Über die Arbeit zur kurdischen nationalen Einheit

Nur von einem Teil des Landes auszugehen, wird nicht zur Lösung führen

Rıza Altun, Mitbegründer der PKK und Exekutivratsmitglied der KCK, im Interview

Warum legt die Bewegung so viel Wert auf eine nationale Einheit der Kurden?

Rıza Altun, Mitbegründer der PKK und Exekutivratsmitglied der KCKEs hat in der Historie immer Probleme bei der Nationbildung der Kurden gegeben. Aufgrund der ständigen Einflussnahme externer Kräfte und der unterschiedlichen gesellschaftlichen Konstellationen haben es die Kurden im Lauf der Geschichte nicht geschafft, einen Prozess der stabilen Nationbildung zu bewerkstelligen. Dieser schmerzhafte Prozess wurde begleitet von der andauernden Teilung und Interventionen von außen. Und dies wiederum führte zu tief greifenden Problemen. Selbstverständlich wird dagegen angekämpft, aber dies bedeutet nicht die Bewältigung des Problems. In dieser Hinsicht müssen wir Kurden zu dessen Lösung zunächst die historische und die aktuelle Lage äußerst genau analysieren und davon ausgehend unserem Befreiungskampf eine Richtung geben. Andernfalls werden wir die kurdische Frage nicht wirklich lösen können. Man beachte, dass seit dem Ersten Weltkrieg der Kampf bis heute nie beendet worden ist. So oder so wurde Widerstand geleistet. Er hat nie aufgehört, aber durch ihn wurde das Problem bis in die heutige Zeit getragen. Aus dieser Perspektive ist unsere Bewegung zu der Feststellung gekommen, dass das Problem der Nationbildung der Kurden sehr konkret angepackt werden muss. Und es steht fest, dass ohne die Überwindung dieses Handicaps in der Gesellschaft die kurdische Freiheit nicht realisiert werden wird. Daher muss das Problem grundlegend angegangen werden, indem auf der Basis des Bewusstseins von einer kurdischen Nation ein ideologischer Boden geschaffen und von dort aus die kurdische Frage zu einer politischen Lösung gebracht wird. Unsere Bewegung hatte bei ihrer Gründung diese Auffassung vertreten, sie sich zum Grundsatz genommen und sich stets daran ausgerichtet und entsprechend gehandelt. Es ist zu beachten, dass sich die PKK seit ihrer Gründung bis heute die gleiche Politik und den gleichen Grundsatz auf ihre Agenda geschrieben hat und davon ausgehend stetig auf eine Lösung hinarbeitet.

Im Moment ist etwas ganz anderes nötig. Zwar ist die kurdische Frage noch nicht vollständig gelöst, aber tagesaktuell sind die Systemkrise, die regionale Krise, der hundertjährige Widerstand der Kurden, insbesondere der vierzigjährige Widerstand unserer Partei und der Kampf gegen den Islamischen Staat (IS). Dies wiederum hat zwei Seiten. Einerseits das Beharren des internationalen Systems und der Antirevisionisten in Bezug auf die kurdische Frage und die grundlegende Politik der kurdischen Verleugnung und andererseits haben die Kurden mit ihrem Kampf und Widerstand Werte erlangt, durch die sie die Möglichkeit, ihre Freiheit zu erlangen, in greifbare Nähe gerückt haben. Die Kurden sind zum einen für die Lösung der Systemkrise im Mittleren Osten in einer unleugbaren Situation und zum anderen sind sie an einen Punkt gelangt, an dem ihr Erreichen eines Status quo in der Region eine grundlegende Rolle spielt. Falls sie diese Rolle spielen wollen, dann wird es sich nicht um das Ergebnis der ideologischen Politik der einzelnen kurdischen Bewegungen handeln, sondern vielmehr um das Erreichen einer politischen Einheit des vorhandenen kurdischen Potenzials. Eine politische Einheit bedingt jedoch ein nationales Bewusstsein. Es bietet sich die Chance, sowohl eine nationale Einheit und Mentalität zu schaffen als auch eine kurdische politische Einheit, durch die eine einprozentige Chance in die kurdische Freiheit verwandelt werden kann. Das ist heutzutage elementar. Halten wir uns die Mittelostkrise im Allgemeinen und die Entwicklungen in Syrien und Rojava [Westkurdistan], die Lage im Süden und auch die im Iran und in der Türkei vor Augen, dann stehen die Kurden ebenso einer großen Gefahr gegenüber, wie auch ihrer Freiheit der Weg geebnet worden ist.

Sie haben von der Teilung der Kurden gesprochen. Doch wenn von Nationbildung die Rede ist, dann auch von einem Stück Territorium. An was für eine Nationbildung bzw. was für ein Modell denken Sie angesichts der Teilung?

Um die nationale Frage erneut auf die Agenda zu setzen, bedarf es konkreter Antworten für die Suche nach einer nationalen Einheit. Die Kurden stehen vor einer unklaren Lage. Es wird nicht alles radikal herausgearbeitet und entsprechend politisch umgesetzt. Jeder tut irgendetwas an seiner Front, aber worauf es beruht, ist strittig. Beispielsweise ist der Kern der kurdischen Frage: Erstens bilden die Kurden ein Ganzes. Sie müssen sich vom Begriff Heimatland ausgehend in Bewegung setzen. Wenn wir das tun, dann bedeutet es gleichzeitig eine nationale Ebene. Das steht über dem geteilten Kurdistan. Einen solchen Ansatz brauchen wir. Unserer Ansicht nach ist Kurdistan eins und das Land der Kurden ist Kurdistan. Und eine Nationbildung kann sich nur durch ein Heimatland entwickeln. Aber die Interventionen in der gesamten Geschichte und die Teilungen Kurdistans haben einen dialektischen Prozess der Nationbildung nicht zugelassen. Es ist immer wieder geteilt und zerstückelt worden. Die Kurden haben sich jedoch trotz aller Teilungen ihre nationalen Besonderheiten bewahrt.

Sie haben sie sich auf der Grundlage eines Heimatlandes und ihrer Einheit erhalten. Doch die Teilung hat eine neue Situation geschaffen. Daher ist eine folgende Herangehensweise erforderlich: Erstens müssen die Kurden vom Begriff »Heimatland« ausgehend und in dem Bewusstsein des Heimatlandes Kurdistan vorgehen. Das beinhaltet alle vier Landesteile und betont die Nationbildung in ihnen. Das ist die Herangehensweise und auf dieser Grundlage sind die Probleme anzugehen, wozu es ein Lösungsparadigma geben muss. Hinzu kommt jedoch, dass eine reale Situation besteht, entstanden in der Zeit nach dem Ersten Weltkrieg, als Kurdistan in der Phase zwischen Sykes-Picot und Lausanne geteilt wurde. Und das ist die Realität der Teilung. Somit ist es nicht möglich, diese beiden Aspekte zu trennen, genauso wie es keine Lösung schafft, sich unter Verleugnung des ganzen Landes auf einen Landesteil zu fokussieren. Darauf ist besonders zu achten.

Genau besehen zeigt sich beim Vergleich der Haltung aller politischen Parteien, dass wir ein solches Problem haben. Die politischen Bewegungen nähern sich der Sache stets im Rahmen ihres jeweiligen politischen Hintergrunds an, obwohl sie von Kurdistan und dessen vier Teilen sprechen. Die auf den jeweiligen Landesteil beschränkte Herangehensweise überwiegt. Das wiederum bedeutet die Rechtfertigung von Sykes-Picot und Lausanne. Verbal ist man dagegen, aber praktisch ist es eine Rechtfertigung. Der Ansatz eines Nationalkongresses bedeutet die Überwindung dessen.

Vorrangig müssen die Kurden die Probleme angehen, indem sie vom Begriff des »Heimatlandes« ausgehen und alle vier Teile Kurdi­stans als eine Nation annehmen, und dabei eine Politik erarbeiten und Lösungen entwickeln, indem sie die bestehende konkrete Situation der Teilung Kurdistans nicht außer Acht lassen. Wenn von der Entwicklung einer politischen Lösung die Rede ist, dann heißt das nicht eine auf den Landesteil beschränkte und der Trennung dienende, sondern eine dem Begriff des »Heimatlands« und der Nationbildung dienende und in dem jeweiligen Landesteil Freiheiten schaffende Politik. Aus diesem Blickwinkel wird die Sache verständlicher.

Jede politische Partei hat ihre eigene ideologische Identität. Wenn von nationaler Einheit, dem Nationalkongress, der Nation und dem Zusammenkommen die Rede ist, wie setzen sich die ideologischen Identitäten dieser politischen Parteien in einer nationalen Einheit zusammen? Sie haben ja ihrer Identität entsprechend externe Allianzen geschlossen. Welcher Platz innerhalb dieser nationalen Einheit soll diesen Unterschieden eingeräumt werden?

Nun ja, wenn wir den Begriff der Nation gebrauchen, dann bedeutet es bereits das Miteinbeziehen der ideologisch-politischen Unterschiedlichkeiten. Es drückt nicht eine Ideologie und eine politische Beschaffenheit aus. Es ist eine nationale Gesellschaft, eine nationale Form. Mit der Besonderheit, dass alle Unterschiede wie Religion, Ethnie, Kultur usw. der Gesellschaft erfasst werden. Hinzu kommt, dass wir den Begriff erweitern auf die »demokratische Nation«1 und dadurch der Formulierung eine legitimere Basis schaffen. Sowohl der allgemeine Begriff der Nation als auch der der demokratischen Nation beinhalten das, was Sie gesagt haben. Verschiedene Ideologien und politische Strömungen können sich darin artikulieren. Der gemeinsame Nenner ist die Nation. Die demokratische Nation. Aus deren Perspektive gibt es nichts Natürlicheres als die Unterschiedlichkeiten. Unterschiede sind für eine nationale Einheit kein Hindernis. Ganz im Gegenteil bedeuten sie die Nationalität. Wichtig ist, dass sich die Unterschiedlichkeiten in der nationalen Einheit äußern und diese dadurch Legitimität gewinnt. Das ist grundsätzlich notwendig.

In allen vier Teilen Kurdistans arbeiten zahllose Bewegungen und jede auf einen Landesteil beschränkt. Wir kritisieren das. Denn Kurdistan zu teilen und in diesen Teilen jeweils eine Hegemonie zu bilden, unter der ein politischer Status erlangt werden soll, ist eine unzureichende Herangehensweise. Sie ist falsch. Damit werden wir die Ausbeutung und die internationalen Abkommen legitimieren. Wir dürfen es nicht auf diese Weise betrachten, sondern als Gesamtheit, und wir müssen unsere Probleme innerhalb dieser Gesamtheit bestimmen. Die Lösungswege mögen unterschiedlich sein, aber bei den grundlegenden Punkten im nationalen Kampf kann man sich gemeinsam bewegen. Und das ist die nationale Einheit, wie wir sie uns vorstellen. Alles andere, wie die ideologisch-politischen Unterschiede, sind eine interne Angelegenheit bzw. eine Frage oder ein Diskussionspunkt Kurdistans. Falls nicht nach außen eine Politik der Kollaboration betrieben wird, falls die Grundlage die Freiheit Kurdistans und des kurdischen Volkes ist, bedeutet das in dieser Hinsicht kein Problem.

Wenn wir es konkretisieren, dann ist die Rede von der Partnerschaft innerhalb der vier Teile Kurdistans. Wie wird die politische Verwaltung aussehen und wo befindet sich darin der Nationalkongress? Gibt es dazu eine Skizze?

Da die Kurden das Problem einer nationalen Einheit noch nicht gelöst haben, gibt es dazu noch keine Diskussionen über tiefer gehende Projekte. Wir reden vom Problem einer gemeinsamen Haltung in allen vier Teilen Kurdistans. Und wir reden davon, dass sich alle politischen Bewegungen des Problems nur auf den jeweiligen Landesteil beschränkt annehmen. Dies zu überwinden ist vorrangig.

Meiner Meinung nach ist es auch nicht notwendig, dies mit zu tief greifenden Projekten zu trüben. Das Hauptproblem ist Folgendes: Es sollte kein auf den Landesteil beschränkter, sondern ein ganzheitlicher Ansatz sein. Das Heimatland ist durch die beschränkte Herangehensweise beeinträchtigt. Im Allgemeinen sind die Begriffe Nation und demokratische Nation durch die fragmentarischen Ansätze in allen vier Landesteilen vernebelt. Das bedeutet eine ausdrückliche Bejahung von Sykes-Picot, was wir nachdrücklich ablehnen. Um dies zu überwinden, müssen wir eine politische Partei werden, die mit einem nationalen Bewusstsein auf der Grundlage des viergeteilten Heimatlandes agiert. Das Modell ist zu diskutieren, wenn wir das geschafft haben. Der Nationalkongress ist eines dieser Modelle.

Was würde passieren, wenn wir die Gewinne des Ostens oder des Westens im Süden sammeln? Es würde sie nur zerstören und sonst nichts weiter. Aber wenn wir diese Werte vernünftig zusammenfügen, dann schützen und stärken wir sie. Daher müssen wir über eine gemeinsame politische Berechtigung verfügen. Sie muss demokratisch sein und einen gemeinsamen Konsens aller haben.

Und haben die Kurden eine gemeinsame politische Berechtigung? Sie sind vielmehr auf eine subjektive Sichtweise beschränkt. In Rojava findet eine Revolution statt und jeder beschränkt sich auf seine Ansicht. Dort findet ein Massaker statt, aber jeder betrachtet es aus seiner Sicht. In Rojhilat [Ostkurdistan] herrscht Aufbruch, aber jeder beschränkt sich auf seine eigene Sichtweise. Die Probleme vertiefen sich und Werte lösen sich nahezu auf. Das muss überwunden werden. Wir müssen ein politisches Dach werden, das jedem der Landesteile gerecht wird. Das bedeutet, dass wir sowohl die Revolution in Rojava verteidigen als uns auch den Massakern Erdoğans im Norden entgegenstellen müssen. Und wir müssen für das kurdische Potenzial im Osten einstehen. Und wir müssen für die Beseitigung der Probleme im Süden Verantwortung tragen. Das ist ausgesprochen wichtig.

Und müssen wir nicht als Weiteres über eine Diplomatie verfügen? Gegenwärtig haben die Kurden mit ihrem Befreiungskampf eine Position erreicht, durch einen sehr intensiven Kampf. Tausende Männer und Frauen haben dafür ihr Leben gegeben. Durch diese Werte sind die Kurden international und regional zu einer Stärke gelangt. Und nun entsteht eine Situation, die begründet wird mit einem »politisch unabhängigen Ansatz«, wodurch versucht wird, die eigene Politik zu bestimmen, und unbeabsichtigt gewonnene Werte verschleudert werden. Ist es denn nicht notwendig, die gemeinsamen kurdischen Werte zu schützen und die nationale Diplomatie auf einen gemeinsamen Nenner zu bringen? Es ist notwendig, dass jeder, der wirklich kurdisch diplomatisch tätig ist, sehr genau abwägt, was von Interesse oder zum Schaden ist. Die Einheit der gemeinsamen Kraft, die gemeinsame Diplomatie und weitere ähnliche Aspekte sind die politische Berechtigung. Und wir müssen dies alles zu einem nationalen Wert machen und in einem Punkt vereinigen.


 Fußnote

1 http://ocalan-books.com/downloads/en-brochure-democratic-nation_2017.pdf