Bericht über das Jineolojî-Camp 2017

Unser Camp lebte nicht nur von den inhaltlichen Beiträgen ...

Yvonne Heine

Vom 19. bis zum 23. August 2017 sind Frauen aus 11 verschiedenen Ländern zusammengekommen, um über Jineolojî und die Möglichkeiten der Umsetzung in Europa zu diskutieren.

Bericht über das Jineolojî-Camp 2017Am ersten Tag wurden die Geschichte und der Vorschlag der Jineolojî vorgestellt. Worauf baut Jineolojî auf? Was kritisiert Jineolojî genau an positivistischer Wissenschaft? Wie sieht die Alternative aus? Wie sieht das in der Umsetzung aus? Die Kritik an der herrschenden, eurozentristischen Wissenschaft wurde nochmals vertieft in der Vorstellung von alternativen Wissenskonzepten und Methoden des Erlangens und der Weitergabe von Wissen. Wir konnten sehen, wie viel Wissen, wie viel Wahrheit in drei Zeilen Poesie liegen können. Wie Wahrheit in Wandteppiche gewebt ist. Wie sie in traditionellen Liedern, zum Beispiel den kurdischen dengbêj zum Ausdruck kommt.

Am zweiten Tag hat jede Gruppe die Situation von Frauen und LGBTIQ in ihrer Herkunftsregion vorgestellt. Wie sind sie am politischen, kulturellen, ökonomischen Leben beteiligt? Welche Rolle wird ihnen gegeben? Welche Sichtweise auf die Frau herrscht in den Gesellschaften vor? Welche Formen von Gewalt erleben sie? Wie steht es um ihre Selbstbestimmung? Welche Formen von Widerstand gab und gibt es? Welche Ziele haben diese verfolgt und wie können wir heute daran anknüpfen, ohne die gleichen Fehler zu machen? Wie können wir ihr Wissen, ihre Ideen, ihre Träume und Visionen von einer freien Gesellschaft weitertragen? Wissen wir überhaupt genug über sie? Werden wir der Aufgabe gerecht, die Erinnerung an sie wach zu halten und an nachkommende Generationen weiterzugeben? Wir waren uns alle darin einig, dass dieses Geschichtsbewusstsein in unseren Kämpfen bislang vernachlässigt wurde. Aus diesem Grunde wollen wir zukünftig diesen Strang weiterverfolgen und uns stärker mit den Geschichten von kämpfenden Frauen und Frauen- und Freiheitsbewegungen befassen und diese Erkenntnisse weiter zusammenführen.

Den dritten Tag haben wir uns mit der queer Theorie und Praxis beschäftigt. Nach einer Einführung in Theorie, Begrifflichkeiten und Fragestellungen hörten wir gespannt den Erfahrungsberichten einer Trans-Feministin und einer kurdischen LGBTIQ-Aktivistin zu. Was uns in dieser Frage zusammenbringt, ist die gemeinsame Suche nach dem revolutionären Kern der heute von Sexismus, Kapitalismus, Imperialismus und Liberalismus stark vereinnahmten Praxis. Wir sind auf interessante Fragen gestoßen, an denen wir weiter suchen werden: Wieso dreht sich in der LGBTIQ-Szene fast alles nur um Sex? Wie wird dieser Diskurs vom patriarchalen Herrschaftssystem vereinnahmt? Wie hängen Sexualisierung und Kapitalismus zusammen?

Wie kann der Eurozentrismus überwunden werden? Wie kann ein gesundes Verhältnis von Individuum und Gesellschaft aussehen? Welche Vorstellungen von einem freien partnerschaftlichen Zusammenleben brauchen wir? Wie können wir zu einer gesellschaftlichen Kraft werden, um die ausbeuterische, zerstörerische imperiale Männlichkeit wirklich zu überwinden? Bekanntlich ist ja einer der wichtigsten Schritte zur Lösung eines Problems, die richtige Fragestellung zu finden. Wir jedenfalls haben festgestellt, dass wir alle einen Kampf um Selbstbestimmung führen. Wir wählen zwar verschiedene Methoden, doch sind wir alle davon betroffen, dass jahrtausendealte patriarchale Strukturen und Ideologien uns dazu bringen wollten, unsere gesellschaftliche Kraft und Schönheit nicht zu erkennen, die darin liegt, dass wir uns selbst gehören.

Der vierte Tag war Ausführungen und Diskussionen zu den Themen Natur und Frau sowie Ethik und Ästhetik gewidmet. Wir haben uns damit beschäftigt, wie sogenannte indigene Völker, die in Verbundenheit mit der Natur leben, durch imperiale und koloniale Mächte auszulöschen versucht wurden. Wir haben uns mit den Parallelen zu den Hexenverbrennungen befasst, in denen die gleiche Logik zu finden ist. Bei den Hexenverbrennungen ging es um die Vernichtung von kollektivem, aus dem Zusammenleben in der Natur kommendem Wissen und kollektiven Strukturen sowie die Auslöschung mächtiger Frauen, die eine gesellschaftliche Rolle spielten. Ethik und Ästhetik, als eine Methode, wir selbst zu werden und unsere Kraft zu finden und zum Ausdruck zu bringen, war der letzte inhaltliche Programmpunkt. Auch hier wurde wild diskutiert und wir alle hätten diese Diskussionen wohl gerne noch stundenlang oder tagelang weitergeführt.

Aber da die Welt nicht stillsteht und wir so viele neue Ideen entwickelt haben, auf deren Umsetzung wir nun brennen, haben wir den letzten Tag darauf verwendet, diese Ideen zu kollektivieren und ein gemeinsames Vorgehen zu bestimmen. Zuerst jedoch haben wir erst einmal ein gemeinsames Fazit gezogen und Verbesserungsvorschläge eingebracht. Im nächsten Jineolojî-Camp wollen wir auf jeden Fall mehr Raum und Zeit lassen für Diskussionen und wir wollen noch vielfältigere Methoden ausprobieren, um gemeinsam unser Wissen und unser Bewusstsein vom Zustand unserer Gesellschaften und den Möglichkeiten, Lösungen für unsere Probleme zu finden, zu vergrößern. Wir sind schon gespannt, was wir uns einfallen lassen werden!

Unser Camp lebte nicht nur von den inhaltlichen Beiträgen, es war vor allem deshalb so aufregend und kraftgebend, weil wir mit all unseren Sinnen, all unserer Kraft und sehr viel Neugierde und Liebe voneinander lernen wollten und uns respektvoll und mit offenen Herzen begegnet sind. Wir haben allein damit schon einen wichtigen Schritt getan, gemeinsam die Kraft und Haltung zu erschaffen, die gesellschaftsverändernd und revolutionär sein kann!

http://jineoloji.org/de/2017/09/11/bericht-ueber-das-jineoloji-camp-2017/


Rückmeldung einer Teilnehmerin aus Spanien

 »Wir waren um die 60 Frauen jeden Alters und Hintergrunds, aus verschiedenen Ecken der Welt, die um einen Tisch saßen und gefüllte Blätter und Linsensuppe aßen. Ich sah meine anarchistischen Freundinnen an, wir alle hielten inne, nachdem eine Gruppe von älteren Christinnen aus Deutschland zu einem Gebet aufgerufen hatten. Wir alle saßen da, zu verschiedenen Göttern und Göttinnen betend, sowohl im wörtlichen, als auch im übertragenen Sinne. Ich dachte an diesen wundervollen Kitt namens Jineolojî, der mich dazu veranlasst hat, an dieser Feier trotz meiner Ablehnung von Religion festzuhalten, da es eben nicht unsere Unterschiede sind, die von Bedeutung sind. Eine halbe Stunde zuvor besuchten wir eine Fotoausstellung über Frauen in Rojava. Die Bilder – am Eingang einer Kirche einer kleinen Stadt in Deutschland ausgestellt – zeigten unter anderem verschleierte Frauen, die Kalaschnikows in den Händen hielten. Ich denke, es gibt wenig mehr zu sagen.

Wenn eine böse außerirdische Invasion auf die Erde käme, wie es in Filmen der Fall ist, würden die Menschen sich vereinigen müssen, um sie zu besiegen, oder wir würden zugrunde gehen. Aber die Invasion von Außerirdischen ist in Wirklichkeit nicht so fremd. Es ist die stille Krankheit des Patriarchats, welche die Gesellschaft von innen heraus tötet. Wir sehen diesen gemeinsamen Feind nicht und konzentrieren uns stattdessen auf die verschiedenen Konsequenzen davon und kämpfen nach Ansätzen, die miteinander in Konflikt stehen. Ich glaube, dass Jineolojî es schafft, das wahre universelle Problem zu identifizieren, Kämpfe und Perspektiven zu vereinen, durch die Erfahrung von Frauen auf der ganzen Welt zu wachsen, und erfolgreich ist in der Schaffung einer gemeinsamen Grundlage, die es als Instrument gegen die dominanten Systeme zu nutzen versteht.

Ich fühle mich stolz und privilegiert, demütig und überwältigt vom Ansatz der Jineolojî, weil es der Kampf von allen sein kann.«