Nachwort des dritten Bandes der Autobiografie von Sakine Cansız

Heldin meiner Kindheit

Medya Doz

Die Reise, die uns mit Traum und Wirklichkeit konfrontieren sollte, fiel in eine Zeit im Spätherbst, in der heftige Regenfälle einsetzten. In dieser Jahreszeit war es schwierig, in dem unbezwingbaren Zagros-Gebirge voranzukommen. Mit zunehmender Höhe fiel uns das Luftholen schwerer und wir sehnten uns nach klarer Sicht. Irgendwann waren wir nur noch von dem Wunsch erfüllt, eins zu werden mit dem Blau des Himmels. In einem solchen Moment begreift man, dass Blau nicht nur eine Farbe ist, sondern eine Existenzform, oder eine Lebensauffassung, die man sich zu eigen gemacht hat ...

Der Regen wusch den Ruß von den Ruinen der niedergebrannten Dörfer und sickerte wie Teer in den Erdboden. Beim Laufen gerieten wir in einen Zustand konzentrierten Nachdenkens. An den verkohlten Baumstümpfen bahnten sich junge Triebe trotzig einen Weg in ihre Traumwelt. Die Vögel trugen Zweige zu ihren Nestern, die den Beginn eines neuen Überlebenskampfes symbolisierten. In dem aufgewühlten Wasser der Flüsse Basya und Avaşîn sammelten Fische Erinnerungsstücke.

Auf langen Wegen lernt man, den brennenden Schmerz nasser Füße zu ignorieren. Die Wege wissen, dass aus jeder Zwischenstation eine Erinnerung hervorgehen wird, und überzeugen den reisenden Menschen behutsam ... Unsere schlammschweren Schuhe sogen mit jedem Schritt die gesamte Landschaft auf und aus unserer nassen Guerillakleidung stieg Dampf auf. Seit vier Tagen waren wir ununterbrochen unterwegs. Nach einer gewissen Zeit wird der Mensch selbst zum Weg. Die unendliche Länge der Wegstrecke gräbt sich ins Gehirn und irgendwann gleichen sich die Aufregung, das Ziel zu erreichen, und die Notwendigkeit des Laufens einander an. Dennoch haben alle Wege ein Ende, und andererseits ist jeder Weg auf seine eigene Art unendlich.

Sakine Cansız

Auch unser Weg neigte sich seinem Ende zu. Je näher wir unserem Ziel kamen, desto stärker machte sich Schmerz an verschiedenen Stellen des Körpers bemerkbar. Es schien so, als ob unsere Körper auf ihre Erschöpfung aufmerksam machen wollten. Wir wussten jedoch, dass nichts davon zurückbleiben würde, wenn wir am Ziel angekommen wären und nach einer herzlichen Begrüßung einen heißen Tee getrunken hätten. Bei der Guerilla war so gut wie allen bekannt, dass die gesamte Müdigkeit in einem solchen Moment spurlos im Erdboden versickert.

Um zu dem Lager der FreundInnen zu kommen, mussten wir von den höher gelegenen Berghängen hinunter zum Avaşîn steigen. Wir befanden uns inzwischen auf der Südseite des Zagros-Gebirges. Hier war es wärmer und die Gräser hatten sich offenbar von Regen und Sonnenschein dazu verführen lassen, übermütig in die Höhe zu schießen.

Wir stiegen in das Tal hinunter, in dem die Versammlung stattfinden sollte. Überall waren Spuren des Guerillalebens erkennbar. Da wir einen langen Weg hinter uns hatten, hatten sich die FreundInnen in einer Reihe aufgestellt, um uns zu begrüßen. Sie erwarteten uns auf einem grünen Platz. Selbst aus der Ferne war dieser Anblick atemberaubend.

Drei FreundInnen erwarteten uns bereits auf dem Weg. Offenbar ebenso aufgeregt wie wir waren sie uns entgegengekommen. Als ich eine von ihnen erkannte, schlug mein Herz bis zum Hals. Ich legte mein Guerillatuch mit den Früchten beiseite, die ich auf dem Weg durch die zerstörten Dörfer gesammelt hatte, und beschleunigte meine Schritte. Uns gegenüber stand eine Guerillakämpferin mit roten Haaren, einer aufrechten, rebellischen Haltung und Augen, die wie Sterne glänzten. Ich umarmte sie, wie man eine Legende umarmt, wie eine Mutter, wie ein Stück lebende Geschichte. Ich sog ihren Geruch auf. Auch sie umarmte uns, als wolle sie ihre Liebe auf uns übertragen. Sie hatte für uns alle gekämpft und jetzt bot die Begegnung mit uns die Gelegenheit, ihren legendären Kampf mit uns zu teilen. Ihr begeisterter Empfang beeindruckte uns und gab uns das Gefühl, wichtig und wertvoll zu sein. Damit stieg ihr eigener Wert in unseren Augen hundertfach an. Es war merkwürdig, aber meine Augen füllten sich mit Tränen. In diesem Moment wollte ich bitterlich weinen. Diese rothaarige Guerillakämpferin, die unsere Hände streichelte und immer wieder unsere nassen Schultern küsste, entführte uns in eine andere Welt.

Als wir mit unserer Begrüßung fertig waren, gingen wir zu den anderen FreundInnen. Vor Aufregung vergaß ich mein Tuch mit den Früchten. Die schöne rothaarige Frau, die uns innerhalb von Sekunden auf einen Streifzug durch die Geschichte geführt hatte, war jedoch nicht nur ebenso faszinierend wie die Geschichte, sondern auch so lebensnah wie die Gegenwart. Außerdem war sie allen Dingen gegenüber aufmerksam. Sie ging die wenigen Schritte zu meinem Tuch zurück und hob es auf. »Das sollten wir nicht vergessen«, sagte sie. »Lass mich es tragen«, sagte ich verlegen, aber sie gab es mir nicht wieder, sondern nickte mir nur beschwichtigend zu. Als ob sie die Ernsthaftigkeit zwischen uns etwas auflockern wolle, tauchte sie ihre Hand in den Guerillabeutel und zog eine Quitte hervor. Sie hielt sie vor ihre Nase und sagte: »Oh, wie gut sie riecht! Wo hast du sie gepflückt?« – »Im Dorf Şukê Bure«, antwortete ich. Sie ging weiter und roch dabei die ganze Zeit an der Frucht.

Als ich noch ein Kind war, hatte ich viel von dieser revolutionären Frau mit der grazilen Gangart gehört und sie zur Heldin der bunten Szenarien meiner Fantasie gemacht. Hörte ich den Namen Sakine Cansız, wurde die Heldin meiner kindlichen Fantasie wieder lebendig. Ich ließ sie alles Schlechte töten und machte sie zu einer Retterin mit Flügeln, an denen alles Gute dieser Welt haftete. »Sie rebelliert gegen den Staat«, flüsterten sich die Frauen damals in ihren heimlichen Unterhaltungen im Garten zu. Danach ist das Kind in mir der Überzeugung stets treu geblieben, dass es eine gute Sache ist, gegen den Staat zu rebellieren.

In diesen Tagen, in denen eine Versammlung der Leitung des Zagros-Gebiets stattfand und die Heldin meiner Kindheit uns an ihrer Herzlichkeit teilhaben ließ, beobachtete ich sie heimlich. Mir wurde klar, dass ihre aufrechte Haltung, ihre Lebensart, die einem Dialog mit der Natur glich, ihr tiefes Interesse an anderen Menschen, ihre Disziplin und ihr sorgfältiger Umgang mit allem, was sie umgab, zu ihren wesentlichen Eigenschaften gehörten. Am meisten überraschte mich, dass sie sowohl sehr natürlich als auch sehr ernst auftrat. Sie nutzte jede Gelegenheit, um mit möglichst allen kurze Diskussionen zu führen. Mehrmals beobachtete ich, wie sie auf FreundInnen einredete, die in einer Ecke standen und rauchten: »Heval, hört doch bitte mit dem Rauchen auf. Ihr vergesst wohl, wie wertvoll ihr seid. Ein Mensch kann sich so etwas Schlechtes nur antun, wenn er vergisst, wie wertvoll er in den Augen des Volkes ist.« Die Angesprochenen wurden meist knallrot, ihre Verlegenheit war ihnen anzusehen. Mehrere FreundInnen gaben danach eine Selbstkritik ab und kündigten offiziell auf der Versammlung an, das Rauchen aufzugeben. Während wir uns noch fragten, was dieses Thema mit der Versammlung zu tun haben sollte, sprang Heval Sakine aufgeregt auf und klatschte laut Beifall. Danach standen alle auf und klatschten. Ich dachte mir: »Wer auf diese Weise mit dem Rauchen aufhört, kann wohl sein Leben lang keine Zigarette mehr anfassen.«

Sie hatte eine so lebendige und selbstsichere Ausstrahlung, dass man sich an ihrer Seite vollkommen sicher fühlte, so als ob in ihrer Nähe nichts Böses geschehen könne. Voller Begeisterung erzählte sie allen von den Projekten, die der Vorsitzende anstrebte. Während ihres Aufenthalts im Zagros besuchte sie sämtliche Einheiten in der Umgebung und führte Versammlungen mit ihnen durch. Sie besuchte sogar die abgelegene Funkstation, die sich auf einem der höchsten Gipfel befand und von nur zwei FreundInnen betreut wurde. »Heval, du musst doch nicht so weit gehen, wir können die FreundInnen hierherrufen«, wurde ihr geraten, aber sie lehnte ab. »Nein, ich muss zu ihnen gehen, es wäre anstrengend für sie«, sagte sie. Für Heval Sakine bedeutete es eine unbeschreibliche Aufregung, das gesamte Zagros-Gebiet Schritt für Schritt zu durchqueren und auf diese Weise alle FreundInnen zu erreichen. Sie strahlte eine Begeisterung aus, als ob das Guerillaleben für sie neu wäre. Damit steckte sie uns alle an. Sie maß bestimmten Kleinigkeiten, die für uns längst alltäglich geworden waren, eine große Bedeutung bei, und rüttelte uns damit wach. Die Zeit, die sie mit uns verbrachte, steckt voller Erinnerungen, die zu schön sind, um sie zu beschreiben. Obwohl wir uns jetzt wie verlassene Waisenkinder fühlen, ist die Verbundenheit mit diesen Erinnerungen, die sie uns mit ihrer legendären Persönlichkeit zum Geschenk machte, wie ein ständiger revolutionärer Neubeginn. Alles, was sie uns beigebracht hat, lässt sie in uns weiterleben.

Es ist gut, dich getroffen zu haben. Es ist gut, dass du in unser Leben getreten bist. Es ist gut, dass du in den Zagros-Bergen, der Heimat der Göttinnen, das Licht unserer Herzen vom Ruß gereinigt hast. Gut, dass wir uns kennengelernt haben, gut, dass wir dich geliebt haben, gut, dass wir Revolutionärinnen geworden sind und eine rotglühende Rebellion wie dich getroffen haben ...

Nachdem ich der Heldin meiner Kindheit begegnet bin, habe ich begriffen, dass Kinder sich niemals falsche HeldInnen aussuchen. Kinder mögen revolutionäre, rebellische Menschen. Meine Kindheitsheldin hat mit ihrem Widerstand und ihrem Aufstand Legenden erschaffen, und so ist es in meiner Erinnerung immer geblieben. Kinder sehen in ihren HeldInnen alle Schönheit, auf die der Tod noch nicht getroffen ist, und so ist es auch in meiner Erinnerung.

Sakine Cansız


 Kurdistan Report 195 | Januar/Februar 2018