Debatte

Der Wind weht auch zu uns

Fabienne Zdenka

Der erfolgreiche Kampf der kurdischen Befreiungsbewegung und die gesellschaftlichen Entwicklungen in Rojava haben weltweit nicht nur zu einem Erstarken der Solidaritätsbewegung geführt, sondern auch dazu beigetragen, die Suche nach einer revolutionären Perspektive in den kapitalistischen Zentren wieder zu beleben. Die Berichte über die gesellschaftliche Basisorganisierung in Kommunen und Stadtteilräten und den revolutionären Aufbruch in Nordsyrien erreichten die hiesige Linke in einer Zeit, in der die eigene gesellschaftliche Wirkungslosigkeit angesichts wachsender rechter und rassistischer Mobilisierungen einmal mehr schmerzhaft spürbar geworden war und eine neue Phase der Selbstkritik eingeleitet hatte. Im Mittelpunkt stand die Frage, warum es der außerparlamentarischen Linken in den letzten Jahrzehnten nicht gelungen war, an Aufwind zu gewinnen. Und dies, obwohl sich der Kapitalismus heutzutage – anders als noch in den 1990er Jahren, als er nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion seinen ideologischen Siegeszug feierte – gesellschaftlich durchaus in einer Legitimationskrise befindet. Immer offensichtlicher tritt die enorme Zerstörungskraft des entgrenzten, globalisierten Strebens nach Profit in den letzten Jahrzehnten zutage, sei es in der zunehmenden ökologischen Krise, der Ausbreitung von äußerster Armut und Elend im globalen Süden oder der Ausweitung von imperialistischen Kriegen und bewaffneten Auseinandersetzungen. Die Folgen der neoliberalen Umstrukturierung und globalen Wirtschaftskrise haben dabei längst die kapitalistischen Zentren erreicht. In den Randstaaten der EU hat die eisern durchgesetzte Austeritätspolitik bereits zu einer weitreichenden Aufkündigung all jener gesundheits-, bildungs- und sozialpolitischen Ausgleichs- und Sicherungssysteme geführt, welche seit dem Ende des Zweiten Weltkriegs den tragenden Sozialkompromiss der europäischen, parlamentarisch regierten Nationalstaaten begründet hatten. Aber auch in den Kernländern, wie der BRD, finden sich immer mehr Menschen in prekären Arbeits- und Lebenssituationen wieder und verarmen. Gleichzeitig macht sich in der Gesellschaft auch der Unmut gegenüber einer politischen und wirtschaftlichen Machtelite breit, die – weit entfernt von jeglicher gesellschaftlichen Kontrolle – einseitige Interessenpolitik betreibt und mit der Realität der allermeisten Menschen nichts zu tun hat. In vielen der sozialen Proteste Europas (aber auch in den rassistischen Mobilisierungen von PEGIDA & Co) brachten Slogans wie »Sie vertreten uns nicht mehr« diese Grundstimmung zum Ausdruck. Zudem wächst auch die emotionale Unzufriedenheit, hinterlässt die Welt des Spektakels und der Lügen doch ein überdauerndes Gefühl der Sinnlosigkeit und Leere, das sich in der Zunahme von Depressionen und der Suche nach kollektiven Identitäten Ausdruck verschafft.

Die Anzahl derjenigen, die ein existentielles Interesse an der Veränderung der Verhältnisse haben könnten, wächst also – auch in der BRD – beständig und es gäbe genug Gründe, dass antikapitalistisch und global ausgerichtete, radikal emanzipatorische Vorschläge Zulauf oder zumindest Interesse gewinnen könnten. Trotzdem kanalisiert sich die Unzufriedenheit momentan v. a. in einem Erstarken autoritärer, rechter, rassistischer oder religiös fundamentalistischer Bewegungen und Parteien. Die außerparlamentarische Linke in der BRD konnte ihren gesellschaftlichen Einfluss dagegen nicht ausweiten und war nicht in der Lage, eine radikale emanzipatorische Alternative zu formulieren. Hat sie selbst den Glauben an die Machbarkeit solcher Entwürfe und damit Anspruch und Vorstellung einer revolutionären gesellschaftlichen Veränderung doch längst selbst verloren. Ungeachtet der oft radikalen Rhetorik hat sie sich folglich schon seit Jahren faktisch mit der Rolle der Protestbewegung und des Korrektivs der schlimmsten Auswüchse von Kapitalismus und Nationalstaat begnügt. Gesellschaftliche Basisarbeit und der Aufbau sozialer Kämpfe von unten sind einem machtpolitischen »Abwehr-Realismus« samt Bündnissen mit Repräsentant_innen und Institutionen des bestehenden Systems gewichen. Durch den jahrzehntelangen Rückzug aus dem gesellschaftlichen Raum und das Misstrauen gegenüber einem gesellschaftlichen Potential zur Veränderung hat die radikale Linke so selbst mit dazu beigetragen, sich in die gesellschaftliche Marginalität und politische Sackgasse zu manövrieren.1

Die globale Wirtschaftskrise von 2009 und die ihr folgenden weltweiten sozialen Proteste und Aufstände setzten jedoch auch hierzulande zögerlich neue Diskussionen in Gang. Spätestens seit 2012 wurde wieder intensiver über die Frage diskutiert, mit welchen politischen Ansätzen die radikale Linke aus ihrer gesellschaftlichen Marginalität ausbrechen und auf die neuen gesellschaftlichen Entwicklungen reagieren könne. Allerdings wurden diese Auseinandersetzungen anfangs eher defensiv geführt und waren von einer unübersehbaren Ohnmacht geprägt. War die Hoffnung auf einen gesellschaftlichen Wandel, die mit den weltweiten sozialen Erhebungen neu aufgekeimt war, doch mit den reformistischen bis autoritären Wendungen von Syriza bis al-Sisi nach nur kurzer Zeit wieder begraben worden. Viele Zusammenhänge der außerparlamentarischen Linken reagierten auf diese Entwicklungen mit einer Intensivierung jener Mischung aus Ohnmacht und Trotz, die ihre Politik des »business as usual« bereits zuvor Jahr um Jahr von Kampagne zu Kampagne getragen hatte.

Die Erfolge der kurdischen Bewegung in Nordsyrien und das im Konkreten erlebbare Gesellschaftsprojekt von Rojava wirkten insofern wie ein Befreiungsschlag und führten zu einem regelrechten Aufflammen der Diskussionen und Auseinandersetzungen um die Notwendigkeit grundlegender Veränderungen der eigenen Politik und politischen Konstituierung. Dies zeigt sich u. a. an den zahlreichen Analysen und Strategiepapieren, die seit 2014 veröffentlicht wurden.2 Während sich die Diskussionen anfangs nur auf einige Kreise beschränkten, hat diese Tendenz inzwischen spürbar an Kraft und Zulauf gewonnen, was sich dieses Jahr u. a an der großen Beteiligung an überregionalen Zusammenkünften wie der Konferenz »Die kapitalistische Moderne herausfordern III« in Hamburg oder dem Kongress »Selber machen – Basisorganisierung, Gegenmacht und Autonomie« in Berlin zeigte. Hinzu kommen verschiedene konkrete Initiativen und neue praktische Ansätze, so dass sich ohne Übertreibung von einem Aufbruch eines Teils der außerparlamentarischen Linken sprechen lässt.

Nun könnte man dagegenhalten, dass Phasen intensiverer Diskussionen über Strategie und Praxis innerhalb der außerparlamentarischen Linken grundsätzlich nichts Neues sind. In regelmäßigen Abständen werden seit den späten 1980ern immer wieder ähnliche Diskussionen geführt und auch in den letzten 15 Jahren gab es Versuche, solche Auseinandersetzungen in Gang zu bringen – allerdings ohne dass sich merklich etwas an der Praxis der meisten Zusammenhänge geändert hätte. Neu an den aktuellen Auseinandersetzungen ist jedoch, dass sich in ihnen eine neue Kraft und Hoffnung artikuliert, eine erstaunliche Ernsthaftigkeit sowie die Rückkehr zum Fundament jeglicher emanzipatorischen Gesellschaftsveränderung: der Anerkennung des gesellschaftlichen Potentials zur emanzipatorischen Entwicklung und der gesellschaftlichen Verankerung der eigenen Praxis von unten her. Die lähmende Ohnmacht der letzten Jahrzehnte ist damit ins Wanken geraten und das Ziel einer grundlegenden gesellschaftlichen Veränderung wieder spürbarer geworden.

Dennoch liegen noch eine Reihe von Herausforderungen und Hindernissen vor uns. So haben sich neoliberale und individualistische Konzepte und Denkweisen tief in Theorie und Form unserer Organisierung eingeschlichen und erschweren eine inhaltliche, praktische wie organisatorische Neuausrichtung. Politik ist für die allermeisten nach wie vor ein Zusatzprojekt, eine unverbindliche Möglichkeit für eine bestimmte Zeit. Die notwendige Bereitschaft, tatsächliche persönliche und politische Konsequenzen aus den Diskussionen zu ziehen, ist nach wie vor gering. Auch haben die Diskussionen auf den Kongressen gezeigt, dass es insbesondere in Bezug auf die Frage, welche Rolle der radikalen Linken im Prozess der Gesellschaftsveränderung zukommt, noch sehr unterschiedliche Standpunkte mit weitreichenden inhaltlichen und organisatorischen Konsequenzen gibt. Ein Teil der Aktivist_innen sieht sich selbst als (teilweise neu entdecktes) Subjekt und damit Ausgangspunkt und Ziel der eigenen Politik. Damit rückt die Selbstorganisierung im jeweils eigenen Alltag in den Mittelpunkt der politischen Praxis. Gesellschaftlicher Basisarbeit mit dem Ziel, breitere Prozesse politischer Bewusstseinsbildung und Organisierung von unten anzustoßen, wird skeptisch bis ablehnend gegenübergestanden. Denn eine Rolle als Initiativkraft für emanzipatorische gesellschaftliche Organisierung und Kämpfe wird von ihnen ebenso abgelehnt wie die Notwendigkeit einer verbindlichen Organisierung revolutionärer Kräfte und damit strategischen Entwicklung der eigenen politischen Praxis auf Basis der Analyse der gesellschaftlichen Bedingungen und Potentiale.

Neben diesen inhaltlichen Unterschieden steht eine Vielzahl offener Fragen hinsichtlich der Form revolutionärer Basisarbeit, die einer tieferen und kollektiven Auseinandersetzung wie auch geeigneter Räume dafür bedürfen. Im Vordergrund steht dabei die Frage, mit welchen konkreten Praktiken erreicht werden kann, dass sich mehr Menschen eine kritische Denkweise aneignen und die Motivation entwickeln, sich an einem Kampf gegen das herrschende System zu beteiligen. Das schließt u. v. a. die Fragen mit ein: Wo gibt es in dem durch und durch sozialstaatlich strukturierten Alltagsleben überhaupt Nischen, um ein Bedürfnis nach Selbstorganisierung zu entwickeln? Wie könnte so eine Organisierung im Konkreten aussehen? Wie können wir verhindern, dass Prozesse der Selbstorganisierung und emanzipatorische Kämpfe vom herrschenden System vereinnahmt werden? Und wie vermeiden wir es, in der Basisarbeit zu Sozialarbeiter_innen zu werden?

Bei dem Versuch, den Wind des revolutionären Aufbruchs von Rojava auch in die Herzen der kapitalistischen Zentren zu tragen, reicht es sicherlich nicht aus, sich enthusiastisch, aber blind in eine neue politische Praxis zu stürzen. Vielmehr müssen wir uns intensiv mit den offenen Fragen beschäftigen und die eigene Praxis entsprechend strategisch konzipieren und kontinuierlich analysieren und reflektieren. Auch wird es uns nicht helfen, Konzepte, die von kämpfenden Bewegungen in anderen Ländern aus einer Analyse der dortigen gesellschaftlichen Bedingungen und jahrelanger Basisarbeit entwickelt wurden, einfach nach hier zu kopieren. Zwar ist die Entwicklung zu begrüßen, dass die eurozentristische Überheblichkeit gegenüber außereuropäischen revolutionären Bewegungen innerhalb der westlichen Linken ab- und die Bereitschaft, selbstkritisch von diesen zu lernen, wieder zunimmt. Denn insbesondere von der kurdischen Bewegung und den Zapatist_innen lassen sich im Hinblick auf Methoden, Organisierung, revolutionäre Ethik, Analyse und Praxis wichtige (Selbst-)Erkenntnisse für die Entwicklung eines ernsthaften revolutionären Kampfes gewinnen. Um diesen hier auf eigene Füße zu stellen, ist es aber notwendig, eigene Strategien und Formen der Organisierung zu entwickeln, die auf einer umfassenden Analyse der hiesigen gesellschaftlichen Bedingungen und zentralen Unterdrückungsmechanismen basieren. Denn anders als in Rojava und Chiapas haben wir es in der BRD mit einer Gesellschaft zu tun, die sich seit mehr als 200 Jahren im Zentrum der kapitalistischen Entwicklung befindet und strukturell und ideologisch wesentlich davon geprägt wurde. Widerständige kollektive oder kulturelle Identitäten sowie Formen kommunalen Lebens wurden in diesem Prozess weitgehend zerschlagen und das kulturelle Bewusstsein ist – anders als in Kurdistan oder Chiapas – kein Ausdruck einer unterdrückten Identität, sondern Folge eines nationalen Herrschaftsprojektes von oben. Auch ist der Nationalstaat mit seinem Konzept der individualisierten Staatsbürger_innen und entfremdeten Verwaltung formal und ideologisch viel tiefer in das Zusammenleben und gesellschaftliche Bewusstsein eingedrungen, als es in irgendeiner Gesellschaft des Mittleren Ostens der Fall ist. Die Unterschiede müssen bei der Frage, ob und wie das Konzept des demokratischen Konföderalismus auf hier übertragbar ist, ebenso mit berücksichtigt werden wie eine Auseinandersetzung mit unterschiedlichen Rätemodellen und deren Implikationen. Für die Analyse und Entwicklung einer erfolgreichen Strategie und Perspektive für die hiesige Gesellschaft braucht es deshalb eine ernsthafte inhaltliche Auseinandersetzung mit unterschiedlichen emanzipatorischen Theorien, welche die Geschichte hervorgebracht hat. Dazu gehört auch ein tieferer Austausch zwischen marxistischer Theorie und apoistischer Ideologie, der auf oberflächliche Vorurteile verzichtet.

Als Symbol und Ort der Erfahrung ist Rojava für die Linke weltweit von großer Bedeutung und braucht eine starke internationale Solidarität. Internationalismus ernst zu nehmen, heißt jedoch darüber hinaus, eine revolutionäre Praxis in der hiesigen Gesellschaft zu entwickeln. Die aktuellen zaghaften, aber bemerkenswerten Entwicklungen sind hierfür ein hoffnungsvolles Zeichen.Internationalist*innen in Rojava

Fußnoten:
1- Sicherlich ist es zu einfach, den Verlust der gesellschaftlichen Wirkmächtigkeit nur als Folge falscher politischer Ansätze der Linken zu erklären und den Einfluss von Unterdrückung und Hegemonie des herrschenden Systems sowie autoritäre und rassistische Tendenzen in der Gesellschaft kleinzureden. Dennoch sind die Wahlerfolge von Trump, den Brexit-Befürworter_innen bis AfD nicht nur Ausdruck gefestigter rechter Ideologien, sondern auch eines breiten Protestes, der sich gegen das politische Establishment und die Arroganz der Macht richtet und mangels einer klar formulierten emanzipatorischen Alternative in den rechten Parteien den einzigen vermeintlichen Bruch mit diesen vermutet.

2- Hier findet sich ein unvollständiger Überblick über in den letzten Jahren veröffentlichte Strategiepapiere: https://www.selbermachen2017.org/deu#auswertung