Der Bedeutungswandel zwischen Nationalstaat und non-state actor

Die Türkei – von »null Problemen« zu »null Freunden«

Aktuelle Bewertung von Nilüfer Koç, KNK

Nilüfer KoçManch einer mag es als übertrieben empfinden, dass sich die kurdische Politik ständig auf die Türkei bezieht. Aber es ist berechtigt. Denn wo immer es politisch um Kurdistan geht, wird man auch schnell der türkischen Hand begegnen. Das gilt im Falle Syriens, des Irak oder des Iran und natürlich auch, wenn es um die Kurden in der Türkei geht. Die kurdenfeindliche Politik der türkischen Regierung wird für die Kurden überall dort sichtbar, wo sie für ihre Rechte einstehen oder zu neuen Errungenschaften kommen. Die Türkei befindet sich also in einem permanenten Krieg mit den Kurden. Daher wäre es zu einfach zu behaupten, es ginge dabei nur um einen Krieg gegen die PKK. Mag sein, dass die Türkei ihre Priorität nach wie vor auf die Bekämpfung der PKK legt, da diese für die treibende Kraft der demokratischen Autonomie für Kurden in der Türkei, Syrien und dem Iran steht. Doch letztlich geht es der Türkei nicht um die eine oder andere kurdische Organisation, sondern um die Kurden an sich.

Der Krieg der Türkei gegen die Kurden in den verschiedenen Staaten weist nur in seinen Methoden Unterschiede auf. In der Türkei sind es die brutale Gewalt, der Ausnahmezustand und die Verhaftungswellen. In Nordsyrien/Rojava bekämpft sie militärisch allein und in Bündnissen mit islamistischen Gruppierungen die Errungenschaften der Kurden. In Südkurdistan (Nordirak) ist sie um Destabilisierung bemüht und mischt sich in irakische innere Angelegenheiten ein wie das Referendum über die »umstrittenen Gebiete« nach Artikel 140 der irakischen Verfassung. So intervenierte sie sehr aggressiv in der Debatte um das Hissen der irakisch-kurdischen Flagge in Kerkuk. Weiterhin hetzt sie die sunnitischen Turkmenen und Araber in Kerkuk gegen die Kurden auf. Sie droht in Şengal (Sindschar) mit einer Militäroperation und bombardiert ununterbrochen die Kandil-Berge. In geheimen Treffen versucht die Türkei nun auch das iranische Regime gegen die Kurden aufzuhetzen, da Ostkurdistan (Nordwestiran) gegenwärtig der einzige Teil Kurdistans ohne militärische Auseinandersetzungen zwischen kurdischen und staatlichen Kräften ist. Im Iran wird es im Mai Parlaments- und Präsidentschaftswahlen geben. Die Kurden bemühen sich, über ihre politische Partizipation das Regime zu überzeugen. Die Türkei will mit den Geheimtreffen auch die nur minimale Option einer politischen Lösung der kurdischen Frage im Iran verhindern. Kurzum, die Kurden fokussieren sich bei ihrer Politik nicht zu Unrecht auf die Türkei.

Die Türkei führt Krieg gegen die Demokratisierung des Mittleren Ostens

Nordsyrien ist zum Albtraum für die Türkei geworden. Dort haben die Kurden nämlich gemeinsam mit allen Volksgruppen im Dezember 2016 das demokratisch-föderale System Nordsyriens ausgerufen. Dem waren fast sechsjährige Aufbauarbeiten für eine demokratische Autonomie vorausgegangen. Die Panik der Türkei ob dieser Demokratie veranlasste sie zur Abschottung von 511 km der 900 km langen Grenze zu Syrien mit einer Mauer. Ähnlich wie beim Bau der Berliner Mauer erhofft sie sich, die kurdischen Errungenschaften auf der syrischen Seite nicht auch auf die kurdischen Gebiete auf der türkischen Seite überschwappen zu lassen. Die Grundlagen der demokratischen Autonomie in Bakur (Nordkurdistan/Türkei) wurden hier bereits 2005 gelegt und schrittweise umgesetzt. Nicht zuletzt deshalb hat der türkische Staat Ende 2015 mehrere kurdische Ortschaften in Schutt und Asche gelegt. Aus diesem Grund hatten selbst die UN, die sich in den letzten vierzig Jahren des Befreiungskampfes in Bakur kaum zu Wort gemeldet hatten, mit einem Bericht auf die Gräueltaten des Staates reagiert. Mit der Mauer an der syrisch-türkischen Grenze sollen die demokratischen Autonomien von Rojava und Bakur voneinander isoliert gehalten werden. Im Gegensatz zu der Zeit der Berliner Mauer können Kurden mithilfe der Telekommunikationstechnik und von kurdischen TV-Kanälen miteinander in Verbindung treten. Die Mauer demonstriert nur die Phobie der Türkei, auf die Kurden wird sie keinen relevanten Einfluss haben.

Die Türkei führt nicht nur Krieg gegen die Kurden, sondern zugleich auch gegen die Demokratie im Mittleren Osten. Denn sowohl in Bakur als auch in Rojava arbeiten die Kurden für den Aufbau einer demokratischen Gesellschaftsstruktur. Das unterscheidet sie von allen anderen regionalen und globalen Akteuren, die sich aktuell in der Region bewegen. Diese Demokratie wird von der Basis her entwickelt und kennt keine ethnischen oder religiösen Grenzen. Sowohl die syrische als auch die türkische Verfassung lehnen dies jedoch ab. In den bestehenden Nationalstaaten ist kein Platz für Demokratie und Pluralismus. Bei dem einen ist die türkische Identität dominant und beim anderen die arabische.Grenzkontrolle der türkischen Armee zu Rojava. | Foto: E. Ayboga

Als dritter wichtiger Punkt im Zusammenhang mit der Türkei ist anzuführen, dass die von Erdoğan geführte AKP-MHP-Macht das kurdische Demokratieprojekt nicht nur aus ideologischen Gründen als Hindernis betrachtet. Denn ein Sieg über die Kurden würde den Machthabern dieses Blocks die Möglichkeit bieten, die Rückgewinnung der mit den Verträgen von Sèvres 1920 und Lausanne 1923 »verlorenen« osmanischen Provinzen Aleppo und Mosul in Angriff zu nehmen. Der Kriegszustand sowohl im Irak als auch in Syrien begünstigt die großtürkischen Träumereien.

Während die Kemalisten als treibende Kraft der türkischen Republik jahrzehntelang den Lausanner Vertrag als Sieg ihres Führers Kemal Atatürk interpretiert hatten, erklärte ihn Erdoğan im Oktober vergangenen Jahres als Verrat. Atatürk hatte damit nach dem Ersten Weltkrieg den Siegermächten die heutigen Grenzen der Türkei abgerungen. Bis zum hundertsten Jahrestag des Vertrages am 24. Juli 2023 will Erdoğan nun so viele Provinzen des Osmanischen Reiches zurückbekommen wie möglich. Seine gegenwärtige Priorität gilt Nordsyrien und dem Nordirak (Südkurdistan). Nach seinem Verständnis gehören die »Provinz« Aleppo, also das gesamte Nordsyrien, und die »Provinz« Mosul, was den gesamten Nordirak ausmacht, eigentlich zur Türkei. Das ist auch der Grund, warum die Türkei im vergangenen Jahr ihre Armee sowohl nach Nordsyrien als auch nach Baschika/Mosul schickte. Trotz internationaler Kritik hat sich an der neoosmanischen Ausrichtung der Politik Erdoğans wenig geändert. Die einzige Veränderung ist, dass er gegen die Kurden von nun an noch stärker militärisch vorgehen wird.

Das Erste, was Erdoğan jetzt als verfassungsrechtlich abgesicherter Diktator einige Stunden nach dem Referendum vom 16. April verkündete, war die Absicht, die Todesstrafe wiedereinzuführen. Dass er damit auf den Vorsitzenden der Gemeinschaft der Gesellschaften Kurdistans (KCK), Abdullah Öcalan, abzielt, war allen Kurden klar. Seine erste deutliche und drohende Botschaft war gegen die Kurden gerichtet. Obwohl er im Dezember mehrere kurdische Städte wie Şirnex (Şırnak), Cizîr (Cizre), Colemêrg (Hakkari), Mêrdîn (Mardin) und Stadtteile von Amed (Diyarbakır) in Schutt und Asche gelegt hatte, votierten die Kurden gerade in diesen Städten mit deutlicher Mehrheit mit einem Nein zur Verfassungsänderung. Am 18. April, also zwei Tage nach dem Volksentscheid, bombardierten türkische Kampfflugzeuge in einer großen Offensive die Kandil-Berge. Erdoğan verschaffte seiner Wut auf die Kurden Luft! Er ist wütend und zornig auf sie, da sie zu Millionen an den Newroz-Feiern in Bakur teilgenommen und die kurdischen Gebiete hier mit Nein gegen sein Projekt gestimmt hatten. Dabei hatte er die Bürgermeister, Politiker, NGO-Vertreter, Journalisten, also alle, die das Volk für New­roz und das Referendum hätten mobilisieren und organisieren können, einsperren lassen.

Doch die Bevölkerung ist in weiten Teilen Kurdistans so sehr politisiert, dass sie sich auch ohne Führungskraft selbst mobilisieren konnte. Das hat Erdoğan nicht erwartet und er war entsprechend schockiert. Dass er als erste Botschaft mit der Einführung der Todesstrafe kam, hat also seine Vorgeschichte. Denn Öcalan ist die rote Linie der Kurden. Ohnehin hatte Erdoğan alles unternommen, um die Kurden mundtot zu machen. Dennoch ist es ihm nicht gelungen. Und so bleiben ihm nur noch Drohungen gegen eine politische Geisel, nämlich Abdullah Öcalan. Das illustriert auch zugleich seine Ausweglosigkeit, die ihn dazu treibt, mit dem Feuer zu spielen. Kein Kurde wird das Übertreten seiner roten Linie erlauben. Erdoğan ist daher gut beraten, sich an 1999 zu erinnern.

Die Türkei: ein regionales Problem

Aber nicht nur die Kurden haben ein Problem mit der türkischen AKP-Regierung, sondern nunmehr fast die gesamte Region des Mittleren Ostens. Gegen Syrien führt die Türkei seit 2012 Krieg. Da der Iran das Baath-Regime unter Assad als strategischen Bündnispartner und Garantie für die eigene Expansion in der Region betrachtet, hat er vehemente Konflikte mit der Türkei. Aber auch in der Mosul-Frage stehen Iran und Türkei in rivalisierenden Lagern. Die Türkei will Mosul zur sunnitischen Hochburg machen, während es der Iran als Pufferzone für die schiitische Einflusssphäre will. Da Bagdad sich aufgrund seiner schiitischen Orientierung dem Iran nahe fühlt, versucht die Türkei den Irak durch den Erdölhandel mit den Kurden in dessen Norden zu schwächen. Das Verhältnis zwischen Bagdad und der Regionalregierung Kurdistan (KRG) im Norden ist sehr lädiert. Ein großer Vertrauensverlust ist die Folge.

Mit ihren bisherigen strategischen Bündnispartnern Saudi-Arabien und Katar hat die Türkei ebenfalls große Probleme. Nachdem sie letztes Jahr im Dezember den Krieg in Aleppo verloren hatte und infolge dieser Niederlage mit Russland, dem Iran und Syrien hatte verhandeln müssen, hat sie einen Seitenwechsel in das sogenannte schiitische Lager vollzogen. Sie kehrte dem sunnitischen Lager den Rücken, weshalb Saudi-Arabien und Katar als Erzfeinde des Iran verstärkt bei den USA und Israel Unterstützung suchten. Mit Ägypten als einem der Hauptzentren der arabischen Politik hat die Türkei auch Probleme, da sie nach wie vor über die Muslimbrüder das Land im Inneren zu destabilisieren sucht. Die ägyptischen Muslimbrüder haben freie Hand in der Türkei. Von hier aus organisieren sie ihre Politik gegen die ägyptische Regierung.

Kurzum, das Motto »null Probleme mit den Nachbarn« der vom Westen lange Zeit hochgepriesenen Außenpolitik der Türkei hat sich verwandelt: »nur Probleme mit allen Nachbarn«. Nicht zuletzt kommen auch noch die Probleme mit Griechenland und Bulgarien hinzu. Bei seinem Generalangriff auf den Lausanner Vertrag hatte Erdoğan auch auf Griechenland Bezug genommen und auf bestimmte griechische Inseln Ansprüche angemeldet. Ein weiterer Grund für den Streit mit Griechenland ist die Asylgewährung der Regierung in Athen für mehrere türkische Offiziere, die wegen Gülen-Mitgliedschaft in der Türkei gesucht wurden. In Bulgarien hat sich die Türkei bei den Wahlen im März sehr direkt eingemischt und über die türkische Minderheit in Bulgarien Einfluss auf die Politik zu nehmen versucht. Ferner veranlasste die AKP-Regierung mehrere tausend türkischstämmige Bulgaren in der Türkei, die im Besitz der doppelten Staatsbürgerschaft sind, als Drohung gegen die bulgarische Regierung zu fungieren. Mit radikalen panturkistisch-nationalistischen Forderungen sollten sie in Bulgarien für Unruhe sorgen. Das machte aus Protest die Grenze dicht.

Die Türkei: ein internationales Problem

Als NATO-Mitglied hat sich die Türkei weder an die Regeln des Militärbündnisses noch an die der internationalen Koalition zur Bekämpfung des Islamischen Staates (IS) gehalten. Vielmehr hat sie im Alleingang jegliche Aussicht auf eine politische Lösung verhindert und alimentiert nach wie vor den IS und andere Banden in Nordsyrien. Während für die USA und Russland im Bodenkrieg gegen den IS die Hilfe der Demokratischen Kräfte Syriens vonnöten ist, in denen auch die kurdischen Volksverteidigungs- und Frauenverteidigungseinheiten (YPG/YPJ) organisiert sind, versucht die Türkei eine internationale Zusammenarbeit mit diesen mit allen Mitteln zu unterbinden. Die Beendigung der Kooperation mit den kurdischen YPG-/YPJ-Kräften ist zu einer politischen und diplomatischen Vorbedingung der Türkei geworden. Sie droht allen, die mit den Kurden gemeinsam gegen den IS kämpfen. Auch wenn die USA bei den türkischen Angriffen auf die PKK in den Kandil-Bergen ein Auge zudrücken, so können sie die Türkei nicht restlos überzeugen. Sie betonen permanent, im Kampf gegen die PKK an der Seite der Türkei zu stehen, können sie aber dennoch nicht zufriedenstellen.

Genauso wie die USA und Russland hat auch Europa viel in den Krieg im Nahen Osten investiert. Man erhofft sich viel vom dritten Aufteilungskrieg, der gegenwärtig dort wütet. Europa war allerdings nicht bereit, auch für die Konsequenzen des Krieges geradezustehen. Der Flüchtlingsstrom nach Europa wurde nicht einkalkuliert, da man sich auf die Türkei verließ. Sowohl die USA als auch einzelne EU-Staaten haben die AKP lange nicht richtig eingeschätzt. In einem waren sie sich alle einig: Die Grenzen des Lausanner Vertrages von 1923 bleiben unangetastet. Da die PKK das Nationalstaatsmodell an sich ideologisch klar kritisiert und Öcalan zur Thematik des Nationalstaats mehrere kritische Bände geschrieben hat, kann die Türkei die internationale Politik nicht mehr mit der Gefahr des »kurdischen Separatismus« überzeugen. Öcalans Strategie entsprechend bemühen sich die Kurden in Rojava und Nordkurdistan um demokratische Autonomie. Die Türkei selbst akzeptiert ihre heutigen Grenzen allerdings nicht mehr. »Wir werden nicht Gefangene auf 780 000 Quadratkilometern sein«, äußerte Staatspräsident Erdoğan noch im November letzten Jahres, »Krim, Kaukasus, Aleppo, Mosul mögen zwar jenseits der türkischen Grenzen liegen, aber sie sind innerhalb der Grenzen unserer Herzen.« Bereits zuvor hatte er sich zu Aussagen verleiten lassen wie »Mosul gehört uns« und »Die Grenzen dieses Landes haben wir nicht freiwillig akzeptiert«. Die Hegemonialbestrebungen der Türkei erweisen sich zunehmend als Störfaktor für ihre Nachbarländer, aber auch weit darüber hinaus.

Die Türkei: Europas Problem

Im Rahmen der EU-Beitrittsverhandlungen konnten die EU und einzelne europäische Staaten bis 2012 in einem bestimmten Maße Einfluss auf die Türkei nehmen. Das änderte sich mit dem Syrienkrieg. Bis dahin hatte sich die EU mittels ihrer Reformpakete auch in die »inneren Angelegenheiten« einmischen sowie wirtschaftspolitische Themen des Landes mitbestimmen können. Doch mit dem Syrienkonflikt wurde das Verhältnis quasi auf den Kopf gestellt. Die klaren Aufrufe einzelner EU-Staaten zu einem Nein beim jüngsten Verfassungsreferendum in der Türkei waren im Grunde Ausdruck von Wut und Verzweiflung. Die verbal sehr aggressiv ausgetragenen Auseinandersetzungen sind deutlicher Beleg dafür. Beim Nein zum Verfassungsreferendum war interessanterweise Deutschland am lautesten. Auch wenn andere europäische Staaten wie Frankreich, Großbritannien, die Niederlande, Österreich, die skandinavischen Staaten usw. sich auch auf die Nein-Seite gestellt haben, so war Deutschland an vorderster Front. Sicherlich spielt dabei auch die hohe Zahl der in Deutschland lebenden türkischen Staatsbürger eine Rolle. Doch die Ursache liegt tiefer. Letztlich waren selbst die Kurden erstaunt, welche Tragweite die Erdoğan-unfreundliche Stimmung in Deutschland hatte. Für die kurdischen Organisationen hierzulande war es irgendwann praktisch nicht mehr nötig, das wahre Gesicht Erdoğans und seiner AKP zu entlarven. Das taten andere bereits zur Genüge. Dabei unterscheidet sich die »kurdische« von der »deutschen« AKP-Kritik, dennoch war es für die Kurden sicherlich hilfreich, dass Erdoğans Maske auch hier fällt. Der türkische Staatspräsident verfügt über keine politische Kultur, geschweige denn ethische Normen. Die Nazivergleiche beweisen es nur zu eindrucksvoll. Denn eigentlich ist Erdoğan selbst auf dem besten Wege, zum Hitler des 21. Jahrhunderts zu werden.

Erdoğan betrachtet die chaotische Situation im Mittleren Osten als passende Gelegenheit, sich seinen Traum vom »großtürkischen Reich« zu erfüllen. Um diesen Weg zu beschreiten, installiert er ein autokratisches System mit ihm als »starkem Führer« an der Spitze. Damit alles reibungslos funktionieren kann, schaltet er die Opposition aus. Und mit der Verfassungsänderung hat er nun die letzten verfassungsrechtlichen Hindernisse für seine nationalistische Expansionspolitik aus dem Weg geschafft. Die Parallelen zu Deutschland Anfang der 1930er sind unverkennbar.Nach dem Referendum vom 16. April geht die Bevölkerung gegen den Wahlbetrug auf die Straße | Foto: ANF

In Europa ist vor allem Deutschland durch die türkische Strategie herausgefordert. Es glaubt immer noch daran, die hundertjährige Waffenbrüderschaft mit der Türkei wie gewohnt aufrechterhalten zu können. Doch der langjährige Bündnispartner hat sich radikal gewandelt, ist außer Kontrolle geraten und verfolgt seine Politik im Alleingang. Die alten strategischen Abkommen sieht Ankara nur mehr als Hindernis auf seinem Weg zu einer regionalen Großmacht.

Erdoğan ist davon überzeugt, dass weder Deutschland noch die USA noch andere Staaten die Türkei verstehen. Er ist sich dessen bewusst, dass die Türkei mit ihrem Nationalstaatscharakter aus dem vergangenen Jahrhundert stark gefährdet ist. Der fast hundertjährige türkische Nationalstaat als »Konzept« des europäischen Staatensystems ist durch die kurdische demokratische Revolution in der Türkei und Syrien in Frage gestellt worden. Zwar weckt auf der anderen Seite der Niedergang der arabischen Nationalstaaten in Syrien und dem Irak auch den Appetit der Türkei. Insgesamt überwiegt allerdings deutlich die Angst, vor allem vor den Kurden, zumal der türkische Nationalstaat von 1923 ohnehin aus den Nähten platzt. Keine der bislang unterdrückten und diskriminierten Volks- und Religionsgruppen will sich nunmehr nach fast hundertjähriger Leugnung Ankaras Politik unterwerfen. Sie alle wollen autonome Rechte und folglich eine dezentralisierte Türkei. Deutlich hat dies die AKP bereits bei den Parlamentswahlen am 7. Juni 2015 zu sehen und zu spüren bekommen, als mit der Demokratischen Partei der Völker (HDP) achtzig Abgeordnete als Vertreter verschiedener ethnischer und religiöser Gemeinschaften, die laut türkischer Verfassung bislang als nichtexistent galten, ins türkische Parlament gewählt wurden. Diesen Erfolg empfand die Führung des Nationalstaats als Erschütterung der nationalistischen Staatsdoktrin. Der Staat betrachtete die Demokratie als Gefahr und setzte vorgezogene Neuwahlen an. Das Projekt der demokratischen Autonomie, das auf der Philosophie der demokratischen Nation aufbaut, ist in Bakur seit 2005 entwickelt und praktiziert worden. Bei den Wahlen am 7. Juni 2015 wurde dieses, von Öcalan initiierte, Projekt bestätigt. Zum ersten Mal wurde dem Nationalstaat eine demokratische Alternative aufgezeigt. Panikartig wurden dann Neuwahlen für November 2015 angesetzt. Es folgte das Bündnis mit der MHP, die zwar ebenfalls für ihren Panturkismus bekannt ist, aber auch radikal zum Faschismus tendiert. Mit Nationalismus glaubte die AKP-MHP-Macht den türkischen Nationalstaat retten zu können.

Dagegen treten die Kurden und alle Oppositionellen weiterhin und mit aller Vehemenz für die Demokratisierung des Landes und folglich für autonome Selbstorganisierung und eine starke Dezentralisierung der Türkei ein. Was aber Deutschland und Europa von der Türkei wollen, ist nicht nachvollziehbar.

Eines ist jetzt vor allem nach dem Referendum klar und deutlich geworden. Erdoğan wird trotz Infragestellung des Abstimmungsergebnisses nicht mehr so leicht aufzuhalten sein. Verbalkritik aus Berlin wird Erdoğan nun erst recht nicht hören wollen.

Es ist zu erwarten, dass Erdoğan jetzt nach dem Referendum zunächst viele seiner Parteigenossen zur Rechenschaft ziehen wird für das schlechte Abstimmungsergebnis. Das heißt, eine interne Säuberungsaktion wird folgen. Denn er hat das Plebiszit in etlichen strategisch wichtigen Städten wie Istanbul, Ankara, Izmir, Hatay in der Grenzregion zu Syrien sowie in kurdischen Großstädten wie Wan, Amed und Mêrdîn verloren. Daher wird sowohl eine interne Säuberung in den Reihen der AKP als auch eine Intensivierung des Krieges gegen die Kurden zu erwarten sein, ferner Diffamierungskampagnen gegen mögliche Rivalen Erdoğans. So wurde bereits der ehemalige Staatspräsident und Weggenosse Erdoğans, Abdullah Gül, aus den Reihen der AKP als »Mann der Briten« tituliert. Auf diese Weise werden wohl noch weitere Personen aus dem religiös-konservativen Spektrum, die nicht auf Erdoğans Linie sind, als Zielscheibe dienen.

Mit diesen Begleiterscheinungen ist aus dem einst vielfach hochgepriesenen Land, das als Paradebeispiel des moderaten Islams galt und dem der EU-Beitritt winkte, eine Türkei geworden, die von keiner Seite mehr irgendein Vertrauen genießt. Aus dem überall respektierten Land mit den »null Problemen mit den Nachbarn« ist ein Land geworden, das überall zur Ursache von Problemen wird. Die Politik der »null Probleme« hat sich zur Realität der »null Freunde« entwickelt.

Weder das AKP-MHP-Bündnis noch Erdoğans Autokratie können die Türkei wieder in die Lage vor dem Syrienkrieg zurückversetzen. Der türkische Nationalstaat ist zum Scheitern verurteilt. Weder die Kurden noch alle anderen Oppositionskräfte werden zum Schweigen zu bringen sein. Im Gegenteil, nach dem Referendum wird sich die Opposition in der Türkei noch effektiver, noch zielgerichteter bewegen. Die starke politische Polarisierung im Zusammenhang der Debatten um die Verfassungsänderungen wird die Türkei anfälliger machen für Interventionen von innen wie außen. Denn politische Polarisierung befördert auch die politische Spaltung.

Die erfolgreiche Strategie des dritten Weges öffnete viele Türen

Gleichzeitig werden sich die Kurden in Syrien aufgrund ihrer jetzigen günstigen politischen Lage noch intensiver um internationale Anerkennung für die Demokratische Föderation Nordsyriens bemühen. Die Strategie des dritten Weges hat ihnen in diplomatischen und politischen Bereichen viele Türen geöffnet. Sie genießen aufgrund ihrer konsistenten Haltung als dritte Kraft in der Syrienpolitik regionales wie internationales Vertrauen. Erdoğan wird es nicht gelingen, der Unterstützung und Anerkennung der Kurden und ihrer politischen Konzepte in Syrien einen Riegel vorzuschieben. Schneller kann dieser Prozess ablaufen, wenn die Kurden notwendige politische und diplomatische Unterstützung vor allem aus Europa und Deutschland erhalten. Zwischen den Kurden, den USA und Russland ist ein gewisses Niveau der Zusammenarbeit in Nordsyrien erreicht worden. Europa und vor allem Deutschland könnten sich anschließen und für den Prozess eines neuen demokratischen Syriens förderlich wirken.

Die Türkei kann längst nicht mehr der strategische Partner sein, für den sie bislang gehalten wurde. Sie hat ihre strategische Bedeutung verloren, weshalb alle, die darauf bauten, auch durcheinandergeraten sind. Während sie sich aufgrund ihrer fehlerhaften Politik zu einem Land mit schwindender taktischer Bedeutung entwickelt hat, sind die Kurden auf dem besten Wege zu einer neuen strategischen Kraft. Während die Türkei immer mehr Freunde verliert, gewinnen die Kurden immer mehr Freunde dazu, da sie in den letzten fünf Jahren in Syrien die Strategie des dritten Weges erfolgreich verfolgt haben. Für Europa wird das selbstverständlich schmerzlich sein, da es die kurdische Frage als eine taktische Karte und den türkischen Nationalstaat zu einer strategischen Institution für seine Mittelostpolitik entwickelt hat. Nun gibt es im 21. Jahrhundert einen Rollenwechsel. Nicht ein Nationalstaat, sondern ein staatenloses Volk als non-state actor wird zu einem Aktivposten. Es bleibt abzuwarten, ob Europa das ernst nimmt. Jedenfalls werden die Kurden auch ohne eigenen Staat ihre Politik erfolgreich fortzusetzen wissen.