Aktuelle Bewertung

Zeit der turbulenten Veränderungen

Songül Karabulut, Kurdistan Nationalkongress KNK

Songül KarabulutDer Besuch von US-Präsident Trump in Riad und Israel, die Katar-Krise, die fortschreitende Offensive in Raqqa, die Angriffe des Islamischen Staates (IS) in Teheran, der Abzug der Bundeswehr aus Incirlik, die Ankündigung eines Unabhängigkeitsreferendums in Nordirak, die Festnahme eines CHP-Abgeordneten in der Türkei, die wachsende Distanz zwischen EU und USA und vieles mehr sind die Weichensteller der aktuellen politischen Entwicklungen.

All diese Entwicklungen zeigen, dass wir noch weit davon entfernt sind, anhand der Puzzleteile schon ein Bild erkennen zu können, wie die neue Weltordnung aussehen wird. Vielmehr ähnelt die Situation einem Zauberwürfel, dem alle sechs Seiten nach Farben zu ordnen versucht werden, diese aber immer wieder aufs Neue zerstört und gemischt werden, weil die anderen Seiten durcheinandergeraten, während die eine nach einer Farbe geordnet wird.

Während zuerst der sunnitische Block durch die Stärkung der schiitischen Kraft (z. B. in Irak) geschwächt wurde, registrieren wir nun eine entgegengesetzte Entwicklung. Mit der sunnitischen Kraft soll nun das schiitische Lager gebremst werden. Dieser Kurswechsel wurde mit dem Amtsantritt Donald Trumps geplant und mit seinem Riad-Besuch im Mai in Gang gesetzt. Trump setzte dort an, wo G. W. Bush aufgehört hatte, und zwar Iran in der Achse des Bösen zu verorten und in Riad in Anwesenheit von Vertretern von mehr als fünfzig muslimischen Staaten zum Hauptverantwortlichen für Terror zu erklären. Sein Riad-Besuch war für Trump zudem ein sehr gelungenes Geschäft, denn unter Schwerttänzen wurden 380 Milliarden schwere Waffengeschäfte abgeschlossen. Eine weitere bedeutsame Entwicklung in diesem Zusammenhang ist Trumps Ankündigung einer 34 000 Mann starken Armee, die in Syrien und Irak im Antiterrorkampf eingesetzt werden soll. So etwas wie eine arabische NATO-Truppe.

Nur zwei Wochen später, am 5. Juni, trat »unerwartet« die Katar-Krise auf den Plan. Unter Führung Saudi-Arabiens und der Vereinigten Arabischen Emirate stellten Bahrain, Ägypten und Libyen alle Beziehungen zu Katar ein. Saudi-Arabien verhängte ein Embargo, alle fünf Staaten warfen Katar vor, es untergrabe aufgrund seiner Unterstützung für terroristische islamistische Gruppen Stabilität und Sicherheit. Nur einige Tage später folgten die Malediven, Mauretanien, Mauritius, Niger diesem Beschluss und kappten ebenfalls ihre Beziehungen. Senegal rief sogar seinen Botschafter aus Doha zurück. Katar ist einer der wichtigsten Unterstützerstaaten der dschihadistischen Gruppen. Es ist zu erwarten, dass durch diese Krise zwischen Katar und Saudi-Arabien die in Syrien gegen das Regime kämpfenden bewaffneten islamistischen Gruppen aneinandergeraten und sich zersplittern.
Wieder einmal war es die Türkei, die Partei ergriff für Katar – wie seinerzeit für die Muslimbrüder in Ägypten, die mit einem Militärputsch Präsident Al-Sisis abgesetzt worden waren. Die Türkei und Katar haben vieles gemeinsam. Folglich bergen die Sanktionen gegen Katar auch eine Botschaft an die Türkei, das weiß sie auch. Bei der Unterstützung dschihadistischer Gruppen kooperierte sie lange mit Katar. Folglich ist sie besorgt, Katar könne einknicken und Geheimnisse der gemeinsamen schmutzigen Kooperation preisgeben.

Ankara verstärkte als Antwort auf die Sanktionen seine Lebensmittelexporte nach Katar und erklärte zudem, die seit 2016 in Katar bestehende türkische Militärbasis innerhalb zweier Monate von 90 auf 250 Soldaten aufstocken zu wollen. Es ist auch bekannt, dass Katar der Türkei immer wie ein Rettungsring zu Hilfe eilte, sobald sich dort eine Wirtschaftskrise im Gefolge des Abzugs ausländischer Investitionen anzubahnen drohte. Das Investitionsvolumen Katars in der Türkei beläuft sich auf mehr als zwanzig Milliarden US-Dollar.

Auch in der Berichterstattung ist eine Hundertachtziggradwende zu erkennen. So meldete der englischsprachige Nachrichtersender Sky News, dass Katar hinter der Ermordung des tunesischen Linksoppositionellen Chokri Belaïd vom 6. Februar 2013 stehe und diesen Mord finanziert habe. Die Krise um Katar wird sich unmittelbar auch auf die Krise in der Region auswirken. Sie wird wie bereits gesagt die bewaffneten Kräfte in Syrien spalten und schwächen, zugleich aber auch die Rolle der Türkei und Irans in der Region noch weiter einengen.

Die IS-Angriffe in Teheran signalisieren auch, dass die ohnehin vorhandene Aggression gegen Iran stärker auf die Agenda rücken wird. Zum einen, da Iran seine Interessen in Irak und Syrien gesichert wissen will und sich daher allen voran in diesen, aber auch allen anderen Krisengebieten in der MENA-Region (»Middle East & North Africa«) engagiert. Sowohl die USA als auch Israel betrachten das im eigenen Interesse als Gefahr, was Trump zu seiner Nahostreise in die beiden als Erzfeinde Irans geltenden Staaten Israel und Saudi-Arabien bewogen hat.

Während die Befreiungsoffensive in Mûsil (Mosul, Nord­irak) nach langer Stagnation erneut mit der erklärten Offensive gegen die Altstadt aufgeflammt ist, sind bei der Offensive um Raqqa (Nordsyrien) große Erfolge zu verzeichnen. Tagtägliche Appelle Erdoğans an die USA, bei der Befreiung Raqqas anstatt auf die kurdischen Kräfte lieber auf die Türkei zu setzen, blieben erfolglos. Nachdem alle Drohungen und Anreize nichts gefruchtet hatten, musste sich Erdoğan Mitte Juni damit abfinden: »Trotz meiner Ermahnungen während meiner USA-Reise haben sie darauf beharrt, die Operation in Raqqa gemeinsam mit der PYD/PKK durchzuführen. Ich verstehe jetzt, da sie mit ihnen Hand in Hand, Arm in Arm gehen, dass sie diese nicht als terroristische Organisationen ansehen und gemeinsam mit diesen Terrororganisationen Raqqa einnehmen. Uns bleibt nur übrig, ihnen alles Gute zu wünschen.« Raqqa ist von strategischer Bedeutung, weil es die »Hauptstadt« des IS ist, und seine Befreiung wird dem IS folglich den Todesstoß versetzen. Das wird daher eine neue Lagebewertung mit sich bringen und die Rolle der Kurden bzw. der Demokratischen Kräfte Syriens (QSD) aufwerten. Die Tatsache, dass die Kurden in Zusammenarbeit mit der internationalen Koalition einen erfolgreichen Kampf gegen den IS führen, darf nicht verschleiern, dass sie parallel dazu gemeinsam mit der lokalen Bevölkerung eigene Strukturen der Demokratischen Selbstverwaltungen aufbauen und sich institutionalisieren.

Das Modell der Demokratischen Selbstverwaltung ist längst kein auf Kurden zu begrenzendes Projekt. Auch arabische Städte entscheiden sich nach ihrer militärischen Befreiung dazu, sich nach dem Modell von Rojava zu organisieren. Der Umstand, dass sich die Kurden nicht ausschließlich auf die taktische Zusammenarbeit mit internationalen Mächten wie den USA und Russland verlassen, sondern ihren eigentlichen Schwerpunkt auf die lokalen Bündnisse mit der Bevölkerung legen, stellt ihre Stärke dar und ist zugleich die effektivste Präventivmaßnahme gegen Vereinnahmung und Instrumentalisierung.

Die Entwicklungen in Nordsyrien setzen nicht nur die Türkei, sondern auch Nordirak unter Druck. Obwohl die Amtszeit des Präsidenten der Regionalregierung Kurdistan (KRG) Mesûd Barzanî seit zwei Jahren abgelaufen ist, Südkurdistan in einer Wirtschaftskrise steckt, so dass die Gehälter nicht ausgezahlt werden können, und das Land politisch polarisiert ist, kündigte Barzanî für September eine Volksabstimmung über die Unabhängigkeit der Autonomen Region an. Erst danach, im November, sollen Präsidentschafts- und Parlamentswahlen stattfinden. Dieser Entwicklung war die Flaggenkrise in Kerkûk vorausgegangen. Der Beschluss über das Unabhängigkeitsreferendum wurde mehrheitlich von kleinen Parteien unterstützt. Die Patriotische Union Kurdistan (YNK) stellt für ihre Unterstützung die Bedingung, dass vor dem Referendum das seit zwei Jahren von Barzanî de facto geschlossene Parlament eröffnet wird. Die Gemeinschaft der Gesellschaften Kurdistans (KCK) ihrerseits bekundete, dass es das demokratische Recht des kurdischen Volkes sei, seine Zukunft zu bestimmen. Allerdings sollte, so der KCK-Kovorsitzende Cemil Bayık, so eine wichtige Entscheidung nicht aus Gründen der innen- und außenpolitischen Krise getroffen werden. Priorität habe die Demokratisierung, und die gegenwärtige innen- und außenpolitische Situation sei für ein solches Referendum ungünstig.

Sowohl das Ziel als auch der Ablauf des Referendums ist noch immer unklar. Die irakische Verfassung sieht kein Referendum in den strittigen Gebieten wie Kerkûk, Xaneqîn, Maxmur und Şengal (Sindschar) vor, weil sie an die Zentralregierung in Bagdad gebunden sind. Also wäre ein Referendum nur in Hewlêr (Erbil), Silêmanî und Dohuk möglich. Unabhängigkeit nach Barzanîs Vorstellung bedeutet einen kleinen kurdischen Nationalstaat. Wo genau die Grenzen gezogen werden sollen, ist genauso ungeklärt. Welche Probleme soll das Referendum lösen? Es scheint, dass Barzani seine Machtposition über die lang­ersehnten Unabhängigkeitsbestrebungen der Kurden stärken will. Irak, USA, Iran, die Türkei und auch Deutschland haben sich gegen das Referendum ausgesprochen.

Die Entwicklungen um Şengal sind weiterhin unbestimmt. Mal gibt es Angriffe des IS, mal versucht die Türkei mithilfe der PDK eine Belagerung. Daher hat Nordirak selbst noch viele Baustellen, und ohne sie abzuarbeiten, wird jeder Versuch, die Unabhängigkeitsfrage auf die Tagesordnung zu setzen, die Abhängigkeit noch weiter vertiefen. Ein zusätzlicher Grund für die Eile Herrn Barzanîs ist die Krise, in der die AKP steckt. Bislang hatte die Beziehung der PDK zur AKP strategische Bedeutung und gegen erhebliche Kritik von innen wie außen beharrte sie darauf. Nun sieht auch sie ein, dass es ihr mehr schaden als nutzen wird. Die aktuelle Katar-Krise hat ein weiteres Mal deutlich gemacht, dass die Türkei aufgrund ihres Alleingangs isoliert ist. Zudem sieht Barzanî, dass die Befreiung Raqqas wie auch Mûsils kurz bevorsteht. Die Befreiung der IS-Hochburgen wird regional wie international eine Ära neuer politischer Debatten eröffnen. In Irak wird die Befreiung Mûsils zur Stärkung des Regimes in Bagdad beitragen, in Nordsyrien der Sieg in Raqqa die Frage nach einer politischen Neuordnung für Syrien mit sich bringen. Barzanî will mit dem Referendum im Voraus seine Macht abgrenzen.

In solch einer kritischen Zeit ist es in gesamtkurdischen und gesamtregionalen Interesse nicht angesagt, mit vorhandenen Grenzen zu spielen, sondern Wege für eine politische Lösung zu finden. Auch wenn die KRG einen föderalen Status in Irak hat, so wird das Referendum über den »kleinen kurdischen Nationalstaat« Konsequenzen für die Kurden in der Türkei und Iran haben. Zudem wird es das Baath-Regime in Syrien gegen die Kurden aufhetzen. Obwohl die Kurden in der Türkei, Iran und Syrien eine Lösung innerhalb der bestehenden Grenzen sehen, will Barzanî sich mit dem Referendum dem entgegenstellen. Weder die Türkei noch Iran würden einer Grenzveränderung in Irak einfach zusehen. Die kurdenfeindliche Politik sowohl Ankaras als auch Teherans gegen die Kurden im eigenen Land ist bekannt. Barzanîs Referendumsvorhaben würde also die Kurden vor allem in der Türkei und Iran in eine kritische Lage bringen, d. h. Krieg. Denn so oder so würden alle Kurden hinter ihren Landsleuten in Irak stehen, sobald die Türkei oder Iran der KRG den Krieg erklärten. Seit den IS-Angriffen 2014 haben alle kurdischen Parteien, die über bewaffnete Kräfte verfügen, allen voran die PKK, gegen die IS-Invasion in der KRG gekämpft.

Um Barzanîs gefährlicher Politik entgegenzuwirken, bedarf es einer gesamtkurdischen Diskussion. Aus diesem Grund hat der Kurdistan Nationalkongress (KNK) in den letzten Wochen Gespräche mit allen politischen Parteien und der Zivilgesellschaft aufgenommen und eine innerkurdische Beratungssitzung einberufen. Bislang haben sich sowohl YNK, Gorran, PKK, PDK als auch islamische Parteien positiv dazu geäußert. Auf dieser Konferenz sollen die Kurden allgemein interessierende Themen behandelt werden, aber auch die spezifische politische Situation in allen vier Teilen Kurdistans soll aufgegriffen werden.

Die nationale Beratungskonferenz soll über die Herausforderungen und Chancen für die Kurden und die Notwendigkeit einer Politik der nationalen Einheit beraten. Es geht darum, eine politische Kultur zu etablieren, in der bei alle betreffenden Themen gemeinsame Entscheidungen getroffen werden und nicht über die Köpfe hinweg Parteiinteressen Vorrang haben. Nur mithilfe der Demokratisierung der Politik wird es möglich sein, innerkurdische Differenzen zu überwinden. Dass diese Bemühungen durch Einmischung von außen erschwert werden, wissen die Kurden nur zu gut.

Die Türkei spielt bei der Lösungslosigkeit der kurdischen Frage weiterhin eine zentrale Rolle. Sie gehört weiterhin zu den Schlüsselstaaten, die mit ihrer Politik die Entwicklungen stark beeinflussen und polarisierend die Krise vertiefen. Zwar hat Erdoğan – wenn auch rechtswidrig – seine Macht durch das Verfassungsreferendum offiziell gefestigt. Er hat die unerträgliche Last des Faschismus auf die gesamte Bevölkerung und die Opposition ausgeweitet. Mit anhaltender Repression, Inhaftierung, Einschüchterung soll die Ohnmacht vertieft werden. Nachdem heute mithilfe des Votums der Republikanischen Volkspartei (CHP) ein Dutzend kurdische Abgeordnete in den türkischen Gefängnissen sitzen, traf nun am 14. Juni der Bumerang die CHP selbst. Der CHP-Vize und -Abgeordnete Enis Berberoğlu wurde wegen Verrats von Staatsgeheimnissen zu 25 Jahren Haft verurteilt. Grundlage für den Schuldspruch war, dass der ehemalige Journalist Unterlagen über eine Waffenlieferung des türkischen Geheimdienstes MIT an die islamistischen Gruppen in Syrien veröffentlicht hat. Auf das Urteil hin hat der CHP-Vorsitzende Kemal Kılıçdaroğlu einen Protestmarsch von Ankara nach Istanbul begonnen. Dieser Marsch des Vorsitzenden der größten Oppositionspartei beweist nur eines, nämlich dass in der Türkei die Grundlage für parlamentarische Arbeit entzogen worden ist.

Dass die Türkei in ihrer Außenpolitik eine Hundertachtziggradwende vollziehen musste, ist noch nicht lange her. Nachdem sie ihre Syrienpolitik gegen die Wand gefahren und sich mit ihrer kurdenfeindlichen Politik immer mehr aus der internationalen Koalition hinausmanövriert hatte, war eine Wende nicht mehr zu umgehen. So kam es dazu, dass sie von einem an den Westen angelehnten sunnitischen in das von Russland gestützte schiitische Lager gewandert ist. Das verbreitert die Kluft zu ihrer bisherigen westlich angelehnten strategischen Außenpolitik immer mehr. Die Reise Erdoğans in die USA war ein glatter Reinfall. Er hat sich für die Befreiungsoffensive in Raqqa regelrecht angebiedert, damit die QSD ja nicht beteiligt werden – ohne Erfolg. Was übrig geblieben ist, sind die brutalen Bilder von seinen Leibwächtern in Aktion gegen Demonstranten. Die USA haben kein Auge zugedrückt, wie es Erdoğan von seinen europäischen Bündnispartnern, vor allem von Deutschland kennt, sondern verfolgen die Straftaten. So wurden die Personen, die brutal vorgegangen sind, identifiziert und es wurde Haftbefehl erlassen.

Nach dem politischen Putsch Erdoğans und dem Referendum gibt es viel vereinzelten und individuellen Widerstand. Zu erwähnen wären der seit über hundert Tagen andauernde Hungerstreik der beiden Akademiker gegen ihre Entlassung oder der alte Mann, der 90 Tage im Hungerstreik war, damit ihm der Leichnam seines ermordeten Sohnes ausgehändigt wird. Wir haben es mit einem Staat zu tun, der dem Vater die sterblichen Überreste seines Sohnes nach landesweiten Protesten per Post zustellen ließ. Es ist nur beschämend und Zeugnis seiner Menschenfeindlichkeit.

Die Türkei steht im Krieg gegen ihre Bevölkerung. Die Grundlage für den politischen Kampf ist momentan nicht gegeben und das Regime wird auch nicht über einen ausgemergelten politischen Kampf aufzuhalten sein. Daher sehen wir, dass die kurdische Befreiungsbewegung auf effektive militärische Gegenschläge setzt und den türkischen Staat schwächt. Das Regime steuert seinem Ende zu, innen- wie außenpolitisch. Der Untergang Erdoğans wird nicht nur mit dem Kampf im Inland, sondern vielmehr über die außenpolitischen Entwicklungen zu beschleunigen sein. Erdoğan bildet heute ein Bollwerk gegen die demokratischen Entwicklungen in der Region. Sein Scheitern wird ein immenses Demokratiepotential freisetzen und die Entwicklungen in der Region werden einen anderen Verlauf nehmen. Vor diesem Hintergrund ist der Kampf der Kurden und der demokratischen Opposition gegen Erdoğan der Demokratiekampf der Region.

Dass wir es mit einer globalen Systemkrise zu tun haben und dass sich der dritte Weltkrieg, der sich vornehmlich im Nahen und Mittleren Osten abspielt, zunehmend auch auf die Weltpolitik auswirkt, wird immer deutlicher.

Mit der Wahl Trumps zum US-Präsidenten geraten längst überholte Bündnisse ins Wanken. Die Äußerung der Bundeskanzlerin Merkel im bayerischen Bierzelt, die USA seien kein verlässlicher Partner mehr, ist ein Wendepunkt für die deutsche und mit ihr europäische Politik. Der »Brexit« ist ebenfalls als Auswirkung der Systemkrise zu verstehen und der diplomatische Eklat zwischen Außenminister Gabriel und Netanjahu als ein Wendepunkt in der deutschen Außenpolitik.

Nicht Ankara, sondern Berlin: Kurz vor Beendigung der Demonstration »Solidarität mit Rojava und Şengal – Gegen die Kriminalisierung der PYD, YPG und YPJ« gegen das am 2. März vom Bundesinnenministerium erlassene »Fahnenverbot« griffen Polizeikräfte mit Knüppeln die Protestierenden an und verletzten einige Teilnehmer erheblich. |  Foto: Mehmet Zahit EkinciObwohl die weltweite politische Umwälzung auch die BRD erreicht hat, ist ihre Ausrichtung sehr unklar. Es hat den Anschein, als sei die gegenwärtige Linie eine Mischung zwischen Status quo und Veränderung. Vor diesem Hintergrund ist sie nicht in der Lage, den Zeitgeist zu erkennen und zu handeln. Wie sonst kann ihre fehlerhafte Politik gegenüber den Kurden erklärt werden?

Die deutsche Politik schreibt Erdoğan ab, hält aber am alten kemalistischen türkischen Staat fest. Hinsichtlich der Türkei, Irans, Iraks und Syriens wird sie weniger erfolgreich sein, da sie auf die nationalstaatliche Partnerschaft setzt. Nichtstaatliche Protagonisten werden weder gesehen noch berücksichtigt. Die Kurden als nichtstaatliche Kraft weisen die Stärke eines Nationalstaates auf. Während die Nationalstaaten, am Beispiel Türkei, Syrien, Irak und Iran ablesbar, in tiefen Krisen auseinanderfallen, erstarkt das Modell von Autonomien der Kurden in den meisten dieser Gebiete. Die Querelen um den türkischen NATO-Stützpunkt Incirlik belasten seit Längerem die Beziehungen zu Deutschland. Nach einem letzten Vermittlungsversuch von Außenminister Gabriel wurde der Abzug der deutschen Luftaufklärung beschlossen, binnen drei Monaten sollen die Bundeswehrsoldaten nach Jordanien verlegt werden. Während die Krise mit Erdoğan nicht mehr zu bereinigen ist, halten die wirtschaftlichen und politischen Beziehungen ungehindert an.

Wer die Kurden als Objekt betrachtet, sie weiterhin kriminalisiert und als Instrument des Handels mit Nationalstaaten auffasst, kann in keinster Weise an einer demokratisierten Türkei und einem demokratisierten Mittleren Osten interessiert sein.

Deutschland praktiziert einen politischen Spagat, der nicht mehr lange zu halten sein wird. Wer sich nicht grundsätzlich von alten Gewohnheiten lossagt und auf die Veränderungen einlässt, wird nicht in der Lage sein, die Herausforderungen zu meistern.

Die Menschen wollen selbstbestimmt leben, nur Projekte haben Zukunft, die dieses Bedürfnis einschließen und berücksichtigen, alles andere wird die ohnehin herrschende Krise nur noch verschärfen.