Ansichten des Autors von »Die Zeit der Brombeeren«

»Die Literatur ist das Lebenselixier der Revolution«

Murat Türk, schriftlich im Gefängnis befragt

Murat TürkMurat Türks Roman »Die Zeit der Brombeeren«, in dem die Kindheit als die mythologische Zeit des Menschen begriffen wird, wurde mittlerweile in acht Sprachen übersetzt. Die zweibändige Geschichte handelt von einer Suche. Wir schrieben ihm einen Brief und fragten Murat Türk, der bereits seit jungen Jahren im Gefängnis sitzt, zu Literatur, seinem Roman, der Zensur von Büchern und dem Alltag inhaftierter Menschen, die über Wahrheit nachdenken.

Wie hat der Kampf in Ihrem Leben begonnen? Können Sie von Ihrer Kindheit erzählen?

In meiner Kindheit in Bağlar/Amed (Diyarbakır) standen an den Hauswänden Parolen über die Revolution und von Mund zu Mund wurde von der Folter im Gefängnis von Amed und über die legendären Geschichten vom Widerstand gegen jene Folter erzählt. Die Kindheit ist der mythologische Zeitabschnitt des Menschen. Was uns in dieser Zeit ins Ohr geflüstert wird, bleibt lebendig, erhält sich wie frische Wurzeln, die unser ganzes Leben nähren. Meine Kindheit ist in einer solchen Atmosphäre verlaufen. Ich fühlte mich klein, wenn ich in der Ferne die jenseits der Weinberge aufsteigenden grauen Wände, Zäune und die Türme, die bis an die Wolken reichten, betrachtete. Das war das Gefängnis von Amed. Von diesem Friedhof stiegen manchmal Stimmen auf. Als ob uns aus dem Untergrund tausende Münder, tausende Hände und Arme, tausende Augen mit einem unheimlichen Geheul die Geschehnisse hinter den Wänden laut werden lassen wollten. Diese donnernden Stimmen dauerten manchmal minutenlang an.

Jahre später sind Peşmerge, die sich vor dem Helepce-Massaker (Halabdscha, 1988) gerettet hatten, in die Stadt gekommen. Peşmerge in traditioneller Kleidung zu sehen, war wie das freie Kurdistan zu sehen. Wir betrachteten sie voller Interesse und Bewunderung. Es war Sommer und heiß. Amed brannte. Die Peşmerge gingen von Haus zu Haus und sammelten Eis. Ich werde nie vergessen, wie ein Peşmerga, der sich den Schweiß von der Stirn wischte, sagte: »Ava min pir kel e!« (Redewendung wie: Mir ist so heiß, mir läuft der Schweiß!) Von diesem Tag an ging ich von Haus zu Haus und sammelte Eis für sie. Durch das tägliche Tragen von dutzenden Säcken mit Eis erkältete ich mich mitten im Sommer. Jeden Abend kam ich klitschnass nach Hause. Einmal gab mir ein Peşmerga eine Cassette von Şivan. Darauf hörte ich das Lied »Kela kela germa havinê«. Mir kommt das Lied immer noch wie eine Klage aus dem Feuer vor. Sowohl dieses als auch das Lied »Fermane« hatte bei mir unbeschreibliche Gefühle geweckt. Als ich sie hörte, war es, als ob es eigentlich alles gäbe, aber es fehlte eine wichtige Sache, die ich nicht benennen konnte. Das war ein Gefühl, das sich in meinem Leben widerspiegelte. Die Magie der Kunst und Musik und das tägliche Sammeln von Eis für die Peşmerge, um sie, wenn auch nur ein bisschen, zu erfrischen, war für mich der Anfang.

Im ersten Band von »Die Zeit der Brombeeren« geht es um die Suche eines verwundeten Guerillas. Worum geht es im zweiten Band?

Der zweite Band ist eine Fortsetzung und beide zusammen sind eine Einheit. Im zweiten Band stehen jedoch mehr die Details zum Ort im Vordergrund. Das Andauern der Suche nach Freiheit, die Möglichkeiten des Widerstands wie die Berge, Flüsse, Wälder, Wurzeln und im Zusammenhang damit Widerstandsphilosophie, Hevaltî (Genoss*innenschaftlichkeit), Verstehen, Geistiges, der Marsch und Widersprüche des Menschen … Also anders ausgedrückt sind die Berge und die Dialektik der Freiheit ein ganzes Stück in den Vordergrund gerückt.

Wie nehmen Sie das Verhältnis von Literatur und Freiheit wahr?

Freiheit ist die positive Harmonie von an Bewusstsein gelangter Natur; an Bewusstsein zu gelangen hängt hingegen mit flexibler Intelligenz zusammen. Wenn Freiheit die Flexibilität der menschlichen Intelligenz ist, dann ist Literatur die Kunst, diese Intelligenz darzustellen und voranzubringen. Das Schreiben zeigt die Grenzen dieser Kunst auf. Wenn eine neue Freiheitskultur zum System gemacht wird, dann macht die Literatur die Ideologie sichtbar. Texte, die das Freiheitsbewusstsein des Menschen nicht entwickeln, ihm keine neuen Freiheitsmöglichkeiten bieten, versklaven den Menschen. Obwohl Literatur beim Menschen eigentlich einen neuen Geist, ein neues Empfinden und neue Gefühle aufbauen sollte. Und genau das fällt dann mit der Freiheit des Menschen zusammen. Die Revolution bedeutet, zur verdeckten Natur des Menschen zu gelangen, diese Natur an die aktuellen Bedingungen anzupassen. Literarische Texte hingegen erzählen, wie diese Revolution gemacht wird, indem sie alle widersprüchlichen Aspekte beleben. Wenn es keine Literatur gibt, wie soll die Ästhetisierung der Energie, die das Chaos in die Ordnung bringt, dargestellt werden? Die Literatur ästhetisiert das Freiheitsbewusstsein. Sie bringt die Energie des Menschen in die schönsten Formen.

Welche Funktion sollte die Literatur in der Revolution haben?

Die Revolution ist die Kunst der Verbesserung der Fehler des Lebens. Die Verbesserung der Fehler spiegelt sich bei jede*r/m als Freiheit wider. Aus diesem Grund zeigt die Literatur das Wahre und die Wahrheit mit ihrem Herzen. Die Kraft der Mythologie ist bekannt: Vom Gilgamesch-Epos, dem Epitaph, Avesta und allen heiligen Büchern bis zu vielen Texten, die die Gegenwart beeinflussen, erzählt Literatur im Wesentlichen von gesellschaftlichen Revolutionen. Dies ist auch eine Revolution. Die Bibel hat die Revolution der christlichen Welt und der Koran diejenige der muslimischen Welt behandelt. Die Literatur zeigt aufgrund ihres Wesens und ihrer Funktion den gesellschaftlichen Wandel bei den Individuen auf. Revolution bedeutet sowieso gesellschaftlichen Wandel. Diese enge Beziehung zwischen Literatur und Revolution ist äußerst bedeutungsvoll. Was war die Gesellschaft zuvor, wie ist sie jetzt, was wurde getan und was muss noch gemacht werden? Um diese Fragen herum wird dem Zeitgeist entsprechend eine Sprache geschaffen und die Revolution erzählt. Hätte es Literatur nicht gegeben, hätten Revolutionen nicht mit dieser Qualität angedauert und viele Details wären vergessen worden. Denn Literatur hält den Geist und das Gedächtnis der Gesellschaft am Leben, frischt sie je nach Bedürfnis auf und produziert auch. Die Literatur ist das Auge der Zeit, das die Revolution aktualisiert: Sie verwandelt die Zeit in Lebendigkeit. Bereits die ersten literarischen Bruchstücke suchten die Unsterblichkeit. Die Unsterblichkeit der Literatur rührt aus diesem Umstand her. Die Literatur ist das Lebenselixier der Revolution.

Was müssen wir unter Berg- und Gefängnisliteratur verstehen?

Literatur hat etwas mit der mentalen Welt des Menschen und dessen Gefühlen zu tun. Literatur bedeutet gleichzeitig auch Geist. Das Geistige, dessen man beim Marsch in Richtung Freiheit bedarf, wird mit Literatur geschaffen. Also ist Literatur Geistiges. In diesem Sinne ist es unzureichend, Literatur nach dem Herstellungsort zu benennen. Literatur kann nicht einzig nach ihrem Ort benannt werden, auch wer in der Wüste schreibt, kann über die arktische Kälte berichten. Literatur wird in der Seele gelebt, daher kann der Mensch frei schreiben. Die Literatur ihrem Geist und Wesen nach zu benennen, wäre sinnvoller. Es ist ein Fehler, Definitionen an dem Ort, an dem ein*e Autor*in zu leben gezwungen ist, festzumachen. Richtiger wäre es, sie statt nach der Produktionsstätte dem Wesen des Erzählten entsprechend zu benennen. Was in den Bergen und Gefängnissen geschrieben wird, umfasst alle Bereiche der Literatur, die Freiheit und den Widerstand, den Geist der Mutterkultur, die ersten Gefühle der Menschheit und Geschichten über die Menschen und die Wahrheit im Allgemeinen.

Sie kennen die Literatur, die sich in den Bergen und Gefängnissen entwickelt. Was denken Sie über ihre Ähnlichkeiten und Unterschiede?

Dass unser Weg in die Berge und Gefängnisse führt, hängt mit unserer Suche nach Freiheit zusammen. Beide stehen sich diametral gegenüber; Beton und Erde, Grau und Grün … Obwohl es zwei komplett unterschiedliche Orte sind, haben sie im Hinblick darauf, Möglichkeiten für die Literatur zu bieten, mehr gemeinsame Aspekte. Berge und Gefängnisse sind beides Orte des Widerstandes und der Auferstehung. Es sind unvermeidliche Haltestellen auf dem Weg zur Freiheit. Beide Orte sind schwer und hart, aber für diejenigen, deren Wahrnehmung von Wahrheit stark ist, ist es ein perfekter Ort zum Produzieren. Ich denke, es sind zwei sehr produktive Orte. Denn an beiden gibt es durch das Alleinsein ein inneres Reisen. Literatur beginnt sowieso mit Träumen und inneren Reisen. Das Gefängnis erhellt die räumliche Enge mit dem universellen Potential der Seele. Die Berge lassen eine*n mit der Weite das Gefühl der Unendlichkeit leben. Beide Orte geben dem Menschen Inspiration und können außerordentliche Details zum Leben erwecken. Sie bieten Stoff für Literatur. Berge und Gefängnisse werden zu Werkstoffen. Doch es braucht auch das Wissen zu schreiben, das Lernen und das viele Lesen. Literatur beginnt mit der Analysierung der Gesellschaft und des Universums, mit uns selbst. Diese beiden Orte bieten unbegrenzte Möglichkeiten, uns selbst zu analysieren, zu verstehen, uns selbst kennen zu lernen. Ich denke, dass die Berge und Gefängnisse für diejenigen, die geistig bereit sind, eine positive Grundlage bieten.

Die gegenwärtige Macht wirft jede*n ins Gefängnis. Kann das Denken und Produzieren verhindert werden? Können wir die Gefängnisse als Orte erobern, in denen das Denken frei produziert wird?

Die Herrschenden haben Angst vor denkenden Menschen: aber nicht vor jede*m/r Denkenden, sondern den revolutionär Denkenden. Denn ihr Niedergang kommt mit dem Aufstieg des Denkens. Sie werfen auch schon diejenigen ins Gefängnis, die sich nur mit den Denkenden solidarisieren. Wir befinden uns in einer Zeit, in der das Denken als das Minderwertige eingestuft wird. Wer die Lügen lobt, wird gepriesen, wer die Wahrheit aufzeigt, wird ins Gefängnis geworfen. Das ist die zentrale Besonderheit von Phasen des Zerfalls. Es ist nervtötend, aber gleichzeitig erfreulich. Systeme, die einen mentalen ideologischen Niedergang erleben und im Sterbebett liegen, mögen keine denkenden Menschen, sondern die Gehorsamen. Sie können aufgrund ihres geistigen Elends selbst keine Ideen produzieren. Lügen, Demagogie und Heldentaten werden geschaffen; aber die richtig Denkenden können sie niemals besiegen, auch wenn sie diese Menschen zu beseitigen suchen. Doch auch das wird nicht den gewünschten Erfolg bringen. In diesem Sinne sind Gefängnisse auf gedanklicher Ebene Orte ohne irgendein Hindernis. Es sind Orte, an denen die mutigsten Ideen in Richtung Freiheit produziert werden. Im Endeffekt sagen sie zu uns Inhaftierten: »Wir haben Angst vor euren Gedanken.«

Warum werden Ihre Bücher verboten und zensiert? Wie bewerten Sie das?Zeit der Brombeeren

Wir erleben die destruktivste Phase des Krieges, in der Friedhöfe bombardiert und Menschen lebendig verbrannt werden. Und wer weiß, vielleicht steht noch Schlimmeres vor der Tür. In dieser Zeit wurden auch dutzende Bücher verboten und zensiert. Das Verbot meiner Bücher ist nur ein Detail. Wir sind mit einer Mentalität konfrontiert, die alles verbietet, was den Herrschenden gegenüber nicht loyal ist. Es ist eine elende Mentalität, denn Bücher sind der Speicher der geistigen Kultur. Wer in der Geschichte versuchte, diesen Speicher zu verbieten, wurde verdammt. Die gegenwärtige Macht hat nicht ohne Grund gesagt: »Bücher sind gefährlicher als eine Atombombe.« Wenn Herrschaften im Zerfall begriffen sind, entfesseln sie aufgrund ihrer Angst vor dem Niedergang allgemeinen Terror. Um ihren Niedergang zu verhindern oder zumindest zu verzögern, unternehmen sie alles Mögliche. Eine Mentalität, die Bücher verbietet, ist ideologisch besiegt. Denn eigentlich wird die Welt durch die Autorität einiger Geschichten gelenkt. Die Fähigkeit der Mythologie und des metaphysischen Geistes, gesellschaftliche Systeme hervorzurufen, lebt in den verschiedenen Bereichen der Literatur fort. Der beste Weg, den Niedergang zu verhindern, wäre es, die ideologische Produktion zu verbieten, die das Neue aufbaut.

Wie sehen Sie die Beziehung zwischen dem Dasein als Revolutionär*in und der Schriftstellerei?

Die Hauptaufgabe von Revolutionär*innen ist es, Revolution zu machen. Schreiben ist hierbei einer der wirksamsten Wege der Revolution. Aber der/die Revolutionär*in schreibt nicht, um eine Identität als Autor*in zu erwerben, sondern um wirksamer kämpfen zu können. Ein*e revolutionäre*r Autor*in reißt die Zikkurate (Tempel) in den Köpfen nieder, bricht die vorherrschende männliche Intelligenz und baut das Freiheitsbewusstsein auf. Es gibt enge Bindungen zwischen der Schriftstellerei und dem Dasein als Revolutionär*in. Wenn die Zeit da ist, nutzt der Mensch auch den Stift, so wie er seine Saz (Musikinstrument) oder seine Stimme nutzt. Wenn beides gut miteinander in Beziehung gesetzt wird, bringt Schreiben einen Moment hervor, der der revolutionären Phase Seele und Geist hinzufügt.

Wird es eine Fortsetzung von »Die Zeit der Brombeeren« geben?

Es gibt eine Fortsetzung, wenn ich die Möglichkeit habe, sie zu schreiben …