheitlichen, ökonomischen und bildungsnotwendigen Bedürfnisse der Bevölkerung zu decken. Durch den Geist des Widerstandes gelingt es den Menschen in Rojava, trotz derartiger politischer Angriffe und damit einhergehender Schwierigkeiten eine noch stärkere revolutionäre Kraft zu entfalten.
So konnten in diesem Schuljahr für die zahlreiche Familien, die mit ihren schulfähigen Kindern in die Stadt zurückgekehrt sind, 7 von insgesamt 23 Schulen der Stadt Kobanê geöffnet werden. Für die Inbetriebnahme der Grundschulen wurden von der Kantonsregierung 220 Lehrerinnen und 50 Lehrer ausgebildet.

Der Wiederaufbau der 16 anderen schwer beschädigten Schulen hält an. Zunächst wurden die weniger beschädigten Schulen wieder instandgesetzt. Für die Renovierung der weiteren Schulen bedarf es noch viel Unterstützung, für die sich das Bildungsministerium auch internationale Hilfe erhofft.

Im Rahmen des Aufbaus des Gesundheitssystems hat Anfang Dezember der Gesundheitsrat von Kobanê zusammen mit dem Rat der Familien der Gefallenen acht Gesundheitszentren in verschiedenen Stadtteilen eröffnet. Darin werden jeweils zwei Personen arbeiten. Dort werden sowohl Behandlungen als auch Gesundheitsseminare durchgeführt werden. Neben den errichteten Krankenhäusern ermöglichen sie eine Erstversorgung der Menschen in ihren jeweiligen Stadtteilen.

Um eine Versorgung der Menschen mit Nahrungsmitteln zu gewährleisten, sind eine Vielzahl an Projekten zum Anbau von Gemüse, Obst, Weizen und auch Sesam entstanden. Die Rückkehr der Dorfbewohner und die Garantie ihres Schutzes durch organisierte Selbstverteidigung sind überlebenswichtig für die gesamte Bevölkerung. Vor zwei Wochen haben die Bauern mit der Sesam-Ernte begonnen. Trotz der schwierigen Umstände konnte ein stolzer Ertrag von insgesamt 2 700 Tonnen Sesam eingefahren werden. Sesam ist die Grundlage für viele Nahrungsmittel in Syrien.

Auch die Frauenbewegung Kongreya Star des Kantons hat zahlreiche Projekte zur Verbesserung der Lebenssituation der Frauen und Kinder durchgeführt. Dazu hat sie zunächst mit der Gründung von Frauenräten und Frauenkommunen in der Stadt und in den Dörfern begonnen. Die Kommune ist das kleinste Organisationsmodell von Frauen in ihrer Nachbarschaft. Sie besteht aus fünf Komitees und dem Vorstand. Die Kommunengemeinschaft wählt jeweils zwei Vorstandsmitglieder und drei Mitglieder für die fünf Komitees: Komitee für Wirtschaft, Zusammenkommen und Frieden, Gesundheit, Bildung sowie Verteidigung. Diese Bereiche sind die wesentlichen Bestandteile, aus denen eine Lebensorganisierung entsteht.

Die Stiftung der Freien Frau in Rojava unterstützt die Frauenbewegung Kongreya Star durch ein Projekt, das einer speziell vom Krieg betroffenen Gruppe zugutekommt. In Kobanê gibt es wegen des Krieges 872 Halb- und 62 Vollwaisen, viele von ihnen können nicht bei Familienangehörigen untergebracht werden. Für ca. 100 Kinder baut die Frauenstiftung einen Ort zum Leben und Lernen. Dort können sie die traumatischen Erlebnisse, die Angriffe und teilweise auch erlebte Gefangenschaft beim IS aufarbeiten. Alle Kinder haben mehrere Familienangehörige verloren, viele haben deren Tod direkt miterlebt. Das Projekt der Frauenstiftung möchte die Kinder darin stärken, miteinander eine neue Gemeinschaft aufzubauen und trotz der schwer traumatisierenden Erlebnisse eine Perspektive für ihr eigenes Leben zu schaffen. Es wird ein Zentrum bestehend aus Unterkünften, einer Schule, Aufenthaltsräumen und einer Gartenanlage. Die Schule ist sowohl für die Waisenkinder als auch für Kinder aus der Nachbarschaft, so dass ein spezieller Fokus auf pädagogische Konzepte für die Kinder gerichtet ist, aber ebenso eine Integration in die weitere Gesellschaft von Kobanê stattfindet.

Auch wenn es noch immer verschiedene Initiativen gibt, hat sich der Charakter der notwendigen Unterstützung stark verändert. Bis vor einem Jahr konnten noch zahlreiche Delegationen nach Rojava fahren, um vor Ort aktiv Hilfe zu leisten. Mit der Isolation Rojavas wird auch versucht, den Informationsfluss zu unterbrechen und damit ein weiteres Mal die Informationen über das Engagement der kurdischen Bewegung für einen friedlichen Mittleren Osten zu verdecken. Gerade deswegen ist es umso mehr notwendig, in Deutschland und anderen Ländern Europas gemeinsam eine Lobby zur Unterstützung des Modells der demokratischen Selbstverwaltung zu schaffen und über die Projekte des zivilgesellschaftlichen Aufbaus zu berichten. Noch immer versucht der Westen, seinen neoliberalen Kapitalismus im Mittleren Osten zu etablieren oder mithilfe des sogenannten IS ein derartiges Chaos zu schaffen, dass die Region über eine Intervention kontrollierbar wird.

Dagegen bedeutet Solidarität mit Kobanê und Rojava allen Isolierungsversuchen zum Trotz, an einer frauenbefreiten, basisdemokratischen, nichtkapitalistischen, antifaschistischen, friedensschaffenden und ökologischen Perspektive und der Ausweitung ihrer Praxis mitzuwirken.

Wer Interesse an einer Mitarbeit hat, kann sich gern an das Netzwerk für Solidaritätsprojekte für Kobanê und Rojava wenden:
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oder an:
Weqfa Jina Azad a Rojava
Foundation Free Woman in Rojava
Alaa 1, Qamislo Qenaswes, Rojava (Nordsyrien)
Tel.: 00963 52 451 006
facebook: Weqfa Jina Azad
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In Europe:
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c/o International Free Women´s Foundation
Rotterdam, Netherlands

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Stiftung der freien Frauen in Rojava - W.J.A.R.
Kurdistan Hilfe e.V., Hamburg/Deutschland
Stichwort: Frauenstiftung in Rojava/WJAR
Hamburger Sparkasse
IBAN DE40 2005 0550 1049 2227 04
BIC: HASPADEHHXX
Die Kurdistan Hilfe ist als gemeinnütziger Verein anerkannt. Spenden sind steuerlich absetzbar. Bitte Adresse mit angeben.

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In Kobanê gibt es wegen des Krieges 872 Halb- und 62 Vollwaisen, viele von ihnen können nicht bei Familienangehörigen untergebracht werden. Für ca. 100 Kinder baut die Frauenstiftung einen Ort zum Leben und Lernen. Dort können sie die traumatischen Erlebnisse, die Angriffe und teilweise auch erlebte Gefangenschaft beim IS aufarbeiten. Wer dieses Projekt für die Waisenkinder unterstützen möchte, kann sich an die Stiftung der Freien Frau in Rojava wenden: Diese E-Mail-Adresse ist vor Spambots geschützt! Zur Anzeige muss JavaScript eingeschaltet sein. | Tel.: 0151-12070278Foto: Weqfa Jina Azad a Rojava