Über die dritte Konferenz »Die kapitalistische Moderne herausfordern«

Widerstand leisten und eine andere Welt schaffen in Kurdistan

Raúl Zibechi, Journalist, GARA online 07.05.2017

Raúl ZibechiWährend das von Recep Tayyip Erdoğan angeführte türkische Regime unter dem Schweigen der Großmächte Russland und USA den Norden Syriens mit Jagdflugzeugen und Artilleriefeuer bombardieren ließ, kamen in Hamburg zwischen dem 14. und dem 16. April Teile des kurdischen Widerstands und solidarische Personen zusammen und veranstalteten die dritte Konferenz »Die kapitalistische Moderne herausfordern«.

Unter dem Motto »Widerstand, Rebellion und Aufbau des Neuen« debattierten mehr als tausend Aktivisten über das, was man als Mittelpunkt aktuellen kurdischen Denkens bezeichnen kann: Wie die Welt verändern, ohne die Muster vergangener Revolutionen wiederzuverwenden, die dazu geführt haben, dass im Namen des Sozialismus neue repressive Gesellschaften geschaffen wurden?

Neben den herkömmlichen Panels mit Vorträgen, auch mit Botschaften aus den Bergen Kurdistans und dem befreiten Rojava, fanden auch mehr als ein Dutzend Workshops und Arbeitsgruppen statt, in denen der Frauen- und der Bildungsfrage die größte Aufmerksamkeit geschenkt wurde. Die Hälfte der Teilnehmer waren in Europa lebende Kurden (mit dem Schwerpunkt Hamburg, wo mehr als 100 000 Emigranten und Exilierte leben) und einige aus der Türkei Angereiste. Bei der anderen Hälfte handelte es sich um solidarische Europäer, einige aus dem Baskenland, und eine Handvoll Lateinamerikaner.

Besonders hervorhebenswert sind die Vorträge kurdischer Frauen. Ebru Günay ist Anwältin Abdullah Öcalans, weshalb sie 2009 festgenommen und für fünf Jahre ins Gefängnis gesperrt worden war. In ihrem Vortrag erwähnte sie den Hungerstreik 200 politischer kurdischer Gefangener und hielt fest, dass »alle Schöpfungen außerhalb des Kapitalismus von der Kultur des Todes angegriffen werden«, die das türkische Regime verkörpert, weil sie »die neue Gesellschaft erobern wollen, die Gesellschaft der Solidarität, die mit der Gesellschaft des Todes koexistiert«.

Die Politologin Zilan Yağmur stellte den Kampf der Frauen in den Mittelpunkt ihres Vortrags. »Eine homogene Gesellschaft kann sich nicht verteidigen«, sagte sie. Sie rief dazu auf, Parallelstrukturen zum Staat zu schaffen, um »die Herrschaft auszuhöhlen und diese Kreationen zu vergrößern, aber wir müssen uns auch selbst verändern«. Die Erneuerung der kurdischen Bewegung, mit den Eckpfeilern des Aktivismus der Frauen und der Jugend, hat laut den Vortragenden eine universelle Tragweite.

Fuat Kav war zwanzig Jahre im düsteren Gefängnis »Diyarbakır 5« eingesperrt, wo er gefoltert und zum Tode verurteilt wurde, eine Strafe, die 2003 in Exil umgewandelt wurde. »Die Mechanismen des Staates hängen nicht von den guten Absichten der Personen ab, diese Mechanismen werden immer Instrumente dieses Staates sein, der niemals ein Freiraum sein kann«, so Kav. Er bediente sich einer Äußerung Bakunins, der zufolge ein Engel, wenn man ihn in eine Machtposition bringt, sich in einen Dämon verwandele, um zu begründen, dass die Staaten »über Mechanismen verfügen, die Gesellschaften zu zerstören«, und betonte, dass sich die Kurden von der Idee des Staates entfernten.

Nach Kavs Ansicht haben viele Kurden im Gefängnis die staatlichen Mechanismen und »was es vom Staat in uns gibt« verstanden. Er beendete seinen Vortrag unter Applaus in dem er hervorhob, dass »der Staat immer die Gesellschaft beherrscht«, wenn er auch nuancierte und sagte, dass »die Türkei nicht das Gleiche wie Bolivien« sei.

In der Arbeitsgruppe zu Bildung wurden Überschneidungen zwischen der kurdischen Bewegung und der Landlosenbewegung Movimiento Sin Terra (MST) in Brasilien festgestellt. Eine Dozentin aus Rojava, Ronahî, erläuterte die Charakteristiken der Bildung in den autonomen Zonen: »Das Ziel der Schulen ist es, den Konflikt und die Geschichte zu verstehen, um Widerstand leisten zu können, um über den demokratischen Konföderalismus zu lernen, wie die Selbstverwaltung zu erreichen und wie eine echte Demokratie zu schaffen ist.« Sie hob hervor, dass die Unterschiede zwischen Lehrern und Schülern zunehmend verschwänden, indem sich Letztere selbst befähigten.

Zwei zentrale Themen lassen sich aus allen Vorträgen herausfiltern: die Frauenfrage, die Frage des Patriarchats als identitätsstiftendes Merkmal der aktuellen kurdischen Bewegung, und die Notwendigkeit der Persönlichkeitsveränderung, die über Kritik und Selbstkritik erreicht werden soll.

Der Vortrag einer Guerillera, der per Video eingespielt wurde, ermöglichte es, die Debatte in diese Richtung zu vertiefen: »Bei der Frauenfrage geht es nicht um Rechte, sondern um das Überleben der Menschheit. Deshalb kann sie nicht nachrangig oder zweitrangig sein.« Es gehe darum, erklärte sie, das schwarze Tuch, das ihnen der Islamische Staat überstülpt, zu verbrennen, aber auch »das schwarze Tuch, das die Männer haben«.

Die Worte Öcalans durften nicht fehlen. Er selbst und seine Ideen waren in jedem Vortrag und in jeder Reflexion präsent. Er ist seit 1999 auf der Gefängnisinsel Imralı im Schwarzen Meer eingesperrt, wo ihn in den letzten Jahren niemand besuchen konnte. Dennoch haben seine Schriften die Mauern überwunden und seine zehn Bücher sind politische und kulturelle Güter geworden, die rund um die Arbeiterpartei Kurdi­stans (PKK) und heute auch in der Demokratischen Partei der Völker (HDP) Bedeutung haben.

In der HDP sind neben den Kurden diverse andere »Minderheiten« integriert, die den Widerstand gegen den türkischen Staat teilen. Sie verfügt über 59 Abgeordnete und ist im ganzen Land präsent, hat allerdings in Kurdistan eine Hegemonie. Es ist sicher, dass sich nicht nur die Kurden, sondern auch andere soziale Gruppen in der Türkei auf die Bewegung und die Ideen Öcalans beziehen.

Das letzte seiner ins Spanische übersetzten Bücher trägt den Titel »Manifest für eine demokratische Zivilisation« und den Untertitel »Kapitalistische Zivilisation. Die Ära der maskierten Götter und verhüllten Könige«. Öcalan lehnt Zentralismus ab und verteidigt die Gemeinschaft als nichtstaatliche Form des Regierens. Er stellt den Nationalstaat in Frage, den er als Schöpfung des Kapitalismus betrachtet und als »militärisches System« bezeichnet. Eine seiner Kritiken konzentriert sich auf den Ökonomismus, dem die Anhänger Marx‘ verfallen sind und der – so Öcalan – verhindere, dass sie verstehen, dass der Kapitalismus nicht Ökomonie ist, sondern eine Herrschaft über die Gesellschaft.

Abgeschlossen wurde die Veranstaltung von Fewza Yusuf, der Präsidentin der Demokratischen Föderation Nordsyrien: »Es ist das erste Mal, dass alle Ethnien zusammen darüber diskutieren, welche Art der Gesellschaft sie wollen, und zu einem Gesellschaftsvertrag kommen.« Bis 2012, als die Macht von Damaskus über den Norden des Landes bröckelte, war es den Kurden und den anderen Volksgruppen (Arabern, Assyrern, Armeniern, Tscherkessen und Turkmenen) weder erlaubt, ihre Dörfer und Kantone zu verlassen, noch ihre eigene Sprache zu sprechen.

Eine Ironie des Krieges ist es, dass sie »jetzt lernen, zusammenzuleben und Entscheidungen zu treffen, weil vorher alles in Damaskus entschieden wurde«, so Yusuf. Das ist vielleicht eine der tiefgründigsten Botschaften, die uns der Kampf des kurdischen Volkes (eine »Minderheit« von vierzig Millionen, die in vier Staaten lebt) vermittelt: dass es nur während der großen Erschütterungen möglich ist, die Routine zu durchbrechen und etwas Neues und Anderes zu beginnen aufzubauen.

Wenn sich nun die Oktoberrevolution, geboren aus den Verwüstungen des Ersten Weltkriegs, des bis zu diesem Zeitpunkt größten menschlichen Schlachtens, zum hundertsten Mal jährt, macht es Sinn, über die Probleme und Möglichkeiten nachzudenken, die schwere Konflikte mit sich bringen. Ohne Kriege hätte es keine Revolutionen gegeben. Wenn wir Revolutionäre nicht aus den Problemen lernen, die sie mit sich bringen – wie die Tendenz zum Zentralismus und zur Unbeweglichkeit –, beschränken wir uns darauf, immer wieder über denselben Stein zu stolpern.

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Quelle: GARA online 07.05.2017 (http://www.naiz.eus/eu/hemeroteca/gara/editions/2017-05-07/hemeroteca_articles/resistir-y-crear-otro-mundo-en-el-kurdistan)