Wichtige Stellungnahme der Êzîden aus Kurdistan und dem Ausland

Aus der Vergangenheit gelernt

Dachverband des Êzîdischen Frauenrats e. V.

Die Koordination der Demokratischen Êzîdischen Gesellschaft, die aus 16 Parteien, Organisationen und Institutionen aus Sindschar [kurd.: Şengal], Nord- und Westkurdistan, Europa, Russland und Armenien besteht, hat internationale Truppen um Hilfe für Sindschar gebeten und einen Forderungskatalog mit acht Punkten aufgestellt. Sie hat die êzîdische Gemeinschaft und ganz Kurdistan zur Einigkeit und Verstärkung des Kampfes aufgerufen und aufgrund der Banden-Angriffe auf den Ort Xanesor in Sindschar eine dringende Stellungnahme abgegeben (Ende März 2017).
Darin wird daran erinnert, dass die Êzîden während des 73. Genozids von den Peşmerge und den irakischen Truppen alleingelassen worden seien, die êzîdische Gemeinde nun jedoch eine eigene Verteidigungseinheit aufgestellt habe und somit den Willen zur Selbst­organisation zeige. In der Stellungnahme wird darauf aufmerksam gemacht, dass der Wille der Êzîden so manchen Außenstehenden gestört habe, weshalb in München und Ankara Angriffe geplant worden und die Angriffe auf Xanesor dessen Resultat seien.

Angriff auf die Bevölkerung Şengals | FotoÇ ANHADie Stellungnahme der Koordination im Wortlaut:

Am 3. März 2017 haben einige Bandengruppierungen einen Vorort von Sindschar, genannt Xanesor, angegriffen und einen erneuten Genozid verüben wollen. Gegen diesen Angriff hat das gesamte Volk, haben vor allem aber die Verteidigungseinheiten von Êzîdxan, die YBŞ/YJŞ [Widerstandseinheiten Şengal/Fraueneinheiten Șengal], Widerstand geleistet und nicht zugelassen, dass die Angreifer ihr Ziel erreichen. Während dieses Widerstands haben sich sieben Kämpfer von Êzîdxan als Schutzschilde geopfert und sind gefallen. Auch in ganz Kurdistan und im Ausland hat unser Volk einen bedeutenden und wertvollen Protest gezeigt. Wir begrüßen diesen ruhmreichen Widerstand der Beschützer Êzîdxans und unseres Volkes und verneigen uns vor den Märtyrern des Widerstands.

Milizen des Regimes stecken in Schwierigkeiten

In einer Zeit, in der das Schicksal des Mittleren Ostens neu definiert wird, in der die Stimmen, die Farben und die Religionen der Region allen ein gleichwertiges freies Leben bringen, sind derartige Angriffe einzuordnen. Die Milizen des Regimes, der Unterdrücker und der Diktatoren, die Angst haben vor der Zerstörung ihres Systems und deshalb nun in Schwierigkeiten stecken, planen nacheinander, wie sie ihre Existenz bewahren können. In diesem Zusammenhang verurteilen wir die jüngsten Angriffe auf Xanesor und sehen sie als Teil dieser Pläne.

Es ist außerordentlich interessant, dass die Angriffe auf Xanesor nach den Treffen in München und Ankara durchgeführt wurden. Auf diesen Treffen waren Angriffspläne geschmiedet worden. Besonders auffällig ist, dass unter den Angreifern auch Mitglieder des MIT [türkischer Geheimdienst] waren, die beim 73. Genozid an den Êzîden ebenso ihre Rolle gespielt haben.

Wo waren sie während des Genozids?

Das Ziel der Angreifer war es, eine Grenze zwischen Sindschar und Westkurdistan (Rojava) zu ziehen. Gut; was gibt es in dieser Region? Warum wollen sie dort hinein? Ist diese Region in der Hand der IS-Banden (Daesch)? Als die brutalen IS-Banden den Genozid verübten, wo waren diese Gruppen?

Bekanntlich hatte der IS, der nichts von Menschlichkeit versteht hat, am 3. August 2014 die Stadt Sindschar und alle umliegenden Dörfer angegriffen und einen Genozid am êzîdischen Volk verübt. Dabei wurden zehntausende Kinder, Mädchen, junge Männer, Frauen und alte Menschen ermordet. Tausende wurden entführt, Mädchen, Frauen und Mütter der Êzîden wurden mit den abscheulichsten Taten der Menschheit konfrontiert.

Hunderttausende unseres Volkes sind geflüchtet und haben Elend erlebt, viele sind gestorben.

Peşmerge und irakische Regierungstruppen ließen das Volk im Stich

Zu dieser Zeit überließen die irakischen Kampfverbände und die Peşmerge unser Volk der Brutalität der Banden und verließen die Region. 12 000 Peşmerga-Kämpfer wurden zurückgezogen und das Volk wurde alleingelassen. Ein ausschlaggebender Grund für einen derartigen Genozid waren die erwähnten Truppen.

YBŞ/YJŞ sind die Antwort auf diesen Genozid

Diejenigen, die den Êzîden zur Hilfe eilten, waren die mutigen Kämpfer der YPG/YPJ [Volksverteidigungseinheiten und Frauenverteidigungseinheiten aus Rojava] und der HPG-Guerilla [Volksverteidigungskräfte]. Sie errichteten einen Korridor der Humanität und retteten somit tausende Êzîden. Die êzîdische Glaubensgemeinschaft, die bereits 73 Genozide erleben musste, hat nun kein Vertrauen mehr in externe Verteidigungskräfte. Daher haben sie ihre eigenen Volksverteidigungseinheiten geschaffen. YBŞ und YJŞ, die während des Genozids gegründet wurden, sind ihre Antwort darauf. Nachdem die Êzîden in Sicherheit waren, begannen die YBŞ/YJŞ mit der Befreiung des heiligen Gebiets und haben bis heute bereits viele Dörfer in Sindschar und Sindschar selbst befreit. Eines der zurückeroberten Camps für die Geretteten wurde zuletzt von den Banden angegriffen. Auch Xanesor wurde 2014 durch die YBŞ/YJŞ von den Banden gesäubert.

Xanesor ist Zentrum des Willens der Êzîden

Seit zweieinhalb Jahren haben die Êzîden ihren Willen auf diesem heiligen Boden neu definiert. Von den Verteidigungseinheiten, der Politik bis hin zur Gesellschaft, Kultur, Sprache und dem Glauben, in allen Lebensbereichen haben sie ihre Institutionen aufgebaut und ihrer Selbstverwaltung große Aufmerksamkeit geschenkt. Xanesor ist als Zentrum des Willens ungebunden. An den Fakten wird deutlich, dass das Ziel der Angriffe die Zerstörung des Willens des freien Volkes ist. Die Angreifer wissen, dass sie aus diesem Willen keinen Vorteil ziehen können, daher planten sie Sindschar zu umzingeln und einzunehmen.

Wir haben das Recht, uns selbst zu verwalten

Aus allen Ereignissen, den Genoziden, den Fluchtursachen und allen Schwierigkeiten, die je ertragen wurden, haben die Êzîden umfangreiche Erfahrungen gewonnen. Unsere Gesellschaft zweifelt an jeder Politik, die in Sindschar betrieben wird. Aufgrund all dessen sind diese Zweifel berechtigt. Unsere Gemeinschaft glaubt nicht mehr daran, dass irgendeine externe Verteidigungskraft sie schützen und administrieren kann. Wir wollen also keine andere Volksverteidigungskraft auf diesem Boden. Wir haben das Menschenrecht und das allgemeine Recht auf unsere eigene Verwaltung und Verteidigung.

Solange es keine Einigkeit gibt, können wir uns nicht verteidigen

Auf dieser Grundlage rufen wir vor allem die Êzîden auf dem heiligen Boden, in allen vier Teilen Kurdistans und im Ausland dazu auf, unter der Herrschaft des freien Willens eins zu werden und ihre Position deutlich zu machen. Wir dürfen nicht vergessen, dass wir uns, solange keine Einigkeit besteht, nicht verteidigen können und nicht anerkannt werden. Die Unruhe, die durch die Angriffe auf Xanesor entstand, hat sich noch nicht gelegt. Die Angreifergruppen sind nach wie vor in ihren Stellungen und der Grund für Gefahr und Unruhe. Solange es sie gibt, wird die Gefahr andauern. Daher ist es notwendig, dass unser Volk aufsteht und die Stimme von Sindschar zu allen internationalen Institutionen trägt, bis diese Truppen zurückgezogen werden.
Wir rufen auch das gesamte kurdische Volk dazu auf, seine Position deutlich zu machen, weil es nicht nur ein Problem der Êzîden ist, es stellt auch gleichzeitig ein Problem für Kurdistan dar und einen Angriff auf seine Ehre. In diesem Rahmen bitten wir vor allem unser Volk in Südkurdistan, seine politischen Parteien und Institutionen, den Verrat und die Politik, die seine Gegner unterstützen, aufzuhalten.

Die Geschehnisse von Ninive (Ninawa) müssen den gemeinsamen Kampf voranbringen

Die erwähnten Angriffe sind dieselben Angriffe auf die vielfältige Kultur Nineves. Daher rufen wir die Assyrer, Aramäer, Turkmenen, Kaka‘i, Schabak, Schiiten und Araber dazu auf, sich dem êzîdischen Kampf gegen die Politik des Genozids, der Assimilation, der Entführung und der Vernichtung anzuschließen.

Internationale Truppen sollen unseren Willen kennenlernen

Gleichzeitig rufen wir die internationalen Institutionen auf, nicht zu den Angriffen zu schweigen, die den Willen unseres Volkes schwächen, und Haltung zu zeigen. Unsere Bitte an die Vereinten Nationen und die Europäische Union ist, Sindschar als besonderen Tagesordnungspunkt zu behandeln. Mit dieser Absicht wollen wir unsere Forderungen vorstellen:

1. Damit sich die Unruhen nicht verschärfen, ist es wichtig, dass die Kräfte, die ursächlich sind für die Krise und in der Region von Xanesor platziert wurden, innerhalb kurzer Zeit von dort abgezogen werden. Die jetzt in der Region erlebte Unruhe ist wie ein Fass voll Sprengstoff, das jeden Moment zu explodieren droht. Daher sind wir für mögliche zukünftige Ereignisse nicht verantwortlich.

2. Die Waffen, die die internationale Koalition der PDK zur Bekämpfung des IS zur Verfügung gestellt hat, müssen kontrolliert werden und es darf nicht erlaubt sein, dass diese Waffen gegen unser Volk eingesetzt werden.

3. Unsere Bitte an die internationalen Truppen ist es, sich in dieser unruhigen Situation zu engagieren und unabhängige Lieferungen in die Region zu schicken.

4. Unsere êzîdische Gemeinschaft wurde aufgrund ihres Glaubens und ihrer Kultur von Hegemonialeinheiten eingekreist. Daher ist es für den Schutz der Kultur und des Glaubens der Êzîden notwendig, eine internationale Verteidigung aufzustellen.

5. Die Bedrohung für das êzîdische Volk besteht auch für Teile und die Kultur Ninives. Daher bedarf es zum Schutz der Kultur, des Glaubens und der Identität der Assyrer, Aramäer, Kaka‘i, Turkmenen, Schiiten, Schabak und Araber der Einleitung von Schutzmaßnahmen.

6. Es ist wichtig, dass das 73. Massaker als Genozid anerkannt und die êzîdische Gemeinde als Erbin der Geschichte verstanden und geschützt wird.

7. Als Êzîden sehen wir uns aufgrund der Gefährdung in der Vergangenheit verpflichtet, uns selbst zu verwalten und zu schützen. Unsere Bitte an die Weltgemeinschaft ist es, diesen Willen anzuerkennen und zu akzeptieren. Auf dieser Grundlage bitten wir darum, den Status von Sindschar anzuerkennen.

8. Die êzîdische Gemeinde hat bisher 73 Genozide durchgemacht und war ständig mit Angriffen von außen konfrontiert. Diese Gefahr besteht bis heute. Aufgrund dessen brauchen wir unsere eigenen Kräfte zur Verteidigung. In diesem Zusammenhang wollen wir, dass YBŞ und YJŞ als Volksverteidigungseinheiten von Sindschar anerkannt werden und man sich mit ihnen solidarisiert.

Die Komponenten der Koordination

Die Koordination der Demokratischen Êzîdischen Gesellschaft wurde am 6. Dezember 2016 in Xanesor auf einer ausführlichen Sitzung gegründet. Anwesend waren die Vertreter der Institutionen der Êzîden von Sindschar, Nord- und Westkurdistan, Russland, Armenien und Europa. Nach umfassenden Diskussionen wurde die Erklärung der Koordination einstimmig angenommen.

Die Koordination besteht aus folgenden Institutionen und Organisationen:

Europa:
1. Zentrum der Vereinigung der êzîdischen Verbände (NAV­YEK)
2. Frauenrat der Êzîden in Europa
3. Rat von Sindschar im Ausland
4. Jugendrat der Êzîden in Europa
5. Freundschaft der Êzîden aus Rojava in Europa

Westkurdistan:
1. Vereinigung der Êzîden im Kanton Afrîn
2. Frauenvereinigung der Êzîden im Kanton Afrîn
3. Êzîdisches Haus im Kanton Cizîrê

Nordkurdistan:
1. Plattform der Unterstützung für êzîdische Frauen
2. Rat der Êzîden

Russland und Armenien:
1. Rat der Êzîden in Russland
2. Rat der Êzîden in Armenien

Sindschar:
1. Gründungsrat von Sindschar
2. Freiheitsbewegung der Êzîdischen Frauen (TAJÊ)
3. Partei der Freiheit und der Demokratie der Êzîden (PADÊ)
4. Êzîdischer Jugendrat