Die Debatte um die Todesstrafe als Teil einer Phase des Genozids

Von der Drohung zur Realität?

Mahmut Şakar, Rechtsanwalt und stellvertretender Vorsitzender von MAF-DAD e.V.

Die politischen Diskussionen um die Todesstrafe haben in der türkischen Politiktradition einen historischen wie gesellschaftlichen Kontext. Es handelt sich also nicht um eine Angelegenheit von heute. Neben der Abwehr politischer Forderungen, Tendenzen und Alternativen wurde die Todesstrafe stets als ein für die Zukunft gewichtiges politisches Instrument insbesondere an historisch kritischen Wendepunkten praktiziert.

Seit der Gründung der Republik Türkei bis zur Gegenwart wurden im Anschluss an drei Militärputsche Todesstrafen verhängt und umgesetzt. Die Führer der rechtsgerichteten Demokratischen Partei (Demokrat Parti, DP), die nach dem Ende des Einparteiensystems in der Türkei 1950 an die Macht gekommen war, wurden nach dem Militärputsch vom 27. Mai 1960 in den Yassıada-Prozessen verurteilt. Gegen Ministerpräsident Adnan Menderes und zwei seiner Minister wurde anschließend auf der Gefängnisinsel Imralı die Todesstrafe vollstreckt. Wiederum nach dem Militärputsch vom 12. März 1971 wurden auf Druck rechter Kreise und Parteianhänger 1972 die wichtigen Repräsentanten der 1968er-Generation Deniz Gezmiş, Hüseyin Inan und Yusuf Aslan erhängt. Neben dem für diese Epoche symbolhaft stehenden Erhängen des 17-jährigen Erdal Eren in der Zeit nach dem Militärputsch vom 12. September 1980 wurde als Folge dieses Putsches an fünfzig Personen die Todesstrafe durch den Strang vollstreckt. Allein diese kurze historische Referenz verdeutlicht, dass die Todesstrafe außer in gewöhnlichen Strafsachen als interne Kriegspraxis eingesetzt wurde. Dieser Umstand schafft uns eine bessere Grundlage, um die aktuelle Diskussion über die Todesstrafe einzuordnen.

Im Zentrum des Diskurses über die Todesstrafe steht die umstrittene Person Abdullah Öcalans. Im Jahre 1999 war er auf dem Wege eines internationalen Piratenakts entführt und der Türkei ausgehändigt worden, um im Schauprozess von Imralı mit der Todesstrafe verurteilt zu werden.

Dieses Urteil wurde vom obersten Gericht bestätigt und anschließend dem Amt des Ministerpräsidenten zwecks Vollstreckung zugeleitet. Aufgrund der damaligen politischen Bedingungen schob die Koalitionsregierung die parlamentarische Abstimmung über die Vollstreckung der Todesstrafe auf die lange Bank, um dann dem Beschluss des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte (EGMR) folgend die Vollstreckung komplett auszusetzen. Als Begründung wurde angeführt, dass durch diese Entscheidung das Risiko und die Gefahr eines Bürgerkrieges im Falle einer Hinrichtung Öcalans abgewendet worden seien.

Die Todesstrafe wurde in der Türkei zuletzt im Jahre 1984 praktiziert, die Vollstreckung aller weiteren Urteile wurde ausgesetzt. Nach der Unterzeichnung der Zusatzprotokolle 6 und 13 der Europäischen Menschenrechtskonvention (ECHR) durch die Türkei war im Mai 2004 die Todesstrafe aus der Verfassung und den Gesetzen gestrichen und durch die verschärfte lebenslange Haft ersetzt [endgültig]. Die Isolationshaft und Todesstrafe im Fall Öcalan zeigen, dass mit der heute erneut entflammten Diskussion um die Einführung der Todesstrafe das Thema nur konjunkturell behandelt bzw. abgeschafft wurde. Dies sieht man auch deutlich an der Behandlung Öcalans. Insbesondere muss darauf aufmerksam gemacht werden, dass in der Praxis auf dem Wege der Totalisolation eine verlängerte Todesstrafe umgesetzt worden ist. Das bestätigt der General Tuncer Kılınç, der zeitweise für die Sicherheit auf der Gefängnisinsel Imralı verantwortlich war. Er erklärte, dass die Maßnahme gegen Öcalan unersetzbar sei. Indem er hinzufügte, dass Öcalan nicht einmal, sondern jeden Tag aufs Neue umgebracht werden würde, bestätigt er die offizielle Ansicht der türkischen Behörden. Laut Öcalan ist die Gefängnisinsel Imralı als Foltersystem gedacht. Als ein außergewöhnliches Foltersystem, in dem sogar das Recht gänzlich ausgehebelt wird. Einige nach dem Ausnahmezustandsdekret eingeführte Maßnahmen mit Gesetzeskraft sind eigentlich eine Übernahme dieser auf Imralı geltenden Sonderanwendung der Isolationshaft.

Abdullah ÖcalanZum Beispiel die Aufzeichnung der Anwaltsgespräche, die obligatorische Anwesenheit einer dritten Person bei diesen Gesprächen, die willkürliche Einleitung von Untersuchungen gegen Anwälte zwecks Entlassung aus ihrer Tätigkeit, die Begrenzung der Anwalts-Mandanten-Gespräche auf bestimmte Tage und Fristen usw. Diese sogenannten Öcalan-Normen sind sehr bald nach den Erfahrungen mit ihnen auf Imralı zu anwendbaren Maßstäben für die ganze Türkei geworden. Die Forderung nach der Todesstrafe als politische Aussage im Zusammenhang mit der Isolationspolitik war für Öcalan als Option eigentlich nie vom Tisch. Ganz besonders in Wahlkampfzeiten wird, um die Emotionen der türkischen Massen zu treffen, zwecks Stimmenfangs ein Wettrennen zwischen der regierenden Partei für Gerechtigkeit und Aufschwung (AKP) und der Partei der Nationalistischen Bewegung (MHP) veranstaltet, wer zuerst die Todesstrafe wieder einführt. Das führt sogar so weit, dass bei Wahlkampfreden vor Menschenmengen mit Galgenschlingen geworben wird.

Die Todesstrafe findet vor allem im politischen Jargon des türkischen Nationalismus höchste Legitimität. Seit 1999 wurde das Hängen Öcalans stets auf der Agenda gehalten. Die Forderung kam manchmal von Seiten der MHP und manchmal von anderen rechten Parteien. In der Bevölkerung wurde der Glaube, dass mit der Hinrichtung Öcalans die Kurdenfrage gelöst werden könnte, immer lebendig gehalten. Deshalb gehört diese Diskussion um Öcalan zu den Hauptthemen und -losungen des türkischen Nationalismus und seiner Anhänger. Vor dem Hintergrund dieser von EU-Kreisen kritisierten Debatte um die Todesstrafe ist zu unterstreichen:

1. Dieser Diskurs muss in direktem Zusammenhang mit dem im Oktober 2014 auf der Sitzung des Nationalen Sicherheitsrats (MGK) verabschiedeten und ab Juli 2015 angewendeten »Vernichtungsplan« gesehen werden. Wir alle kennen die Folgen der als türkische »tamilische Lösung« dargestellten zeitgenössischen Version des zwischen 1925 und 1938 praktizierten Şark-Islahat-Plans: die Zerstörung dutzender Städte, die Verbrennung zahlreicher Menschen in Kellern, die Vertreibung tausender Menschen, die Zerstörung von Lebensraum, die Vernichtung gesellschaftlicher und politischer Institutionen, die Entfernung kurdischen Personals aus dem öffentlichen Dienst, die Einführung der [kommunalen] Zwangsverwaltung u. a. Ein totalitäres Regime, in dem Legislative und Judikative komplett kontrolliert und von Erdoğan bestimmt werden, soll einer lang andauernden faschistischen Regierung den Weg ebnen. Man sollte nicht vergessen, dass der Diskurs über die Hinrichtung in dieser Atmosphäre neu entstanden ist.

2. Insbesondere führt die Diskussion um das Hängen Öcalans beim nationalistischen Lager zur forcierten Zerstörung in Kurdistan. Im Zuge des »Vernichtungsplans« sind ohnehin einige extralegale Paramilitärs installiert worden. Dieser Zustand kann dazu führen, dass gegebenenfalls alle Gruppen oder Oppositionellen, die nicht der Regierung gehorchen, vernichtet oder auf offener Straße ermordet werden.

In diesem Zusammenhang soll die Diskussion um die Todesstrafe stets die aktuelle Phase befeuern. Das heißt, die Todesstrafe und ein möglicher Genozid an den Kurden könnten zusammen zum Einsatz kommen und wären nicht voneinander zu trennen. Für beide Möglichkeiten ist die Wahrscheinlichkeit mehr denn je gegeben.

Zum Abschluss: Heute ist die Debatte um die Todesstrafe für Oppositionelle und vor allem für Öcalan so weit gediehen, dass sie jederzeit praktisch werden könnte. Innerhalb der Grenzen der Türkei existiert keine institutionelle, juristische oder moralische Grundlage, um diese Situation abzuwenden.

Im Hinblick auf internationale Beziehungen werden Partner und Bündnisse angestrebt, die diese gegebenen faschistischen Praktiken dulden.

Die Todesstrafe ist nicht mehr eine Bedrohung, Anschuldigung oder Behauptung. Die Neukonzeption der Todesstrafe für Oppositionelle ist zu einer jederzeit realisierbaren Gefahr geworden, weshalb jeder dazu eine klare Haltung einnehmen sollte.